Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 36
Оглавлениеwachten in ihr Mitleid und die pädagogische Anteilnahme. Hendriks erfahrene Schlauheit hatte dies gleich erfaßt. Seit dem ersten Abend, da er, im wirkungsvollen Gegensatz zu Marders lärmend-bravouröser Art, den Stillen und Feinen gespielt hatte, verzichtete er, Barbara gegenüber, weise und enthaltsam auf alle schillernden Künste. Nur von ernsten und ergreifenden Dingen war zwischen ihm und ihr die Rede gewesen: von seiner ethisch-politischen Gesinnung, von der Einsamkeit seiner Jugend, von der Härte und vom Zauber seines Berufes; schließlich aber hatte er dem Mädchen, in der entscheidenden Minute, sein tränenüberströmtes, von Seelenqual erblindetes Gesicht gezeigt, und was er ihr noch hätte sagen können, war vergangen in Lallen.
Barbara war es gewohnt, von ihren Freunden in Anspruch genommen zu werden, wenn diese sich in Nöten und Verwirrungen befanden. Nicht nur Nicoletta war mit ihren komplizierten Beichten bei ihr gewesen, sondern auch junge Männer, und selbst ältere, Freunde ihres Vaters, kamen zu ihr, wenn sie die Trösterin brauchten. Sie war erfahren in den Schmerzen der anderen; seit früher Jugend aber hatte sie es sich versagt, eigene Schmerzen, eigene Ratlosigkeit gar zu ernst zu nehmen oder mitzuteilen. Deshalb glaubte man, es gäbe nichts, was ihr inneres Gleichgewicht störte. Von ihren Freunden wurde Barbara für den ausgeglichenen, energisch klugen, vielfach begabten, reifen, sanften und sicheren Menschen gehalten. Vielleicht gab es unter allen, die ihr nahestanden, nur einen, der um die Labilität ihres inneren Zustandes, um ihre Zweifel an der eigenen Kraft, ihre wehmutsvolle Liebe zur Vergangenheit und ihre Scheu vor der Zukunft wußte: der alte Bruckner kannte sein Kind, das er liebte.
Deshalb enthielt der Brief, den er schrieb, als er die Nachricht von ihrer Verlobung erhalten hatte, nicht nur Traurigkeit darüber, daß sie nun sein Haus verlassen wollte; sondern auch Sorge. Ob sie denn alles wohl bedacht und genau beschlossen habe? – wollte der Vater wissen. Und Barbara erschrak über den warnenden Ernst seiner Frage. Hatte sie’s denn wohl bedacht und genau beschlossen? Jeder Ratschlag, den sie Freunden gab, war das sorgfältig erwogene Resultat langer Überlegungen, klugen Denkens. In ihrem eigenen Leben ließ sie die Ereignisse mit einer spielerischen Nachlässigkeit an sich herankommen. Manchmal fürchtete sie sich ein wenig, aber doch niemals genug, um auszuweichen oder abzuwehren: dies verboten ihr sowohl die Neugierde als auch der Stolz. Mit Skepsis und einer lächelnden Kühnheit, ohne sich jemals gar zuviel des Schönen für sich selbst zu versprechen, wartete sie der Dinge, die da kommen sollten. Lächelnd schaute sie ihren sonderbaren Hendrik an, der mit einer so temperamentvollen Rhetorik von ihr verlangte, daß sie seinen guten Engel spiele. Vielleicht lohnte es sich, vielleicht hatte sie hier eine Pflicht, vielleicht gab es in ihm einen edlen, gefährdeten Kern, über den zu wachen ihr – gerade ihr – aufgetragen war. Wenn es denn so sein sollte: Barbara sträubte sich nicht. Größere Sorgen als um ihr eigenes überraschendes Schicksal machte sie sich um Nicoletta, die sich an Marder verlor.
Übrigens gingen die Ereignisse schnell. Hendrik drängte: die Hochzeit sollte noch im Sommer stattfinden. Nicoletta war es, die seinen Wunsch unterstützte. »Wenn ihr schon heiraten müßt, meine Lieben«, sprach sie – und tat, als sollte hier etwas geschehen, wovon sie auf das dringendste abgeraten, worein sie sich aber nun, da es unvermeidlich schien, mit Vernunft und Würde schickte – »wenn es denn einmal sein muß«, sagte sie, sorgfältig akzentuierend, »dann lieber gleich und sofort. Eine lange Verlobungszeit ist lächerlich.«
Als Hochzeitstag wurde ein Datum Mitte Juli festgelegt. Barbara war nach Hause gereist: es gab viel zu erledigen und vorzubereiten. Nicoletta und Hendrik inzwischen gastierten mit einer Komödie, die nur zwei Rollen hatte, in den Badeorten an der Ostsee. Barbara mußte zahlreiche und kostspielige Ferngespräche mit Hendrik führen, bis sie es erreichte, daß er ihr die Papiere schickte, die für das Standesamt unentbehrlich waren. Zwei Tage vor dem Hochzeitstermin traf Nicoletta ein – eine auffallende Erscheinung für die süddeutsche kleine Universitätsstadt, wo die Bruckners wohnten. Einen Tag später kam Hendrik, der noch in Hamburg Station gemacht hatte, um seinen neuen Frack abzuholen. Das erste, was er Barbara auf dem Bahnsteig erzählte, war, daß der Frack blendend schön, aber leider total unbezahlt sei. Er lachte viel und nervös, war braungebrannt und trug einen sehr hellen, etwas zu engen Sommeranzug mit rosa Hemd und einem weichen, silbergrauen Filzhut. Sein Lachen wurde immer krampfhafter, je näher man der Villa Bruckners kam. Barbara glaubte zu merken, daß Hendrik sich davor fürchtete, ihren Vater kennenzulernen.
Der Geheimrat erwartete das junge Paar vor der Tür seines Hauses, im Garten. Er begrüßte Hendrik mit einer Neigung des Oberkörpers, die so tief und feierlich war, daß man vermuten mußte, sie sei ironisch gemeint. Jedoch lächelte er nicht; sein Gesicht blieb ernst. Das schmale Haupt war von einer Feinheit und Empfindlichkeit, die fast erschreckend wirkten. Die gefurchte Stirn, die lange, zart gebogene Nase, die Wangen waren wie gearbeitet aus einem kostbaren, gelblich nachgedunkelten Elfenbein. Der Abstand zwischen Nase und Mund war groß, grauer Schnurrbart bedeckte ihn. Vielleicht war es eben diese unverhältnismäßig lange Partie zwischen Oberlippe und Nasenansatz, die das Gesicht verzeichnet, irgendwie verzerrt und jenen Bildern ähnlich erscheinen ließ, die uns gewisse präparierte Spiegel oder die Darstellungen primitiver Maler von Männergesichtern geben. Auffallend langgezogen war auch das Kinn, und auch auf ihm gab es Bart. Zunächst gewann man den Eindruck, daß der Geheimrat einen Spitzbart trage; in Wahrheit reichte die graue Behaarung kaum über das Kinn hinaus. Die Spitzbart-Wirkung kam von der außerordentlichen Länge des Kinnes.
In diesem Antlitz, dem die zarte Formung, der Geist und das Alter jene Vornehmheit verliehen, die einschüchtert und zugleich zum Mitleid rührt, überraschten die Augen: sie hatten das tiefe, sanfte, ins Schwärzliche spielende Dunkelblau, das Hendrik so gut aus Barbaras Augen kannte. Freilich waren über dem freundlich versonnenen Blick des Vaters die Lider schwer und meistens gesenkt, auch war sein Schauen verschleiert; während die Tochter klar und offen um sich sah.
»Mein lieber Herr Höfgen«, sagte der Geheimrat, »ich bin froh, Sie kennenzulernen. Lassen Sie mich hoffen, daß Sie eine gute Reise gehabt haben.«
Seine Aussprache war bemerkenswert deutlich, ohne dadurch an die dämonische Präzision zu erinnern, in der Nicoletta sich übte. Mit einer liebreichen Sorgfalt bildete der Geheimrat die Worte zu Ende, als wollte seine Gerechtigkeit keine Silbe vernachlässigen oder zu kurz kommen lassen: noch die unbedeutendsten Endsilben, die meist unter den Tisch zu fallen pflegen, erfuhren hier die genaueste und schonendste Behandlung.
Hendrik war recht verwirrt. Ehe er sich zu einer feierlichen Miene entschloß, lachte er noch ein wenig, sinnlos und auf jene geschüttelte Art, die er etwa bei der Begrüßung der Dora Martin im H.K. gehabt hatte. Während Barbara beunruhigt auf ihn schaute, schien dem Geheimrat so wunderliches Betragen nicht weiter aufzufallen. Er blieb tadellos korrekt, dabei gütig. Mit freundlichem Zeremoniell bat er die beiden jungen Leute ins Haus. Zu Barbara, die ihm den Vortritt lassen wollte, sagte er: »Gehe voraus, mein Kind, und zeige deinem Freund, wo er seinen hübschen Hut ablegen kann.«
Auf der Diele herrschte ein kühles Halbdunkel. Respektvoll atmete Hendrik den Geruch des Raumes: der Duft von Blumen, die auf den Tischen und auf dem Kaminsims verteilt standen, vermischte sich mit jenem würdevollen und ernsthaften Aroma, das von Büchern kommt. Die Bibliothek füllte alle Wände bis hinauf zur Decke.
Hendrik wurde durch mehrere Zimmer geleitet. Er plauderte krampfhaft, um zu bezeigen, daß er von der Stattlichkeit der Räume ganz und gar nicht beeindruckt war. Übrigens sah er wenig; nur zufällige Einzelheiten fielen ihm auf: ein großer Hund, der beängstigend wirkte, sich knurrend erhob, von Barbara gestreichelt wurde und sich würdig-wiegenden Schritts entfernte; ein Porträt der verstorbenen Mutter, freundlich blickend unter einer altertümlich hohen Frisur; eine bejahrte Kammerzofe oder Haushälterin – klein, gutmütig und geschwätzig in einer merkwürdig langen, steif gestärkten Schürze; sie machte einen Knicks vor dem Bräutigam ihrer jungen Herrin, schüttelte ihm dann lange und herzlich die Hand; woraufhin sie sofort ein ausführliches Gespräch mit Barbara über häusliche Dinge begann. Hendrik war erstaunt darüber, mit welchen Details der Wirtschaft Barbara sich beschäftigte, wie bewandert sie in den Dingen der Küche und des Gartens war. Übrigens fand er es wunderlich, daß sie von der alten Dienerin zwar »gnädiges Fräulein«, aber »du« genannt wurde.
In diesen herrschaftlichen Stuben, wo es schöne Teppiche, dunkle Bilder, Bronzen, große tickende Uhren und viel Samtbezüge gab, war Barbara also zu Hause; hier hatte sie ihre Jugend verbracht. In diesen Büchern hatte sie gelesen; in diesem Garten hatte sie ihre Freunde empfangen. Zärtlich und feierlich bewacht von der klugen Liebe eines solchen Vaters war ihre Kindheit, rein und voller Spiele, deren geheime Regeln nur sie selber wußte – waren ihre Mädchenjahre hingegangen. Neben einer Gerührtheit, die fast Ehrfurcht war, empfand Hendrik, ohne es sich noch eingestehen zu wollen, etwas anderes: Neid. Mit quälender Peinlichkeit kam ihm der Gedanke, daß er in diesen Räumen und bei diesem Vater seine Mutter Bella und seine Schwester Josy morgen würde einführen müssen. Wie leidvoll schämte er sich, jetzt schon, ihrer munteren Kleinbürgerlichkeit. Ein Glück noch, daß wenigstens Vater Köbes am Kommen verhindert war …
Man speiste auf der Terrasse. Hendrik pries die Schönheit des Gartens, dessen Beete, Baumgruppen und Wege sich als angenehme Aussicht boten. Der Geheimrat wies auf eine Jünglingsstatue – einen Hermes, der seine anmutsvolle Magerkeit, seine nach oben strebende, flugbereite Gebärde zwischen dem lockigen Laub der Birken zeigte. Dieses artige Kunstwerk schien den besonderen Stolz des Hausherrn auszumachen. »Ja, ja, er ist hübsch, mein Hermes«, sagte er, und nun hatte sein Lächeln etwas wohlig Schmunzelndes. »Ich bin jeden Tag aufs neue froh darüber, daß ich ihn besitze und daß er in so reizender Haltung zwischen meinen Birken steht.« – Gewiß war er auch froh darüber, daß es so gute Weine und Getränke gab; er bediente sich, maßvoll aber reichlich, mit allem und lobte die Qualität des Gebotenen. »Himbeeren«, konstatierte er wohlgefällig, als man zum Nachtisch kam. »Das ist recht. Das entspricht der Jahreszeit und verbreitet einen schönen Geruch.« – Die Stimmung, die er um sich verbreitete, war aus Feierlichkeit und Gemütlichkeit, aus unzugänglicher Kühle und Bonhomie sonderbar gemischt. Der Schwiegersohn schien ihm nicht ganz übel zu gefallen. Ihm gegenüber legte er ein Wohlwollen an den Tag, das vielleicht von Ironie nicht ganz frei war. Sein Lächeln schien etwa sagen zu wollen: Solche Typen, wie du einer bist, mein Lieber, muß es auch geben auf dieser Welt. Es ist nicht unamüsant, sie zu beobachten – man langweilt sich wenigstens nicht mit ihnen. Freilich: an der Wiege ist es mir kaum gesungen worden, und ich habe es mir wohl auch nicht gewünscht, daß eine Figur deiner Art einmal als Schwiegersohn an meinem Tisch sitzen würde. Aber ich neige dazu, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – man muß den Phänomenen ihre beste und drolligste Seite abgewinnen, und übrigens wird meine Barbara ja wohl ihre vernünftigen Gründe haben, wenn sie dich heiratet …
Hendrik glaubte zu spüren, daß er Erfolgschancen hatte. Um so gefallsüchtiger wurde er. Nicht länger konnte er es sich versagen, die Augen auf bewährte Art schillern zu lassen. Den Kopf im Nacken, vieldeutig und bezwingend lächelnd, machte er die Juwelenblicke, für deren Zauber der Geheimrat durchaus nicht völlig unempfänglich schien. Der alte Herr blieb auch aufmerksam und behielt den schmunzelnden Gesichtsausdruck, als Schwiegersohn Höfgen dazu überging, in effektvoll studierter Rede seine Gesinnung auseinanderzusetzen, wobei er für den ausbeuterischen Zynismus der Bourgeoisie und den frevelhaften Irrsinn des Nationalismus die vernichtendsten Worte fand. Der Alte ließ ihn schwärmen und deklamieren; nur einmal hob er die hagere, schöne Hand, um einzuwerfen: »Sie sprechen so verächtlich von den Bürgern, mein lieber Herr Höfgen. Aber ich bin auch einer. – Freilich kein nationalistischer und hoffentlich auch kein ausbeuterischer«, fügte er freundlich hinzu. Hendrik – das Gesicht über dem rosa Hemd gerötet vom lebhaften Gespräch und vom Wein – stammelte etwas davon, daß es auch großbürgerlich-überbürgerliche Typen gebe, für die der kommunistisch gesinnte Mensch durchaus Wertschätzung habe; daß das große Erbe der bürgerlichen Revolutionen und des Liberalismus im bolschewistischen Pathos lebendig bleibe, und dergleichen versöhnliche Beteuerungen mehr.
Diesem Wortschwall winkte der Geheimrat lächelnd ab. Aber dann erzählte er – als wäre ihm doch daran gelegen, Höfgen von seiner politischen Vorurteilslosigkeit zu überzeugen – auf seine bedächtig wägende, zugleich schnörkelhaft umständliche und eindringlich anschauliche Art von den bedeutenden Eindrücken, die seine Reise durch die Sowjetunion ihm gebracht hatte. »Jeder objektiv Beobachtende muß es feststellen, und wir alle sollten uns an den Gedanken gewöhnen, daß dort drüben eine neue Form des menschlichen Zusammenlebens im Entstehen ist«, sagte er langsam und schaute mit seinem blauen Blick in die Ferne, als sähe er dort die großen und erschütternden Dinge, die in jenem Land Ereignis wurden. Mit Strenge sagte er noch: »Diesen Tatbestand bestreiten nur noch Narren oder Lügner.« Dann plötzlich änderte er den Ton; bat, man möge ihm die Schüssel mit den Himbeeren reichen, und noch während er sich bediente, sagte er, das beinah schelmisch lächelnde Gesicht ein wenig schief gehalten – wie er es zuweilen tat: »Mißverstehen Sie mich nicht, lieber Herr Höfgen: Natürlich ist diese Welt mir fremd – nur gar zu fremd, wie ich fürchte. Aber muß das bedeuten, daß ich ohne Gefühl bin für ihre zukunftsträchtige Größe?« Während er dies aussprach, nickte er Barbara zu, die ihm die Sahne gereicht hatte. Hendrik war froh, sich seinerseits wieder hören lassen zu dürfen. Für die Einzelheiten aus dem Leben in Sowjetrußland schien er sich nicht sonderlich zu interessieren; hingegen begann er mit Temperament vom Revolutionären Theater zu reden und von den Verfolgungen, denen er in Hamburg seitens der Reaktion ausgesetzt war. Er wurde sehr heftig; bezeichnete die Faschisten abwechselnd als »Tiere«, »Teufel« und »Idioten« und erging sich in den zornigsten Redensarten über jene Intellektuellen, die aus gemeinem Opportunismus mit dem militanten Nationalismus sympathisierten. »Die sollten alle aufgehängt werden!« rief Hendrik, wobei er sogar auf den Tisch schlug. Der Geheimrat sagte, gleichsam beschwichtigend: »Ja, ja – auch ich habe Unannehmlichkeiten gehabt.« Mit dieser Bemerkung spielte er auf die berühmten und skandalösen Ereignisse an: auf die Lärmszenen, die ihm nationalistische Studenten bereitet hatten, und auf die ordinären Angriffe, deren Gegenstand er in der reaktionären Presse gewesen war.
Nach der Mahlzeit bat der alte Herr den Schauspieler Höfgen darum, eine Probe seiner Kunst vorzuführen. Hendrik, der darauf keineswegs gefaßt gewesen war, wehrte sich lange. Der Geheimrat aber ließ sich gar zu gerne ein wenig unterhalten und amüsieren: wenn sein Kind sich schon einen Komödianten, der ein rosa Hemd und ein Monokel trug, zum Gatten nahm, dann wollte er, der Vater, wenigstens eine drollige Darbietung davon profitieren. Hendrik mußte auf der Diele Rilke-Verse deklamieren; selbst die alte Haushälterin und der große Hund kamen herbei, um zu lauschen. Zu dem kleinen Auditorium gesellte sich noch Nicoletta, die an der Mahlzeit nicht teilgenommen hatte und vom Geheimrat mit halbironischer Feierlichkeit begrüßt wurde. Hendrik gab sich außerordentliche Mühe, arbeitete mit den raffiniertesten Mitteln, machte seine Sache sehr gut und erntete reichlichen Beifall. Als er mit einem Bruchstück aus dem »Cornet« geendigt hatte, schüttelte der Geheimrat ihm nicht ohne Bewegtheit die Hand, und Nicoletta, ihrerseits musterhaft artikulierend, lobte seine »blendende Aussprache«.
Am nächsten Tage mußten die beiden Damen Höfgen, Mutter und Tochter, in Empfang genommen werden. Hendrik sagte zu Barbara, mit der er auf dem Bahnsteig wartete: »Du wirst sehen: Josy fällt mir um den Hals und erzählt, daß sie sich wieder verlobt hat. Es ist schauerlich – sie verlobt sich mindestens jedes halbe Jahr einmal, und mit was für Burschen! Wir sind jedesmal froh, wenn die Verbindungen auseinandergehen. Das vorige Mal hätte es meinen armen Vater fast das Leben gekostet. Der Bräutigam war ein Rennfahrer, er nahm Papa in seinem Wagen mit, und der Ausflug endete im Straßengraben. Der Rennfahrer ist Gott sei Dank tot, Papa hat sich nur ein Bein gebrochen, aber natürlich ist er sehr betrübt darüber, daß er heute nicht mit uns allen hier sein kann …«
Es geschah, wie Hendrik prophezeit hatte: Schwester Josy, in einem grellgelben Sommerkleid, das mit roten Blumen bestickt war, sprang leichtfüßig aus dem Zuge – während die Mama noch im Coupé mit den Handkoffern beschäftigt war – fiel ihrem Bruder um den Hals und verlangte stürmisch von ihm, er solle ihr gratulieren; diesmal handle es sich um einen Herrn, der eine gute Stellung am Kölner Rundfunk habe. »Ich werde am Mikrophon singen dürfen!« jubelte Josy. »Er findet mich sehr begabt, im Herbst heiraten wir, bist du glücklich, Heini? – Hendrik!« verbesserte sie sich schnell und schuldbewußt. »Bist du auch so glücklich?« Höfgen schüttelte sie ab, als wäre sie ein lästiges Hündchen, das ihn ansprang. Er eilte der Mutter zu Hilfe, die aus dem Coupéfenster nach einem Gepäckträger rief. Josy inzwischen küßte Barbara auf beide Wangen. »Fein, dich kennenzulernen«, plapperte sie. »Natürlich müssen wir uns ›du‹ sagen – ›Sie‹, das wäre doch viel zu steif unter Schwägerinnen. Ich bin so froh, daß Hendrik endlich mal heiratet, bis jetzt habe nur ich mich immerzu verlobt, Hendrik hat dir ja bestimmt erzählt, wie schief es das vorige Mal ausgegangen ist, Papas Bein steckt noch immer in Gips, aber Konstantin hat wirklich eine sehr gute Stellung am Rundfunk, wir wollen im Oktober heiraten, großartig siehst du aus, Barbara, wo ist denn dein Kleid her, sicher ein echt Pariser Modell.«
Hendrik hatte die Mutter herbeigeführt, und sein Gesicht strahlte, als sie Barbara beide Hände reichte. »Mein liebes, liebes Kind«, sagte Frau Höfgen, wobei ihre Augen ein wenig feucht wurden. Hendrik lächelte, zärtlich und stolz. Er liebte seine Mutter – Barbara begriff es, und sie freute sich. Freilich, manchmal schämte er sich ihrer, sie war ihm nicht fein genug, ihre Kleinbürgerlichkeit schien ihm blamabel. Aber er liebte sie: es ließ sich erkennen an seinem freudig belebten Blick und an der Art, wie er ihren Arm an den seinen preßte.
Wie ähnlich sie sich sahen, Mutter und Sohn! Von Frau Bella hatte Hendrik die lange, gerade, etwas zu fleischige Nase mit den beweglichen Nüstern; den breiten, weichen und sinnlichen Mund; das starke und edle Kinn mit der markanten Kerbe in der Mitte; die weiten, graugrünen Augen; die hochgewölbten blonden Brauen, von denen der empfindliche Zug zu den Schläfen ging. Nur zeigte diese Physiognomie bei der stattlichen und biederen Dame einen anspruchsloseren, bescheideneren Charakter als bei ihrem Sohn: es fehlten die tragischen wie die diabolischen Zeichen. Bei ihr gab es kein Schillern der Augen, und die Lippen hatten kein aasig verführerisches, auch kein rätselhaft um Mitleid werbendes Lächeln.
Frau Bella war eine energische, gutmütige, famos konservierte Frau von Anfang Fünfzig, mit frischen Farben im sympathisch offenen Gesicht, freundlich gewölbtem Busen, einer blonden Dauerwellenfrisur unter einem blumengarnierten Strohhut und mit einem leichten Sattel von Sommersprossen auf der Nase. Noch hatte sie keinen Anlaß, sich ganz zu den Alten zu rechnen und auf die Freuden des Lebens völlig zu verzichten. »Man will sich doch auch mal ab und zu amüsieren«, erklärte sie resolut; dann kam sie, aus Verlegenheit, ins Schwatzen und erzählte eine umständliche Geschichte von einem Wohltätigkeitsfest, auf dem es sehr lustig zugegangen war; zum Besten der Waisenkinder hatten die Damen der Kölner Gesellschaft in Zelten Erfrischungen, Blumen und Kunstgegenstände feilgeboten, es war nur ehrenvoll gewesen, da mitzumachen, und deshalb waren Frau Höfgen keinerlei Bedenken gekommen, den Champagnerausschank zu übernehmen: fünf Mark hatte sie für das Glas Sekt verlangt – das war etwas viel, doch man nahm es ja zum Wohle der armen Kleinen. Nachher aber hatte es den übelsten Klatsch gegeben: gemeine Menschen brachten die Frechheit auf, zu behaupten, Frau Bella habe nicht aus humanitären Gründen Schaumwein dargeboten, vielmehr habe sie es gegen Bezahlung getan, als Angestellte der Sektfirma, und obendrein habe sie sich küssen lassen – man stelle sich doch vor: küssen lassen, und zwar auf den Busen.
Mit ehrlicher Empörung berichtete dies Mutter Höfgen – man fuhr im offenen Wagen durch die sommerliche Stadt; sie bekam eine rote Miene vor Zorn, mußte sich den Schweiß von der Stirne wischen und rief aus: »So was ist doch eine bodenlose Gemeinheit! Dabei habe ich jeden Pfennig abgeliefert, und meine Einnahmen waren besser als die aller anderen Damen, das Waisenhaus hat sich eigens bei mir bedankt, und als mir ein Herr nur mal die Hand küssen wollte, da habe ich gleich gesagt, Sie dummer Kerl Sie, lassen Sie das! – und ich hätte ihm eine Ohrfeige versetzt, wenn er sich nicht gleich entschuldigt hätte. Die Menschen sind ja so boshaft – man kann sich noch so lady-like benehmen, sie sagen einem doch etwas Schlechtes nach. Aber jetzt werden ihnen die gemeinen Redensarten vergehen, jetzt stopfst du ihnen den Mund, Hendrik – was?« Dabei warf Frau Bella einen stolzen Blick, erst zu ihrem Sohne, dann auf Barbara. Hendrik litt unter den munteren Taktlosigkeiten der Mama. Er errötete, biß sich die Lippen und begann schließlich, in seiner Not, von der Schönheit der Straße, durch die man eben fuhr, zu sprechen.
Der Geheimrat empfing die Damen an der Gartentüre mit der gleichen heiteren Feierlichkeit, die er am Tage vorher für Hendrik gehabt hatte. Bella und Josy wurden von Barbara nach oben geleitet, wo sie sich geschwind die Hände waschen und die Nasen pudern wollten. Eine Stunde später fuhr man in zwei Automobilen zum Standesamt: im Brucknerschen Wagen nahmen, außer dem Brautpaar, Frau Höfgen und der Geheimrat Platz; in einem Taxi folgten Nicoletta, Josy, die alte Haushälterin und ein Jugendfreund Barbaras, der Sebastian hieß und über dessen Anwesenheit Hendrik etwas verwundert war.
Die amtliche Zeremonie war schnell erledigt. Nicoletta und der Geheimrat machten die Trauzeugen; alle waren ziemlich aufgeregt, Frau Bella und die kleine Haushälterin weinten, während Josy ein nervöses Lachen hören ließ. Hendrik beantwortete die Fragen des Standesbeamten mit einer belegten Stimme, wobei seine Augen starr wurden und etwas schielten; Barbara hielt ihren sanft forschenden Blick auf den Mann gerichtet, der da neben ihr stand und der nun, überraschenderweise, ihr Gatte sein sollte. – Es folgten Glückwünsche und Umarmungen. Zur allgemeinen Überraschung bat Nicoletta Frau Höfgen mit scharfer Stimme um die Erlaubnis, sie »Tante Bella« nennen zu dürfen, und da sie es gestattet bekam, küßte sie ihr mit diabolischer Korrektheit die Hand. Das imposante Mädchen war heute vormittag besonders blitzblank und von einer klirrenden Heiterkeit. In ihrem weißen, panzerartig harten Leinenkleid, zu dem sie einen breiten, grellroten Lackledergürtel um die Hüften trug, hielt sie sich sehr gerade. Zu Barbara sagte sie: »Ich bin froh, meine Liebe, daß alles so gut geklappt hat« – eine etwas sinnlose, jedoch mit schneidender Exaktheit vorgebrachte Bemerkung. Ihre schönen Katzenaugen funkelten. Sie nahm Fräulein Josy beiseite, um sie auf ein hervorragend gutes Mittel gegen Sommersprossen aufmerksam zu machen, das – wie sie plötzlich log – ihr Vater erfunden und im ganzen Fernen Osten eingeführt hatte. »Sie können es gebrauchen, liebes Fräulein!« sprach mit einem drohenden Gesichtsausdruck Nicoletta – die, höchst launischerweise, sich zwar mit Frau Bella, nicht aber mit Josy zu duzen wünschte. »Ihre kleine Nase ist ja ganz entstellt.« Dabei blickte sie mit Strenge auf den Sattel von rötlichen Flecken, der sich über Josys kecke Stupsnase breitete und auch noch einen Teil der Wangen und der Stirn bedeckte, wo die Pünktchen jedoch schon weniger massenhaft, in einer dünneren Verteilung lagen – so wie manche kosmische Spiralnebel oder Milchstraßensysteme an ihren Randgebieten dünner, sparsamer besetzt und gleichsam durchsichtiger werden. »Ja, ich weiß es«, sagte Josy beschämt. »Im Sommer ist das immer so arg bei mir. – Aber Konstantin mag es ganz gerne«, fügte sie, schon wieder getröstet, hinzu, um dann von der guten Stellung ihres Bräutigams beim Kölner Rundfunk zu erzählen.
Barbaras Großmutter, die Generalin, erschien erst zum Lunch. Es gehörte zu den Prinzipien der alten Dame, niemals ein Automobil zu benutzen; die zehn Kilometer, die ihr kleines Gut von der Brucknerschen Villa trennten, legte sie in einer altmodischen großen Kalesche zurück, und sie verspätete sich zu allen Familienfesten. Mit einer schönen, volltönenden Stimme, die sehr tief in den Baß hinunter und sehr hoch in den Diskant hinauf ging, beklagte sie es, daß sie das Schauspiel auf dem Standesamt versäumt habe. »Nun, und wie sehen Sie denn aus, mein neuester Enkelsohn?« sagte die aufgeräumte Großmama und fixierte Hendrik ausführlich durch die Lorgnette, die ihr an einer langen, mit bläulichen Juwelen verzierten Silberkette auf der Brust hing. Hendrik wurde rot und wußte nicht, wohin er schauen sollte. Die Musterung dauerte lange; übrigens schien sie nicht unvorteilhaft für ihn auszufallen. Als die Generalin die Lorgnette endlich sinken ließ, hatte sie ein Lachen, welches silbrig perlte. »Gar nicht übel!« stellte sie fest, wobei sie beide Arme in die Hüften stemmte. Sie nickte ihm munter zu. In ihrem weiß gepuderten Gesicht führten die schönen, dunkelklaren und beweglichen Augen eine noch eindringlichere, klügere und stärkere Sprache als der Mund, wenn er die große Stimme hören ließ.
Einer derartig wunderbaren alten Dame war Hendrik seiner Lebtag noch nicht begegnet. Die Generalin imponierte ihm ungeheuer. Sie hatte das Aussehen eines Aristokraten des achtzehnten Jahrhunderts: ihr hochmütiges, kluges, lustiges und strenges Gesicht war gerahmt von einer grauen Frisur, die über den Ohren zu steifen Röllchen gewickelte Locken zeigte. Im Nacken vermutete man einen Zopf: man war erstaunt und ein wenig enttäuscht, daß er fehlte. In ihrem perlgrauen Sommerkostüm, das am Hals und an den Manschetten mit Spitzenrüschen garniert war, hatte die Generalswitwe eine militärisch gerade Haltung. Das breite Halsband, das gleich oberhalb der Spitzenrüsche begann und dicht unterhalb des Kinns endigte – eine schöne antike Arbeit aus mattem Silber und blauen Steinen, die zu den Juwelen an der klappernden Lorgnettenkette paßten – wirkte an ihr wie ein hoher, steifer, bunt bestickter Uniformkragen.
In jeder Gesellschaft, die sie betrat, regierte die Generalin – sie war es nicht anders gewohnt. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte sie als eine der schönsten Frauen der deutschen Gesellschaft gegolten, und noch in den beiden ersten Jahrzehnten des zwanzigsten war sie gefeiert worden. Alle großen Maler der Epoche hatten sie porträtiert. In ihrem Salon hatten sich die Prinzen und Generale mit den Dichtern, Komponisten und Malern getroffen. Viele Jahre lang hatte man in München und in Berlin von der Klugheit und Originalität der Generalin beinah ebensoviel gesprochen wie von ihrer Schönheit. Da ihr Gatte – er war seit einigen Jahren tot – die Sympathie der allerhöchsten Stellen genossen hatte und übrigens reich gewesen war, verzieh man ihr Ansichten, Gesinnungen und Manieren, die man bei jeder anderen exzentrisch bis zur Anstößigkeit gefunden haben würde. Selbst dem Kaiser war ihre Schönheit aufgefallen; deshalb durfte sie, schon im Jahre 1900, für das Frauenstimmrecht plädieren. Sie konnte den »Zarathustra« auswendig und rezitierte zuweilen aus ihm, zur peinlichen Verwunderung ihrer aristokratischen Gäste, die dies für etwas Sozialistisches hielten. Sie hatte Franz Liszt und Richard Wagner gekannt; sie hatte Korrespondenzen mit Henrik Ibsen und Björnstjerne Björnson geführt. Wahrscheinlich war sie gegen die Todesstrafe. Ihrer großen Haltung, in der sich eine burschikose Sorglosigkeit mit unangreifbarer Würde verband, mußte man alles nachsehen.
Die Generalin machte auf Hendrik einen viel größeren Eindruck als der Geheimrat. Nun erst begriff er ganz, was für ein glänzendes Milieu es war, in das er eintreten durfte. Seine gute Mutter Bella hatte wohl recht gehabt – nur hätte sie nicht so taktlos darauf anspielen sollen – angesichts solcher Verwandtschaft würden den Spießern in Köln die frechen Redensarten vergehen über die angeblich heruntergekommene Familie Höfgen. Auch Barbara stieg noch einmal in Hendriks Achtung, da er feststellte, wie vertraut der Gesprächston zwischen ihr und dieser blendenden Großmama war. Barbara hatte ihre Schulferien und außerdem beinahe jeden Sonntag auf dem Gute der Generalin verbracht – Hendrik erinnerte sich nun, es gehört zu haben. Die unvergleichliche alte Dame hatte ihrem Enkelkinde Dickens oder Tolstoi vorgelesen – es war eine Leidenschaft der Generalin, vorzulesen, und sie tat es mit schönem Ausdruck – oder sie hatten gemeinsame Spazierritte unternommen durch ein Land, das Hendrik sich vornehm wie einen englischen Park und dabei romantisch, waldig, hügelig, von silbrigen Gewässern durchzogen, reich an Schluchten, Tälern, wundervollen Ausblicken vorstellte. Wieder mischte sich Neid in das Entzücken, mit dem Höfgen an die schöne Kindheit Barbaras dachte. Hatte diese sorgenlose Jugend nicht beides gekannt: die vollkommene Kultur und die fast vollkommene Freiheit? Der Alltag in der väterlichen Villa; die festliche Erholung – die, in ihrer regelmäßigen Wiederkehr, auch schon beinahe Alltag war – auf der Besitzung dieser fürstlichen alten Dame: konnte Hendrik eine Bitterkeit unterdrücken, wenn er solche Kindheit mit der eigenen verglich?
Denn in Köln, bei Vater Köbes – der jetzt mit gebrochenem Bein darniederlag – hatte es keinen Park gegeben, keinen Raum mit Teppichen, Bibliothek und Gemälden; vielmehr muffige Stuben, in denen Bella und Josy munteres Treiben entfalteten, wenn sich Gäste einfanden, jedoch mißgelaunt und schlampig wurden, wenn die Familie unter sich blieb. Vater Köbes hatte immer Schulden und klagte über die Gemeinheit der Welt, wenn die Gläubiger ihn drängten. Noch peinlicher als seine schlechte Laune war die »Gemütlichkeit«, zu der er sich bisweilen, an hohen Feiertagen oder auch ohne besonderen Anlaß, plötzlich entschloß. Dann wurde ein »Böwlchen« gebraut, und Papa Köbes forderte die Seinen auf, einen Kanon mit ihm zu singen. Der junge Hendrik aber weigerte sich; er saß fahl und verbissen in einer Ecke. Sein einziger Gedanke war immer gewesen: ›Ich muß hinauskommen aus diesem Milieu. Ich muß dies alles weit, weit hinter mir lassen …‹
›Barbara hat es leicht gehabt‹, dachte er nun, während er mit der Generalin Konversation machte. ›Alle Wege waren ihr geebnet; sie ist ein typisches Geschöpf der arrivierten Großbourgeoisie. Über die Härte des Lebens, die ich schon kenne, wird sie sich wundern müssen. Was ich erreichen werde und schon erreicht habe, das verdanke ich alles nur meiner Kraft.‹ – Nicht ohne Pikiertheit sagte er zu seiner jungen Frau, die ihn an den Tisch geführt hatte, auf dem die Glückwunschtelegramme und Geschenke lagen: »Die Depeschen sind natürlich alle für dich. Mir telegraphiert niemand.« Barbara lachte – recht spöttisch und selbstgefällig, wie ihm schien: »Im Gegenteil, Hendrik. Mehrere Leute haben nur an dich adressiert – zum Beispiel Marder.« Aus dem hohen Stoß von Briefen, Karten und Depeschen suchte sie die Papiere hervor, die für Hendrik bestimmt waren. Außer Theophil Marder, dessen Hochzeitsbotschaft in vieldeutig korrekten, wahrscheinlich höhnisch gemeinten Wendungen abgefaßt war, hatten ihm noch die kleine Angelika Siebert, die Direktoren Schmitz und Kroge, Hedda von Herzfeld und – worüber er sich entsetzte – Juliette gratuliert. Woher waren ihr diese Adresse, dieses Datum bekannt? Hendrik, der bleich geworden war, zerknüllte den Papierstreifen. Um abzulenken, bewunderte er auf eine ironisch übertriebene Art die Geschenke, welche Barbara bekommen hatte: das Porzellan und das Silber, das Kristall, die Bücher und die Schmucksachen; die vielen nützlichen und feinen, von Freunden und Verwandten mit liebevoller Sorgfalt ausgewählten Gegenstände. »Was sollen wir nun anfangen mit all dem köstlichen Zeug?« fragte Barbara und schaute ratlos auf den großen Segen. Hendrik dachte daran, daß die eleganten Geräte sich sehr hübsch in seinem Hamburger Zimmer ausnehmen würden; sprach es aber nicht aus, sondern lachte und zuckte verächtlich die Achseln.
Der junge Mann trat hinzu, über dessen Anwesenheit Hendrik etwas beunruhigt war und der »Sebastian« angeredet wurde. Er unterhielt sich mit Barbara in einem geschwinden, an schwer verständlichen, privaten Anspielungen reichen Jargon, dem Hendrik nur mit Mühe folgen konnte. Höfgen stellte bei sich fest, daß dieser Mensch, den Barbara ihren besten Jugendfreund nannte und von dem sie behauptete, er schriebe schöne Verse und gescheite Aufsätze, ihm ausgesprochen unsympathisch war. ›Er ist hochmütig und unausstehlich!‹ dachte Hendrik, der sich in Sebastians Nähe besonders unsicher fühlte, obwohl dieser liebenswürdig zu ihm war. Aber gerade diese unverbindliche und ein wenig spöttische Liebenswürdigkeit wirkte verletzend. Sebastian hatte reiches, aschblondes Haar, das ihm in einer dicken Strähne in die Stirn fiel, und ein fein gezeichnetes, etwas müdes Gesicht mit einer langen, stark vorspringenden Nase und verschleiert blickenden, grauen Augen. ›Wahrscheinlich ist auch sein Vater ein Professor oder etwas Ähnliches‹, beschloß Hendrik erbittert. ›So ein verwöhnter, geistreicher Bube ist genau der Umgang, von dem Barbara endgültig verdorben werden könnte.‹
Nach der Mahlzeit saß man in der Diele zusammen; denn auf der Terrasse war es zu heiß geworden. Frau Bella hielt es für ihre Pflicht, über Literatur zu sprechen. Sie erzählte, daß sie im Zuge etwas so besonders Nettes gelesen habe, geradezu spannend sei es gewesen, von wem war es denn nur, »na, von unserem Russen, unserem größten!« rief die Arme gequält. »Wie konnte ich denn nur den Namen vergessen, wo er doch schon immer mein Lieblingsdichter war!« Nicoletta schlug vor, ob es sich nicht um Tolstoi gehandelt haben könne. »Ganz richtig – Tolstoi!« bestätigte Frau Bella erlöst. »Ich sagte doch: unser Größter – und es war etwas ganz Neues von ihm.« Aber dann stellte sich heraus, daß es eine kleine Dostojewski-Novelle gewesen war, die Mutter Höfgen soviel Freude bereitet hatte. Hendrik war blutrot geworden. Um das Gesprächsthema zu wechseln, und um diesem arroganten Kreise zu beweisen, daß er seine Mutter in peinlichen Situationen nicht im Stiche ließ, plauderte er demonstrativ mit Frau Bella und erinnerte sie, herzlich lachend, an mancherlei Lustiges, was sich in vergangenen Jahren zugetragen hatte. Ja, das war ulkig gewesen, als sie beide – Mutter und Sohn – zur Faschingszeit den großen Budenzauber veranstalteten und Papa Köbes erschreckten! Frau Bella maskierte sich als Pascha; der kleine Hendrik – dessen Name damals Heinz gewesen war; aber dies wurde jetzt nicht erwähnt – als Bajadere. Die ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt, Papa Köbes traute seinen Augen nicht, als er nach Hause kam. »Mama war die erste, die erkannte, daß ich zum Theater gehen mußte«, sagte Hendrik und sah die Mutter liebevoll an. »Papa wollte lange nichts davon wissen.« – Dann erzählte er die Geschichte, wie seine schauspielerische Laufbahn begonnen hatte. Es war noch während des Krieges gewesen, 1917, als Hendrik, kaum achtzehn Jahre alt, auf einem Stück Zeitungspapier eine Annonce fand, aus der hervorging, daß ein Fronttheater im belgisch besetzten Gebiet junge Schauspieler suchte. »Aber an welchem Ort ich diesem schicksalsvollen Zeitungsfetzen begegnet bin«, sagte Hendrik, »das darf ich gar nicht erzählen.« Da alle lachten, tat er, als ob er sich sehr heftig schämen müßte, und brachte nur noch zwischen den Händen, hinter denen er sein Gesicht verbarg, hervor: »Ja, ja – ich fürchte, daß Sie es erraten haben …«
»Auf dem Klosett!« jubelte schamlos die Generalin, und ihr großes Gelächter sprang in kühner Koloratur vom tiefsten Baß bis hinauf zur silbrigen Höhe.
Während die allgemeine Stimmung immer fröhlicher und animierter wurde, ging Hendrik zu den Anekdoten über das Wandertheater über, wo er die Väterrollen hatte spielen müssen: nun konnte er, ungeniert und heiter, all seine altbewährten Piecen hervorholen und wieder einmal funkeln lassen; denn in diesem Kreise waren sie ja noch unbekannt. Nur Barbara hatte sie teilweise schon gehört, weshalb der Blick, mit dem sie den Erzählenden beobachtete, erstaunt und sogar ein klein wenig angewidert wurde.
Abends kamen einige Freunde, und Hendrik durfte seinen unbezahlten Frack zeigen, der ihm wundervoll stand. Die Tafel war schön mit Blumen geschmückt; nach dem Braten klopfte der Geheimrat ans Champagnerglas und hielt eine Rede. Er begrüßte die Anwesenden, vor allem Hendriks Mutter und Schwester – wobei er Frau Bella mit scherzhafter Artigkeit »die andere junge Frau Höfgen« nannte – und ging dann auf das Problem der Ehe im allgemeinen, auf die Person und die künstlerischen Verdienste seines neuen Schwiegersohnes im besonderen ein. Dem Geheimrat, der seine Worte mit Sorgfalt und mit einer liebevollen Geschicklichkeit wählte, gelang es, den Schauspieler Höfgen als eine Art von Märchenprinzen zu charakterisieren, der, tagsüber unscheinbar, sich des Abends magisch zu verwandeln vermag. »Da sitzt er!« rief Bruckner und deutete mit seinem langen, schmalen Zeigefinger auf Hendrik, der sofort etwas rot wurde. »Da sitzt er, sehen Sie ihn sich nur an! Er scheint ein schlanker junger Mann zu sein – gewiß, sehr stattlich in seinem gut geschnittenen Frack, aber doch relativ unauffällig. Unauffällig nämlich, wenn ich ihn mit der bunten, zauberhaften Figur vergleiche, die abends, im Rampenlicht, auf der Bühne aus ihm wird. Da beginnt er zu strahlen, da wird er unwiderstehlich!« Und der von seinem Thema hingerissene Gelehrte verglich den Schauspieler Höfgen – den er doch niemals auf der Szene gesehen hatte, sondern nur als Rilke-Rezitator kannte – mit einem Glühwürmchen, das sich tags aus schlauer Bescheidenheit übersehen läßt, um in der Dunkelheit erst recht verführerisch zu gaukeln. Hier ließ Nicoletta ein grelles Lachen hören, während die Generalin mit der Kette klapperte, an der ihre Lorgnette hing.
Der Geheimrat ließ zum Schluß das junge Paar hochleben. Hendrik küßte Barbaras Hand. »Wie schön du aussiehst!« sagte er und lächelte ihr innig zu. – Barbaras Kleid war aus einer schweren, teefarbenen Seide. Nicoletta hatte es getadelt und behauptet, es sei nicht modisch, sondern ein Phantasiekostüm, dem man seine Herkunft von der Hausschneiderin ansehe. Niemand aber konnte leugnen, daß es Barbara vorzüglich stand. Über dem breiten Kragen aus alten Spitzen – er war eines der Hochzeitsgeschenke der Generalin – erhob sich in rührender Schlankheit ihr bräunlicher Hals. – Das Lächeln, mit dem sie Hendrik antwortete, war ein wenig zerstreut. Ging nicht ihr schwärzlich-blauer, sanfter, prüfender Blick vorbei an Höfgen, der ihr gegenüberstand? Wem galt dieser Blick, der bekümmert, aber auch etwas spöttisch schien? Hendrik, plötzlich irritiert, wandte sich um. Er sah Sebastian, Barbaras Freund: in der schlechten Haltung, die ihm eigen war, mit hängenden Schultern und den Kopf nach vorne gestreckt, stand er nur einige Schritte entfernt von dem jungen Paar. Sein Gesicht war betrübt und zeigte einen angestrengt lauschenden Ausdruck. Auf eine merkwürdige Art bewegte er die Finger seiner beiden Hände – so etwa, als wollte er in der Luft Klavier spielen. Was bedeutete dies? Machte er Barbara Zeichen, deren geheimen Sinn nur sie verstehen konnte? Worauf lauschte er denn, der Verhaßte? Und warum diese Traurigkeit in seinem Gesicht? Liebte er Barbara? Sicher liebte er sie. Wahrscheinlich hatte er sie heiraten wollen; vielleicht hatte es schon vor Jahren eine kindliche Verlobung gegeben zwischen ihm und ihr. ›Nun habe ich ihm alles verdorben!‹ empfand Hendrik, halb triumphierend, halb entsetzt. ›Wie er mich verabscheut!‹ Er schaute weg von Sebastian und auf die übrigen Gäste – die Freunde dieses berühmten Hauses. Da fand er, daß sie alle betrübte Gesichter hatten. Männer mit durchgearbeiteten, charaktervollen Mienen – Hendrik hatte ihre Namen bei der Begrüßung nicht verstanden; aber es waren wohl Professoren, Schriftsteller, große Ärzte; ein paar junge Leute, die ihm alle mit Sebastian eine fatale Ähnlichkeit zu haben schienen; Mädchen, die in ihren Abendkleidern wie maskiert wirkten – als gingen sie sonst in grauen Flanellhosen, weißen Laboratoriumskitteln oder grünen Gärtnerschürzen. Hendrik schien es, als mischte sich in den Blicken, die sie auf ihn richteten, Neid mit Hohn. Hatten sie denn alle Barbara geliebt? Nahm er sie ihnen allen weg? War er also der Eindringling, die verdächtige, unseriöse Figur, mit der man sich ungern und nur aus Rücksicht auf Barbaras rätselhafte – wahrscheinlich flüchtige – Laune an einen Tisch setzt? In Wahrheit sprachen diese Menschen über hundert neutrale Dinge: über ein neues Buch, eine Theatervorstellung oder die politische Lage, die ihnen Sorgen machte. Hendrik aber meinte, sie beschäftigten sich nur mit ihm; sie sprächen, lächelten, spotteten nur über ihn.
Er hätte sich verkriechen mögen, so heftig schämte er sich plötzlich. Hatte nicht auch der Geheimrat ihn verhöhnen wollen mit seiner Rede? Innerhalb ganz weniger Sekunden hatte sich ihm alles, was heute von ihm erlebt worden war, ins Feindliche, Erniedrigende verwandelt. Das tolerante und heitere, mit Ironie vermischte Wohlwollen des Geheimrats, das ihn noch vor kurzem so stolz gemacht hatte – war es nicht im Grunde viel kränkender und herabsetzender, als irgendeine Strenge, ein deutlich an den Tag gelegter Hochmut es je hätten sein können? Jetzt erst begann Hendrik es sich klarzumachen, wieviel verletzenden Spott auch die burschikose Munterkeit der Generalin enthielt. Freilich, sie war eine imposante Persönlichkeit, grande dame großen Stils, und sie sah hinreißend aus, wie sie nun, aufrechten Ganges, herrschaftlich unbekümmert mit der Lorgnette klappernd, dem jungen Paar nahte: ganz in Weiß gekleidet, um den Hals die dreifach geschlungene Kette aus großen, matt schimmernden Perlen. Hatte sie am Mittag, im grauen Kostüm, wie ein Marquis des achtzehnten Jahrhunderts gewirkt, so zeigte sie jetzt, im weißen Gewand und im Schmuck ihrer köstlichen Steine, eine fast päpstliche Würde. Zu dieser Grandezza des Auftretens stand die derbe Aufgeräumtheit ihrer Sprechweise in einem großartig unbekümmerten Gegensatz. »Ich muß doch mal mit Glühwürmchen und mit meiner kleinen Barbara anstoßen!« rief sie schallend; dabei schwenkte sie das Champagnerglas.
Von der anderen Seite war Nicoletta herbeigetreten, auch sie mit dem Glas in der Hand. Sie ließ die Augen funkeln und den grellen Mund die Schlängellinie machen. »Prost!« rief die Generalin. »Prost!« rief Nicoletta. Hendrik stieß erst mit der königlichen Großmama an; dann mit Nicoletta – dem Mädchen, das von einem Schicksal, so wunderlich wie sein eigenes, in dieses Milieu verschlagen worden war. Hier bewegte sie sich – eine überraschende Figur – von der neugierig-nachsichtigen Toleranz des Geheimrats, von der selbstsicheren Munterkeit der Generalin geduldet – innig gehütet von der Liebe Barbaras. In diesem Augenblick empfand Hendrik, sehr klar und stark, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit – eine brüderliche Sympathie für Nicoletta. Er begriff: Sie war seinesgleichen. Zwar war ihr Vater der Literat und Abenteurer gewesen, dessen Vitalität und zynische Intelligenz die Bohème um die Jahrhundertwende fasziniert hatten; während die kleinbürgerliche Unsolidität des Papa Köbes wohl niemanden faszinieren, sondern nur die Gläubiger verärgern konnte. Hier aber, unter den höchst Gebildeten, viel Besitzenden – die meisten Anwesenden besaßen gar nicht sehr viel, aber Hendrik hielt sie samt und sonders für schwerreich – unter den Selbstsicheren, Ironischen und Gescheiten, in deren Kreis Barbara mit einer so aufreizenden Sicherheit sich zu bewegen wußte, hier spielten sie beide die gleiche Rolle, Nicoletta und Hendrik, die zwei bunten Vögel. Sie waren beide im tiefsten dazu entschlossen, sich von dieser Gesellschaft, der sie sich nicht zugehörig fühlten, nach oben tragen zu lassen und ihren Triumph über sie zu genießen als ihre Rache.
»Prost!« machte Hendrik. Sein Glas stieß leise klirrend an das Glas Nicolettas. Barbara, die inzwischen plaudernd und lachend um den Tisch ging, war bei ihrem Vater angekommen. Stumm legte sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn.
Das schöne Hotel an einem der oberbayrischen Seen hatte Nicoletta empfohlen, die das junge Paar auf seiner kleinen Hochzeitsreise begleitete. Barbara war hier sehr glücklich: sie liebte diese Landschaft, die, mit ihren hügeligen Wiesen, Wäldern und Gewässern, noch sanft, noch unpathetisch war, aber doch schon das Heroische und Kühne als ein Element und eine Möglichkeit in sich enthielt. Bei föhnigem Wetter schien das Gebirge ganz nah heranzukommen. Im Licht des Sonnenuntergangs verfärbten die zackigen Gipfel, die schneeigen Hänge sich blutig. Noch schöner aber fand Barbara ihren Anblick, wenn sie, während der Stunde vor dem Dunkelwerden, in einer erhabenen Bleichheit, in einem eisigen Frieden standen und wie geformt aus einer fremden, spröden, unendlich kostbaren, bei aller Härte sehr empfindlichen Substanz, die nicht Glas zu sein schien, nicht Metall und nicht Stein, vielmehr die seltenste und gänzlich unbekannte Materie.
Hendrik war unempfänglich für Reiz und Größe der Landschaft. Die Atmosphäre des elegant geführten Hotels beunruhigte und erregte ihn. Den Kellnern gegenüber verhielt er sich mißtrauisch und reizbar; er behauptete, daß sie ihn schlechter behandelten als die übrigen Gäste, und machte Barbara Vorwürfe, daß sie ihn jetzt schon dazu verleite, über seine Verhältnisse zu leben. Andererseits war er voll Genugtuung über das feine Milieu. »Es sind außer uns beinah nur Engländer hier!« stellte er befriedigt fest.
Trotz Hendriks Nervosität hatte man manchmal vergnügte Stunden. Vormittags lagen die drei auf dem hölzernen Steg, der weit hinaus ins blaue Wasser führte und an dem mittags der kleine, weiße, mit goldenen Verzierungen drollig aufgeputzte Dampfer anlegte. Nicoletta turnte und trainierte; sie sprang übers Seil, wandelte auf den Händen, bog den Rumpf nach hinten, bis ihre Stirn den Erdboden berührte – während Barbara faul in der Sonne lag. Nachher, beim Baden, war jedoch sie es, die sich besser bewährte als die eifrige Nicoletta: Barbara konnte schneller und ausdauernder schwimmen. Hendrik seinerseits kam für die sportliche Konkurrenz nicht in Frage: er schrie schon, wenn er mit den Zehen das kalte Wasser berührte, und nur durch langes Zureden und viel Spott brachte Barbara ihn dazu, einige Schwimmbewegungen zu versuchen. Ängstlich darauf bedacht, im seichten Wasser zu bleiben, das Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt, mühte sich Hendrik im gefährlichen Element. Barbara beobachtete ihn belustigt. Plötzlich rief sie ihm zu: »Du siehst deiner Mutter geradezu lächerlich ähnlich – beim Schwimmen noch mehr als sonst. Mein Gott, du hast ja genau ihr Gesicht!« – worüber Hendrik derart kichern mußte, daß er nicht mehr fähig war, mit den Armen zu rudern, viel Wasser schluckte und fast ertrunken wäre.
Um so glanzvoller bewährte er sich abends, beim Tanzen. Alle Hotelgäste und sogar die Kellner waren entzückt, wenn er Nicoletta oder Barbara im Tangoschritt führte. Mit solcher Anmut und so viel Grandezza wußte keiner von den anderen Herren sich zu bewegen. Es war eine richtige Vorstellung, die Hendrik gab; alle klatschten, da er geendigt hatte. Er verneigte sich lächelnd, als stände er auf der Bühne. – Wenn er Publikum sein sollte, Mensch unter anderen, fühlte er sich befangen und oft verstört; seine Sicherheit kehrte wieder und ward zur Siegesgewißheit, sowie er sich distanzieren, in ein grelleres Licht treten und dort schimmern durfte. Wahrhaft geborgen fand er sich nur auf einem erhöhten Platz, gegenüber einer Menge, die nur existierte, um ihm zu huldigen, ihn zu bewundern, ihm Beifall zu spenden.
Eines Tages stellte sich heraus, daß an eben dem See, dessen Schönheiten Nicoletta so eifrig empfohlen hatte, Theophil Marder ein Sommerhaus besaß; Barbara wurde sehr schweigsam und bekam schwarze Augen vor Nachdenklichkeit, als sie es erfuhr. Zunächst weigerte sie sich, den Satiriker zu besuchen; schließlich aber ließ sie sich von Nicoletta zu der Exkursion überreden. Man fuhr auf dem weißen, goldverzierten Dampfer, den man nun schon so oft vom Landungssteg aus beobachtet hatte, quer über den See. Das Wetter war schön; ein leichter und frischer Wind bewegte das Wasser, das so blau war wie der leuchtende Himmel. Je munterer Nicoletta wurde, desto stiller zeigte sich Barbara, ihre Freundin.
Theophil Marder erwartete seine Gäste am Ufer. Er trug einen großkarierten Sportanzug mit weiten, faltigen Knickerbockers und dazu einen weißen Tropenhelm, was wunderlich wirkte. Beim Sprechen nahm er eine kurze englische Pfeife nicht aus dem Mund. Als Nicoletta ihn fragte, seit wann er Pfeife rauchte, sagte er und lächelte geistesabwesend: »Der neue Mensch hat neue Angewohnheiten. Ich verwandle mich. Ich erschrecke jeden Morgen über mich selbst. Denn wenn ich aufwache, bin ich nicht mehr derselbe, als der ich am Abend eingeschlafen bin. Mein Geist hat über Nacht gewaltig zugenommen an Größe und Stärke. Immer kommen mir nun im Schlaf die ungeheuerlichsten Erkenntnisse. Deshalb schlafe ich auch so viel: mindestens vierzehn Stunden jeden Tag.« Diesem Bericht – der kaum geeignet war, die Beunruhigung, welche der Tropenhelm erweckte, zu beseitigen – folgte ein herzlich meckerndes Lachen. Dann benahm Theophil sich wieder gesittet. Gegenüber Hendrik und Nicoletta befleißigte er sich der gewähltesten Liebenswürdigkeit, während er Barbara zu übersehen schien.
Nach dem Essen, das man in einem mit naturfarbenem Holz getäfelten, großen, hellen und eleganten Speisezimmer eingenommen hatte, legte Theophil seinen Arm um Höfgens Schultern und führte ihn abseits. »Na, unter uns Männern«, sagte der Dramatiker, schaute flackernd und bewegte unter dem Schnurrbart schmatzend die bläulichen Lippen. »Sind Sie zufrieden mit Ihrem Experiment?«
»Mit welchem Experiment?« wollte Hendrik wissen. Daraufhin lachte Theophil schallend und bewegte dann noch heftiger den gierigen Mund. »Nun – was denn wohl? Ihre Heirat meine ich natürlich!« flüsterte er rauh. »Sie sind ja ’ne dolle Type, sich auf so was einzulassen! Mit dieser Geheimratstochter wird man nicht leicht fertig. Ich habe es doch versucht!« gestand er und bekam böse Augen. »An der werden Sie nicht viel Spaß erleben, mein Lieber. Die ist eine lahme Ente – glauben Sie mir, dem kompetentesten Fachmann des Jahrhunderts: eine lahme Ente ist sie.«
Hendrik war so bestürzt über diese Redewendung, daß er das Monokel aus dem Auge fallen ließ. Marder inzwischen stieß ihn lustig vor den Bauch. »Nichts für ungut!« rief er, plötzlich glänzend gelaunt. »Vielleicht schaffen Sie es – kann man nie wissen – sind ja ’ne dolle Type!«
Während des ganzen Nachmittags beklagte er den totalen Mangel an Disziplin, der die Epoche so traurig charakterisiere. Dabei ward er nicht müde, auf höchst intensive Art die gleichen Feststellungen und Ausrufe unzählige Male zu wiederholen. Immer wieder versicherte er: »Nirgends Persönlichkeiten! Es gibt nur mich! Mit welcher Sorgfalt ich auch Umschau halte – immer wieder finde ich nur mich!« Hastig verglich er sich mit einigen großen Männern der Vergangenheit, und zwar sowohl mit Hölderlin als auch mit Alexander dem Großen; lobte dann gereizt die »gute alte Zeit«, in der er selber jung gewesen, und kam in diesem Zusammenhang auch auf den Geheimrat Bruckner zu sprechen. »Ist ja kolossal langweilig, der alte Herr«, redete Theophil. »Aber doch noch solide, gute alte Schule – kein Scharlatan. Ohne Frage relativ achtenswerter Geselle. Was nachkommt, ist übler. Heutige Zeit bringt nur noch Kretins oder Kriminelle hervor.« Dann führte er die drei jungen Leute – Nicoletta, Barbara und Hendrik – vor seine Bibliothek, die mehrere tausend Bände zählte, und forderte sie auf, sie sollten zunächst mal was lernen. »Wißt ja alle nichts!« brüllte er sie überraschend an. »Allgemeine Unbildung und Verblödung schreien ja zum Himmel! Total verlotterte Generation. Europäische Katastrophe deshalb unvermeidlich und von höherem Gesichtspunkt aus gerechtfertigt!«
Als er aber dazu übergehen wollte, Hendrik in unregelmäßigen griechischen Verben zu prüfen, fand Barbara es an der Zeit, aufzubrechen.
Auf der Nachhausefahrt, im Dampfer, erklärte Nicoletta, ganz ähnlich wie Theophil Marder müsse ihr Vater, der Abenteurer, gewesen sein. »Ich besitze ja kein Bild von Papa«, sagte sie, und schaute sinnend über das Wasser, auf dem es kein Sonnenlicht mehr gab, sondern das perlmuttergrau und unbewegt im sinkenden Abend lag. »Kein Bild – nur die Opiumpfeife. Aber er muß mit Theophil viel gemeinsam gehabt haben. Ich spüre es. Daher bin ich Marder so tief verwandt.«
Nach einer kleinen Pause ließ sich Barbara hören: »Sicher war dein Vater viel, viel netter als Marder. Marder ist ja überhaupt nicht nett.« Nicoletta schaute tückisch und belustigt aus den grünen Katzenaugen und kicherte leise in sich hinein.
Nicoletta machte nun fast jeden Tag die Dampferfahrt zum gegenüberliegenden Ufer, wo sich Marders Villa befand. Sie brach gegen Mittag auf, um meistens erst spät in der Nacht zurückzukehren. Barbara wurde immer stiller und nachdenklicher, besonders während der kurzen Stunden, da Nicoletta noch in ihrer Nähe war.
Übrigens war Nicolettas unvernünftig-eigensinniger Flirt mit Theophil nicht der einzige Umstand, der Barbara versonnen stimmte. Wenn sie nachts allein in ihrem Bett lag – und sie lag allein – lauschte sie in ihr Inneres, um zu erfahren, ob Hendriks wunderliches und ein wenig blamables Verhalten – das man wohl auch ein Versagen nennen konnte – sie erleichterte oder enttäuschte. Ja, es erleichterte sie, und es enttäuschte sie doch auch …
Die Zimmer Barbaras und Hendriks hatten eine Verbindungstür. Zu später Stunde pflegte Höfgen noch bei seiner Gattin einzutreten, dekorativ gehüllt in seinen schadhaft-prunkvollen Schlafrock. Den Kopf im Nacken, über dem schillernd-schielenden Blick halb die Lider gesenkt, eilte er durchs Zimmer und versicherte Barbara mit singender Stimme, wie froh und dankbar er sei, und daß sie stets das Zentrum seines Lebens bleiben werde. Er umarmte sie auch, aber nur flüchtig, und während er sie in den Armen hielt, ward er bleich. Er litt, er bebte, ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Scham und Zorn füllten ihm die Augen mit Tränen.
Auf dieses Fiasko war er nicht vorbereitet gewesen. Er hatte geglaubt, Barbara zu lieben – ja, er liebte sie wirklich. Hatte ihn die Freundschaft mit Prinzessin Tebab so verdorben? Ach, er konnte sich an Barbaras schönen Beinen keine grünen Schaftstiefel vorstellen … Die kläglichen und erfolglosen Umarmungen wurden ihm zur Qual. Er meinte, in Barbaras Augen, die doch nur eine stille, etwas verwunderte Frage enthielten, Hohn und Vorwurf zu lesen. Um über die grauenvolle Situation hinwegzukommen, schwatzte er, was ihm gerade einfiel; er wurde munter, von einem nervösen Lachen geschüttelt rannte er auf und ab.
»Hast du auch so scheußliche kleine Erinnerungen wie ich?« fragte er Barbara, die regungslos im Bett lag und ihn beobachtete. »Weißt du: Erinnerungen von der Art, daß einem ganz heiß und kalt wird, wenn man an sie denkt – und man muß oft an sie denken …« Er blieb, an Barbaras Bett gelehnt, stehen; mit fiebriger Hast – ein ungesund helles Rot auf den Wangen und immer wieder von Lachen geschüttelt – begann er zu erzählen.
»Ich muß elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich im Knabenchor unseres Gymnasiums mitsingen durfte. Mir machte das eine ungeheure Freude, und ich bildete mir wohl auch ein, hübscher als alle anderen singen zu können. – Nun kommt die teuflische kleine Erinnerung – paß auf, sie wird gar nicht arg klingen, wenn ich sie jetzt berichte. – Unser Knabenchor sollte, anläßlich irgendeiner Hochzeit, bei der kirchlichen Feier mitwirken. Das war eine große Sache, und wir waren alle ziemlich aufgeregt. Mich aber ritt der Teufel, ich wollte mich ganz besonders hervortun. Als unser Chor mit seinem frommen Lied einsetzte, hatte ich den abscheulichen Einfall, eine Oktave höher als alle anderen zu singen. Ich tat mir so viel zugute auf meinen Sopran, und ich dachte wohl, es würde einen reizenden Effekt machen, wenn mein schriller Ton durch das Gewölbe hallte. Ich stand ganz stolzgebläht und sang gellend – da sah mich der Musiklehrer, der den Chor dirigierte, mit einem Blick an, der eigentlich noch mehr angewidert als strafend war, und er sagte: ›Sei doch still!‹ – Verstehst du, Barbara?« rief Hendrik und legte die Hände vor sein heißes Gesicht. »Verstehst du denn, wie infernalisch das ist? So ganz trocken, ganz leise sagte er zu mir: ›Sei doch still!‹ Und ich war mir doch noch gerade vorgekommen wie ein jubilierender Erzengel …« Hendrik verstummte. Nach einer langen Pause sagte er: »Solche Erinnerungen sind wie kleine Höllen, in die wir zuweilen steigen müssen …« Mit einem mißtrauischen Gesichtsausdruck fragte er: »Du hast wohl keine Erinnerungen von dieser Art, Barbara?«
Nein, Barbara hatte solche Erinnerungen nicht. Hierüber wurde Hendrik plötzlich gereizt, beinah zornig. »Das ist es eben!« rief er gehässig, und in seinen Augen gab es ein böses Leuchten. »Das ist es eben: du hast dich in deinem Leben nie richtig schämen müssen … Mir ist das oft widerfahren, damals war es nur ein erstes Mal. Ich muß mich häufig so entsetzlich stark schämen – mich so in die Hölle hinunter schämen … Verstehst du denn, was ich meine, Barbara? Kannst du mich denn verstehen?«