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»Es ist doch nicht zu schildern …«

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Hendrik Höfgen litt, wenn er im H.K. die Berliner Zeitungen las; sein Herz zog sich zusammen und schmerzte vor Neid und Eifersucht. Triumphaler Erfolg der Martin! Neuinszenierung des »Hamlet« am Staatstheater, sensationelle literarische Premiere am Schiffbauerdamm … Und er saß in der Provinz! Die Hauptstadt kam ohne ihn aus! Die Filmgesellschaften, die großen Theater – sie bedurften nicht seiner. Ihn rief man nicht. Seinen Namen kannte man nicht in Berlin. Wurde er einmal erwähnt, von dem Hamburger Korrespondenten eines Berliner Blattes, dann war er gewiß falsch geschrieben: »In der Rolle des unheimlichen Intriganten fiel ein Herr Henrik Höpfgen auf …« Ein Herr Henrik Höpfgen! Ihm sank die Stirn nach vorn. Die Sucht nach dem Ruhm – dem großen, eigentlichen Ruhm, dem Ruhm in der Kapitale – nagte an ihm wie ein physischer Schmerz. Hendrik griff sich an die Wange, als hätte er Zahnweh.

»Erster zu sein in Hamburg – das ist schon was Rechtes!« beklagte er sich bei Frau von Herzfeld, die sich nach dem Grund seines üblen Aussehens teilnahmsvoll erkundigt hatte und nun versuchte, ihn zu beruhigen mittels kluger Schmeicheleien. »Liebling eines provinziellen Publikums zu sein – ich bedanke mich schön. Lieber fange ich in Berlin noch mal von vorne an, als daß ich diesen kleinstädtischen Betrieb hier länger mitmache.«

Frau von Herzfeld erschrak. »Sie wollen doch nicht wirklich weg von hier, Hendrik?« Dabei öffnete sie klagend die goldbraunen, sanften Augen, und über die große Fläche ihres weichen, flaumig gepuderten Gesichtes lief ein Zucken.

»Es ist alles ganz unentschieden.« Hendrik blickte streng an Frau von Herzfeld vorbei und rückte enerviert die Schulter. »Zunächst gastiere ich einmal in Wien.« Er sagte es nachlässig, als erwähnte er eine Tatsache, welche Hedda längst bekannt sein mußte. Indessen hatte sie – so wenig wie irgend jemand sonst im Theater: so wenig wie Kroge, Ulrichs oder selbst Barbara – eine Ahnung davon gehabt, daß Hendrik in Wien gastieren wollte.

»Der Professor hat mich aufgefordert«, sagte er und putzte sein Monokel mit dem Seidentuch. »Eine ganz nette Rolle. Eigentlich wollte ich ablehnen, wegen der schlechten Saison: wer ist schon in Wien, jetzt im Juni? Aber schließlich habe ich mich doch entschlossen, anzunehmen. Man weiß ja nie, was für Folgen so ein Gastspiel beim Professor haben kann … Übrigens wird die Martin meine Partnerin sein«, bemerkte er noch, während er sich das Monokel wieder vors Auge klemmte.

»Der Professor« war jener Regisseur und Theaterleiter von legendärem Ruhm und ungeheurem internationalen Ansehen, der mehrere Theater in Berlin und Wien beherrschte. Wirklich hatte sein Sekretariat dem Schauspieler Höfgen eine mittlere Rolle in der Altwiener Posse angeboten, die der Professor während der Sommermonate mit Dora Martin in einem seiner Wiener Häuser spielen lassen wollte. Jedoch war diese Einladung keineswegs von selbst und ungefähr zustande gekommen; vielmehr hatte Höfgen einen Protektor gefunden, und zwar in der Person des Dramatikers Theophil Marder. Dieser war zwar mit dem Professor, wie mit aller Welt, bitterböse; der berühmte Regisseur aber bewahrte dem Satiriker, dessen Stücke er früher mit erheblichem Erfolg herausgebracht hatte, ein Wohlwollen, in dem Ironie und Respekt sich vermischten. Es geschah zuweilen, daß Marder den Theaterdirektionen in gereiztem und drohendem Ton eine junge Dame anpries, für die er sich interessierte; beinah nie aber kam es vor, daß er sich für einen Mann verwendete. Deshalb blieben die empfehlenden Worte, die er für Höfgen fand, nicht ohne Eindruck auf den Professor, wenngleich sie auch Beleidigungen gegen ihn selber enthielten. »Vom Theater verstehen Sie beinah ebensowenig wie von der Literatur«, schrieb Theophil dem Allmächtigen. »Ich prophezeie Ihnen, daß Sie als der Direktor eines Flohzirkus in Argentinien enden werden – denken Sie an mich, Herr Doktor, wenn es soweit ist. Das märchenhafte Glück indessen, welches ich mit meinem mir total hörigen jungen Weibe zu durchleben im Begriff bin, stimmt mich milde, sogar Ihnen gegenüber, der Sie meine genialen Stücke seit Jahren aus Niedertracht und Dummheit boykottieren. Sie wissen, daß in diesen erbärmlichen Läuften nur mir der untrügliche Blick für die echte künstlerische Qualität geblieben ist. Meine Großmut ist gesonnen, das kümmerliche Ensemble Ihrer – wie es sich gehört – schlecht gehenden Vergnügungsetablissements um eine Persönlichkeit zu bereichern, der ein originelles Gepräge nicht abzusprechen ist. Der Schauspieler Hendrik Höfgen machte sich in Hamburg verdient um meine klassische Komödie ›Knorke‹. Ohne Frage ist Herr Höfgen mehr wert als all Ihre übrigen Komödianten – wozu freilich wenig gehört.«

Der Professor lachte; wurde dann, einige Minuten lang, nachdenklich; spielte mit der Zunge in seinen Backen; klingelte schließlich und befahl seiner Sekretärin, sich mit Höfgen in Verbindung zu setzen. »Man kann es ja mal versuchen«, sagte der Professor langsam und knarrend.

Niemandem, auch Barbara nicht, gestand Hendrik, daß er des Professors ehrenvolles Angebot Theophil zu verdanken habe; niemand wußte, daß er mit dem Gatten Nicolettas in Beziehung stand. Hendrik behandelte die Angelegenheit seines Wiener Gastspiels – das er doch mit so viel Energie und List arrangiert und vorbereitet hatte – mit einer blasierten Nachlässigkeit. »Ich muß geschwind mal nach Wien reisen, beim Professor gastieren«, erklärte er nebenbei; lächelte aasig und bestellte sich beim besten Schneider einen Sommeranzug: Da er schon so viele Schulden hatte – bei Frau Konsul Mönkeberg, bei Väterchen Hansemann, beim Kolonialwaren- und beim Weinhändler – kam es auf vierhundert Mark mehr oder weniger nicht mehr an.

Hendrik hinterließ, bei seiner plötzlichen Abreise, manche bestürzten Gesichter in der guten Stadt Hamburg, wo sein Charme ihm so viele Herzen erobert hatte. Vielleicht bestürzter noch als die Damen Siebert und Herzfeld war der Direktor Schmitz: denn Höfgen hatte sich, unter allerlei koketten Ausflüchten, geweigert, seinen Vertrag mit dem Künstlertheater um die nächste Spielzeit zu verlängern. Schmitzens rosiges Gesicht wurde gelblich und zeigte plötzlich dicke Säcke unter den Augen, da Hendrik, so grausam wie gefallsüchtig, hartnäckig wiederholte: »Ich kann mich nicht binden, Väterchen Schmitz … Es ist mir ekelhaft, mich zu binden, meine Nerven vertragen es nicht … Vielleicht komme ich wieder, vielleicht auch nicht … Ich weiß es doch selber nicht. Väterchen Schmitz … Ich muß frei sein, verstehen Sie es doch bitte

Hendrik reiste nach Wien; Barbara fuhr inzwischen zu ihrem Vater und zur Generalin aufs Gut. Höfgen hatte es verstanden, aus dem Abschied von seiner jungen Frau eine schöne, wirkungsvolle Szene zu machen. »Wir werden uns im Herbst wiedersehen, mein Liebling«, sprach er und stand in einer Haltung, die zugleich Stolz und Demut ausdrückte, gesenkten Hauptes vor Barbara. »Wir werden uns wiedersehen, und dann bin ich vielleicht schon ein anderer als heute. Ich muß mich durchsetzen, ich muß … Und du weißt ja, mein Liebling, für wen ich ehrgeizig bin; du weißt es ja, vor wem ich mich bewähren möchte …« Seine Stimme, die sowohl sieghafte als auch klagende Töne hatte, verklang. Hendrik neigte sein ergriffenes, fahles Gesicht über Barbaras bräunliche Hand.

War diese Szene nur Komödie gewesen, oder hatte sie auch Echtes enthalten? Barbara sann darüber nach: auf den Spazierritten am Morgen, und nachmittags im Garten, wenn ihr das schwere Buch auf die Knie sank. Wo begann bei diesem Menschen das Falsche, und wo hörte es auf? So grübelte Barbara, und sie sprach darüber mit ihrem Vater, mit der Generalin, mit ihrem klugen und ergebenen Freund Sebastian. »Ich glaube ihn zu kennen«, sagte Sebastian. »Er lügt immer, und er lügt nie. Seine Falschheit ist seine Echtheit – es klingt kompliziert, aber es ist völlig einfach. Er glaubt alles, und er glaubt nichts. Er ist ein Schauspieler. Aber du bist noch nicht fertig mit ihm. Er beschäftigt dich noch. Noch immer bist du neugierig auf ihn. Du mußt noch bei ihm bleiben, Barbara.«

Das Wiener Publikum war begeistert von Dora Martin, die in der berühmten Posse abwechselnd als zartes Mädchen und als Schusterbub auf die Bühne kam. Sie verführte mit den rätselhaften, weit geöffneten Kinderaugen; mit den girrenden und heiseren Tönen ihrer Stimme. Sie zerdehnte eigensinnig die Vokale, steckte den Kopf zwischen die Schultern und bewegte sich auf eine Art, die zugleich zauberhaft schwerelos und befangen schien: halb einem eckig-mageren dreizehnjährigen Jungen ähnlich, halb einer lieblich scheuen Elfe, sprang und flatterte, schwebte und schlenderte sie über die Szene. Ihr Erfolg war so groß, daß kein anderer neben ihr aufkommen konnte. Die Zeitungskritiken – lange Hymnen auf ihr Genie – erwähnten ihre Partner nur flüchtig. Hendrik aber, der einen geckenhaft grotesken Kavalier zu geben hatte, wurde sogar getadelt. Man warf ihm Übertreibungen und Manieriertheit vor.

»Sie sind reingefallen, mein Lieber!« girrte die Martin und winkte ihm tückisch mit den Zeitungsausschnitten. »Das ist ein richtiger Mißerfolg. Und was das Schlimmste ist: Sie werden überall Henrik genannt – das ärgert Sie doch besonders. Tut mir so leid!« Sie versuchte, ein betrübtes Gesicht zu machen; aber ihre schönen Augen lächelten unter der hohen Stirn, die sie in ernste Falten legte. »Tut mir so leid, wirklich. Aber Sie sind ja auch miserabel in der Rolle«, sagte sie beinah zärtlich. »Vor lauter Nervosität zappeln Sie auf der Bühne wie ein Harlekin – tut mir ja so furchtbar leid. Natürlich merke ich trotzdem, daß Sie enorm viel Talent haben. Ich werde dem Professor sagen, daß er Sie in Berlin spielen lassen muß.«

Schon am nächsten Tage wurde Höfgen zum Professor befohlen. Der große Mann betrachtete ihn aus seinen nahe beieinanderliegenden, versonnenen und dabei scharfen Augen; ließ die Zunge in den Backen spielen; machte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, große Schritte durchs Zimmer; brachte ein paar knarrende Laute hervor, die etwa wie: »Na – aha – das ist also dieser Höfgen …« klangen, und sagte schließlich – wobei er, den Kopf gesenkt, in napoleonischer Haltung vor seinem Schreibtisch stehenblieb: »Sie haben Freunde, Herr Höfgen. Einige Leute, die etwas vom Theater verstehen, weisen mich auf Sie hin. Dieser Marder zum Beispiel …« Dabei hatte er ein kurzes, knarrendes Lachen. »Ja, dieser Marder«, wiederholte er, schon wieder ernst; um dann, mit respektvoll hochgezogenen Brauen, hinzuzufügen: »Auch Ihr Herr Schwiegervater, der Geheimrat, hat mir von Ihnen gesprochen, als ich ihn neulich beim Kultusminister getroffen habe. Und nun auch noch Dora Martin …«

Der Professor versank wieder in Schweigen, das er einige Minuten lang nur ab und zu durch einen knarrenden Laut unterbrach. Höfgen wurde abwechselnd bleich und rot; das Lächeln auf seiner Miene verzerrte sich. Der nachdenkliche und kalte, zugleich verhangene und durchdringende Blick dieses fleischigen, untersetzten Herrn war nicht leicht zu ertragen. Hendrik begriff plötzlich, warum der Professor, der so gewaltig zu schauen verstand, von seinen Verehrern »der Magier« genannt wurde.

Schließlich unterbrach Höfgen das peinlich-stumme Examen, indem er mit seiner singenden Schmeichelstimme bemerkte: »Im Leben bin ich unscheinbar, Herr Professor. Aber auf der Bühne …« Hier richtete er sich auf, breitete überraschend die Arme und ließ die Stimme im Metallton leuchten. »Auf der Bühne kann ich ganz drollig wirken.« Diese Worte begleitete er mit dem aasigen Lächeln. Nicht ohne Feierlichkeit fügte er hinzu: »Für diese Wandlungsfähigkeit hat mein Schwiegervater einmal sehr hübsch charakterisierende Worte gefunden.«

Bei der Erwähnung des alten Bruckner zog der Professor respektvoll die Brauen hoch. Aber seine Stimme klang kalt, als er nach mehreren Sekunden bedeutungsvollen Schweigens sagte: »Na – man könnte es ja mal mit Ihnen versuchen …« Höfgen war freudig aufgefahren; der Professor winkte ernüchternd ab. »Erwarten Sie sich nicht zuviel«, sagte er ernst und prüfte Hendrik immer noch kalt mit den Augen. »Es ist kein großes Engagement, was ich Ihnen anbieten will. – In der Rolle, die Sie hier spielen, wirken Sie gar nicht drollig, sondern ziemlich miserabel.« Hendrik zuckte zusammen; der Professor lächelte ihm freundlich zu. »Ziemlich miserabel«, wiederholte er grausam. »Aber das schadet ja nichts. Man kann es trotzdem versuchen. Was die Gage betrifft …« Hier wurde des Professors Lächeln beinahe schelmisch, und seine Zunge spielte besonders eifrig im Munde. »Wahrscheinlich sind Sie, von Hamburg her, ein relativ anständiges Einkommen gewohnt. Sie werden sich bei uns zunächst mit weniger zufriedengeben müssen. – Sind Sie anspruchsvoll?« Der Professor erkundigte sich in einem Ton, als geschähe es nur aus theoretischem Interesse. Hendrik beeilte sich, zu versichern: »Mir liegt gar nichts am Geld. – Wirklich nicht«, sagte er mit der glaubwürdigsten Betonung; denn er sah den Professor eine skeptische Grimasse schneiden. »Ich bin nicht verwöhnt. Was ich brauche, das ist ein frisches Hemd und eine Flasche Eau de Cologne auf dem Nachttisch.« Der Professor lachte noch einmal kurz. Dann sagte er: »Die Details können Sie mit Katz besprechen. Ich werde ihn instruieren.«

Die Audienz war beendet, Höfgen wurde mit einer Handbewegung entlassen. »Grüßen Sie bitte Ihren Herrn Schwiegervater von mir«, sagte der Professor, während er schon wieder, die Hände auf dem Rücken verschränkt, klein und gedrungen, in napoleonischer Haltung über den dicken Teppich seines Zimmers schritt.

Herr Katz war der Generalsekretär des Professors; er leitete alles Geschäftliche in den Theatern des Meisters, sprach schon ebenso knarrend wie dieser und spielte wie dieser mit der Zunge in seinen Backen. Die Unterredung zwischen ihm und dem Schauspieler Höfgen fand noch im Lauf desselben Tages statt. Hendrik akzeptierte anstandslos einen Vertrag, den er dem Direktor Schmitz um die Ohren geschlagen haben würde: denn er war miserabel. Siebenhundert Mark Monatsgage – wovon noch die Steuern abgingen – und bestimmte Rollen waren ihm nicht garantiert. Mußte er sich dergleichen bieten lassen? Er mußte wohl, da er nach Berlin wollte und in Berlin unbekannt war. Noch einmal Anfänger sein! Es war nicht leicht und mußte ausgehalten werden. Opfer waren zu bringen, wenn man unbedingt nach oben wollte.

Hendrik schickte einen großen Strauß gelber Rosen an Dora Martin; den schönen Blumen – die er vom Hotelportier hatte bezahlen lassen – legte er einen Zettel bei, auf den er in großen, pathetisch eckigen Buchstaben das Wort »Danke« schrieb. Gleichzeitig verfaßte er einen Brief an die Direktoren Schmitz und Kroge: kurz und trocken setzte er den beiden Männern, denen er so vieles schuldig war, auseinander, daß er, zu seinem Bedauern, den Vertrag mit dem Künstlertheater nicht erneuern könne, da der Professor ihm ein glänzendes Angebot gemacht habe. Während er den Brief ins Kuvert steckte, stellte er sich einige Sekunden lang die bestürzten Mienen in dem Hamburger Büro vor. Beim Gedanken an den tränenfeuchten Blick der Frau von Herzfeld mußte er kichern. In sehr animierter Stimmung fuhr er ins Theater.

Er ließ sich in Dora Martins Garderobe melden, aber die Kammerfrau bedeutete ihm, daß ihre Herrin die Visite des Professors habe.

»Ich habe Ihnen also diesen sonderbaren Gefallen getan«, sagte der Professor und schaute sinnend auf Dora Martins Schultern, deren Magerkeit der Frisiermantel bedeckte. »Dieser Bursche ist engagiert – dieser – wie heißt er noch?«

»Höfgen«, lachte die Martin, »Hendrik Höfgen. Sie werden sich den Namen schon noch merken, mein Lieber.«

Der Professor zuckte hochmütig die Achseln, spielte mit der Zunge in den Backen und brachte knarrende Laute hervor. »Er gefällt mir nicht«, sagte er schließlich. »Ein Komödiant.«

»Seit wann haben Sie etwas gegen Komödianten?« Die Martin zeigte lächelnd ihre Zähne.

»Nur gegen schlechte Komödianten habe ich etwas.«

Der Professor schien ärgerlich. »Gegen Provinzkomödianten«, sagte er böse.

Die Martin war plötzlich ernst geworden; ihr Blick verdunkelte sich unter der hohen Stirn. »Er interessiert mich«, sagte sie leise. »Er ist ganz gewissenlos« – sie lächelte zärtlich – »ein ganz schlechter Mensch.« Sie dehnte sich, beinah wollüstig; dabei ließ sie das kindliche, gescheite Haupt in den Nacken sinken. »Wir könnten Überraschungen mit ihm erleben«, sagte sie schwärmerisch zur Decke hinauf.

Einige Sekunden später erhob sie sich hastig und scheuchte den Professor mit flatternden kleinen Gebärden zur Tür. »Es ist höchste Zeit!« machte sie lachend. »Hinaus! Schnell hinaus mit Ihnen! Ich muß mir meine Perücke aufsetzen.«

Der Professor, schon zum Ausgang gedrängt, fragte noch: »Darf man denn das nicht sehen – wie Sie Ihre Perücke aufsetzen? Nicht einmal das?!« fragte er und bekam gierige Augen.

»Nein, nein – ausgeschlossen!« Die Martin schüttelte sich vor Entsetzen. »Das kommt gar nicht in Frage! Mein Frisiermantel könnte mir von den Schultern rutschen …« Dabei hüllte sie sich enger in das bunte Tuch.

Die Stimme des Professors klang sehr gepreßt, als er »Schade!« sagte. Während der berühmte Hexenmeister – den fast alle Frauen seiner Umgebung durch ein gar zu eifriges Entgegenkommen langweilten – die Garderobe verließ, hatte er ein Gefühl, als würde sich Dora Martin, kaum allein gelassen, hinter seinem Rücken in eine Nixe verwandeln, in einen Kobold oder in ein anderes Geschöpf, welches so fremdartig war, daß niemand auch nur seinen Namen wußte. Die raffinierte und wunderliche Keuschheit der großen Schauspielerin hatte den Professor so nachdenklich gestimmt, daß er den kostümierten Gesellen zunächst gar nicht erkannte, der lächelnd einen bunten Federhut vor ihm zog. Erst nachträglich fiel ihm ein, daß es »dieser Höfgen« gewesen war, der ihn da mit einer so devoten Koketterie begrüßt hatte.

Die neue, überraschende Situation verjüngt Hendrik Höfgen. Hinter ihm liegt der provinzielle Ruhm, der bequem gemacht hat. Er ist wieder Anfänger, muß sich noch einmal bewähren. Um hinauf zu kommen – diesmal ganz hinauf – muß er alle seine Kräfte anspannen. Mit Genugtuung darf er feststellen: sie sind unverbraucht, seine Kräfte; sie sind einsatzbereit. Sein Körper strafft sich, beinah gänzlich ist das Fett verschwunden; die Bewegungen sind tänzerisch und kampfeslustig zugleich. Wer so zu lächeln versteht, wer so die Augen schillern lassen kann, der muß Erfolg haben. Schon enthält seine Stimme Jubel über Triumphe, die in Wirklichkeit noch gar nicht eingetroffen sind, jedoch nicht lange auf sich warten lassen können.

Mit einem sinnenden Interesse, in dem sich eine echte Anteilnahme mit einer kühlen und fremden Neugierde mischt, beobachtet Barbara diesen neuen Elan ihres Gatten. Halb spöttisch, halb bewundernd sieht sie Hendrik zu, der im wehenden Ledermantel und auf beschwingten Sandalen sich immer unterwegs, stets in Aktion und in der Nähe großer Entscheidungen zu befinden scheint. Barbara ist zu Hendrik zurückgekehrt, wie es ihr von ihrem Freund Sebastian prophezeit worden ist. Sie bereut es nicht. Der verwandelte, höchst gespannte Hendrik, mit dem sie nun zwei billige möblierte Zimmer bewohnt, gefällt ihr besser als der provinzielle Liebling, der schon Fett ansetzte, im H.K. Cercle hielt und in der gemütlichen Wohnung der Frau Konsul Mönkeberg den bürgerlichen Ehemann zu spielen versuchte. Barbara fühlt sich gar nicht so schlecht in den beiden finsteren Stuben, die sie jetzt mit ihrem Hendrik teilt. Sie liebt es, sich abends, nach der Vorstellung, mit ihm in einem trüben kleinen Café zu treffen, wo ein elektrisches Klavier durch das Halbdunkel klagt, wo die Kuchen aussehen wie aus Leim und Pappe und wo es keine Bekannten gibt.

Es fasziniert Barbara, Hendriks bebenden, gehetzten Berichten über den Fortgang seiner Karriere zu lauschen. In solchen Augenblicken weiß sie: er ist echt. Sein fahles Gesicht scheint in der von fragwürdigen Gerüchen satten Dämmerung der schäbigen Konditorei zu phosphoreszieren wie faules Holz in der Nacht. Der gierige Mund mit den starken, schön geschwungenen Lippen lächelt und spricht. Das kraftvolle Kinn, mit der markanten tiefen Kerbe in der Mitte, ist herrschsüchtig vorgeschoben. Vor dem Auge blitzt das Monokel. Die breiten, rötlich behaarten Hände, die durch eine geheimnisvolle Willensleistung schön erscheinen, spielen erregt mit dem Tischtuch, mit den Streichhölzern, mit allem, was in ihre Nähe kommt.

Voll fieberhaftem Eifer setzt Hendrik seine Hoffnungen, Pläne, Berechnungen auseinander; daß Barbara an ihnen Anteil nimmt, sich ihnen nicht mehr hochmutsvoll verschließt, steigert sein Lebensgefühl, erhöht seinen Ehrgeiz. Ja, Barbara macht sich auf aktive Weise verdient um seine Laufbahn. Nicht umsonst hat sie ein so durchtriebenes Madonnengesicht. Sie ist schlau, zieht ihr schwarzes Seidenkleid an und besucht den Professor, dem sie Grüße von ihrem Vater, dem Geheimrat, bringt. Der große Herr über alle Theater am Kurfürstendamm empfängt die Gattin seines jungen Schauspielers gnädig, weil sie die Tochter des Geheimrats ist, dessen Namen man so oft in den Zeitungen liest und den er neulich beim Minister getroffen hat. Das Palais des Professors könnte das eines regierenden Fürsten sein. Wohlgefällig schaut der Besitzer all dieser Barockmöbel, Gobelins und alten Meisterbilder auf die bräunlichen Arme und auf das pfiffig-melancholische Gesicht seiner Besucherin. »Na, und Sie sind also verheiratet mit – diesem Höfgen«, sagt er knarrend, als Abschluß der langen Musterung, wobei er besonders ausführlich mit der Zunge in den Backen spielt. »Irgend etwas muß ja wohl an ihm sein …«

Dies alles gereicht natürlich Hendrik zu großem Vorteil; mit den übrigen Machthabern an den Kurfürstendamm-Bühnen, mit Herrn Katz und mit Fräulein Bernhard, steht er ohnedies ausgezeichnet. Mit Herrn Katz, dem Leiter der Geschäfte – der längst nicht immer so napoleonisch ist, wie er manchmal wirken möchte – spielt der Schauspieler Höfgen Karten; zu Fräulein Bernhard, der einflußreichen und energischen Sekretärin – einer stämmigen, brünetten kleinen Person mit negroiden Lippen und einem Zwicker – verhält er sich fast ebenso kokett wie einst zum Direktor Schmitz. Findet man ihn nicht schon auf ihrem Schoße sitzend, wenn man unvermutet die Tür zum Büro öffnet? Jedenfalls kann man hören, daß Hendrik Höfgen, der erst seit vierzehn Tagen im Hause ist, das strenge Fräulein Bernhard »Rose« nennt. Das darf er sich leisten, so weit hat er es schon gebracht! Wie viele Schauspieler hatten bis jetzt den Vorzug, auch nur zu wissen, daß Fräulein Bernhards Vorname »Rose« ist?

Schöner Anfang für eine Berliner Karriere – flüstern die Kollegen sich zu. Seine hübsche Frau besucht den Professor, mit Katz spielt er Karten, und Fräulein Bernhard kitzelt er am Kinn. Aus dem kann was werden!

Aus dem wird etwas: es ist bald soweit.

Erst ist es nur eine kleine Rolle, in welcher man ihn bemerkt; aber man bemerkt ihn, die Zeitungen erwähnen schon den »begabten Herrn Hendrik Höfgen«, und er hat in dem russischen Stück doch nur einen betrunkenen jungen Bauern spielen dürfen, der auf die Bühne taumelt, um zunächst zu lallen, dann jedoch zu tanzen. Aber wie er lallt und, vor allem, wie er tanzt! Das Berliner Publikum ist hingerissen von dem gelehrigen Schüler der Prinzessin Tebab: es bricht in Beifall aus, da er geendigt hat. Mit welcher Besessenheit dieser Bursche die Glieder wirft! Alle Welt ist des Lobes voll über den ekstatischen Ausdruck, den man auf seiner Miene bemerkt haben will während des Tanzes. Rose Bernhard, die am Buffet Herren von der Presse und Damen aus der Gesellschaft um sich versammelt, konstatiert: »Es ist etwas Bacchantisches an diesem Menschen.«

Das Publikum, abgelenkt durch tausend Sorgen und Vergnügungen, vergißt den Namen des frenetischen Tänzers. Aber die Eingeweihten – die, auf welche es ankommt – merken sich Hendriks ersten Berliner Erfolg. Und von seinem zweiten spricht die Hauptstadt.

In einem sensationellen Stück, in einer aufsehenerregenden Inszenierung, gelingt es dem Schauspieler Höfgen, vom Interesse des Publikums und der Presse auf sich den größten Teil zu versammeln. Über seine Leistung wird noch mehr geredet als über den Autor des erregenden Dramas »Die Schuld« – jenen geheimnisvollen Unbekannten, dessen rätselhafte Person in den Cafés und Theaterkanzleien, in den Salons und Redaktionsbüros das beliebteste Diskussionsthema ausmacht. Wer ist der Dichter, der sich hinter dem Pseudonym Richard Loser verbirgt und der in seiner Tragödie eine so erschütternde Menge von sündigem Elend, Not und Verirrung gestaltet? Wo findet man ihn, diesen Begnadeten, der uns durch ein Labyrinth tragischer und schmutziger Komplikationen führt, der soviel Entartung, verderbte Leidenschaft, soviel Qual und Jammer kennt und zeigt? Keine Frage: der Autor dieses schaurig-spannenden Dramas, das die verschiedenartigsten stilistischen Elemente – symbolische wie naturalistische – auf wirkungsvolle und kühne Art in sich vereinigt, muß ein Abseitiger sein; ein Einsamer, der sich fernhält vom Betrieb des Marktes. Die Literaten – immer von Mißtrauen erfüllt gegen ihren eigenen Beruf – schwören: Dieser ist kein Literat. Er hat keine Routine, alles an ihm ist geniale Ursprünglichkeit. Niemals hat er eine Zeile geschrieben bis zu diesem Tage. Ein junger Nervenarzt – wollen einige besonders Eingeweihte wissen, und er lebt in Spanien. Auf Briefe antwortet er nicht, die Verhandlungen mit ihm sind durch mehrere Mittelsleute zu führen: alles dies wird ungeheuer interessant gefunden, man bespricht es fieberhaft in den Kreisen, die auf sich halten.

Ein junger Nervenarzt, und er lebt in Spanien: die Version hat viel Wahrscheinlichkeit, man glaubt sie, sie setzt sich durch. Nur ein Nervenarzt kann so bewandert sein in jenen Entartungen der Menschenseele, die zu grausigen Verbrechen führen. Wie der sich auskennt! In seinem Drama kommen alle Sünden vor. Es ist eine Gesellschaft von Verfluchten, die hier handelt und leidet. Jede Person, die auftritt, scheint ein finsteres Zeichen auf der Stirn zu tragen: darüber sind die Damen aus dem Grunewald und vom Kurfürstendamm ganz entzückt.

Von allen Verkommenen der Verkommenste aber ist Hendrik Höfgen, weshalb er auch den stärksten Beifall hat. Seiner fahlen, teuflischen Miene, seiner belegten und matten Stimme ist es anzumerken, daß er mit allen Lastern vertraut ist und sogar noch finanziellen Vorteil aus ihnen zieht. Augenscheinlich ist er ein Erpresser großen Stils; aasig lächelnd bringt er junge Menschen skrupellos ins Unglück, einer von ihnen begeht Selbstmord auf offener Bühne, Hendrik, die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette im Mund, das Monokel vorm Auge, schlendert an der Leiche vorbei. Unter Schauern empfindet das Publikum: Dieser ist die Inkarnation des Bösen. Er ist so durchaus, so vollkommen böse, wie es nur ganz selten vorkommt. Manchmal scheint er selber zu erschrecken über seine absolute Schlechtigkeit; dann bekommt er ein starres, weißes Gesicht, die fischigen Edelsteinaugen haben ein trostloses Schielen, und an den empfindlichen Schläfen vertieft sich der Leidenszug.

Höfgen spielt dem wohlhabenden Publikum des Berliner Westens die äußerste Entartung vor, und er macht Sensation. Die Verworfenheit als Delikatesse für reiche Leute: damit schafft es Höfgen. Wie er es schafft! Sein zugleich müdes und gespanntes Mienenspiel wird bewundert, sehr bewundert werden seine nachlässig weichen, anmutig tückischen Gebärden. »Er bewegt sich wie eine Katze!« schwärmt Fräulein Bernhard, die sich von ihm »Rose« nennen läßt. »Eine böse Katze! Oh, wie himmlisch böse er ist!« Seine Sprechweise – ein heiseres Flüstern, aus dem zuweilen ein bezauberndes Singen wird – kopieren schon die Kollegen von den kleineren Bühnen. – »Habe ich nun nicht recht gehabt? Es ist etwas los mit ihm«, sagt Dora Martin zum Professor, der nicht länger widersprechen kann. »Naja …« bringt er knarrend hervor, bewegt die Zunge im Munde und blickt grüblerisch. Im Grunde nimmt er »diesen Höfgen« noch immer nicht ernst; so wenig ernst, wie Oskar H. Kroge es je getan hat. ›Ein Komödiant‹, denkt der Professor, wie Kroge.

Ein faszinierender Komödiant: die Kritiker finden es, die reichen Damen finden es, Fräulein Bernhard findet es, die Kollegen können es nicht mehr leugnen. Das Stück »Die Schuld« verdankt seine außergewöhnliche Zugkraft zu großen Teilen der Leistung Höfgens. Es kann hundertmal hintereinander gespielt werden, der Professor verdient schweres Geld; das Unglaubliche geschieht: er erhöht Hendriks Gage noch während der Saison, wozu kein Vertrag ihn verpflichtet – Fräulein Bernhard und Herr Katz haben dies durchgesetzt bei ihrem illustren Chef.

Vielleicht hätte das Stück selbst hundertfünfzig- oder zweihundertmal gegeben werden können; aber allmählich dringen Gerüchte über den Autor durch, die ernüchternd wirken. Er ist gar kein sonderbarer Nervenarzt in Spanien, heißt es plötzlich. Er ist kein Außenseiter, der nur mit den Abgründen der menschlichen Seele vertraut ist, unschuldig, unwissend aber in den banalen Mysterien des »Betriebs«. Er ist überhaupt kein edler Unbekannter, sondern einfach Herr Katz, über den jeder sich schon mal geärgert hat. Die Enttäuschung ist allgemein. Herr Katz, der routinierte Geschäftsmann, hat das Drama »Die Schuld« geschrieben! Plötzlich finden alle, das Stück sei nur eine Häufung von vulgären Greueln, so geschmacklos wie unbedeutend. Man fühlt sich hereingelegt und ist der Ansicht, das Ganze sei eine große Frechheit von Herrn Katz. Ist Herr Katz Dostojewski? Seit wann denn, fragt man sich gereizt in den Kreisen, die den Ton angeben. Herr Katz ist der geschäftliche Berater des Professors – was übrigens als beneidenswerte Stellung gilt. Niemand billigt ihm das Recht zu, sich als spanischen Nervenarzt auszugeben und in Abgründe zu steigen. Das Drama »Die Schuld« muß abgesetzt werden.

Eine launische Öffentlichkeit läßt Katz fallen; Höfgen aber hat sich durchgesetzt und mittels seiner erstaunlichen Bösheit definitiv alle Herzen erobert. Beim Ende seiner ersten Berliner Saison kann er zufrieden und guter Dinge sein: Man erklärt ihn allgemein als die Größe von morgen, als den aufsteigenden Stern, als die bedeutende Hoffnung. Sein Vertrag für die nächste Spielzeit, 1929/30, sieht schon ganz anders aus als der abgelaufene: die Gage ist ihm fast verdreifacht worden, der Professor mußte es knurrend und knarrend geschehen lassen, denn die Konkurrenz ist hinter Höfgen her. »Na, nun können Sie sich reichlich frische Hemden und Lavendelwasser leisten«, sagt der Professor zu seinem neuen Star. Dieser erwidert, gewinnend lächelnd: »Eau de Cologne, Herr Professor! Ich benutze nur Eau de Cologne!«

Der Sommer ist da, Hendrik gibt die zwei trüben Stuben auf, mietet sich eine helle Wohnung im Neuen Westen, am Reichskanzlerplatz, kauft sich zahlreiche Hemden, gelbe Schuhe und zartfarbene Anzüge, nimmt Unterricht in der Kunst des Chauffierens und verhandelt mit mehreren Firmen wegen des Ankaufs eines schicken Cabriolets, welches er zum Reklamepreis beansprucht. Barbara fährt zur Generalin aufs Gut. Der erfolgreiche Gatte interessiert sie weniger, als der kämpfende, der von unbefriedigtem Ehrgeiz bebende sie interessiert hat. Frau von Herzfeld kommt zu Besuch, um Hendrik bei der Einrichtung seiner neuen Wohnung zu helfen: Sie wählt Stahlmöbel aus und als Schmuck für die Wände Reproduktionen nach van Gogh und Picasso. Die Räume behalten eine Kahlheit von elegantem, anspruchsvollem Gepräge. – Hendrik genießt Frau von Herzfelds Bewunderung, nimmt ihre Liebe, die noch gewachsen zu sein scheint, entgegen wie einen wohlverdienten Tribut. Hedda hat nun auf jede ironische Maske ihm gegenüber verzichtet. Mit einer wehmütigen Gier, einer resignierten Süchtigkeit hängen ihre sanften, goldbraunen Augen an dem grausamen Angebeteten. »Die arme kleine Siebert sieht ganz blaß aus vor lauter Sehnsucht nach Ihnen«, berichtet sie und verschweigt, daß sie ihrerseits sich einmal so weit hat gehen lassen, mit Angelika zusammen zu weinen – bitterlich und lange zu weinen um den Verlorenen, den sie niemals besessen hat.

Frau von Herzfeld darf Höfgen zu den Filmateliers begleiten; denn in diesem Sommer filmt er zum ersten Mal. In dem Kriminalfilm »Haltet den Dieb!« hat er die führende Rolle des großen Unbekannten und geheimnisvollen Übeltäters, der meist mit einer schwarzen Maske vorm Gesicht erscheint. Schwarz ist alles an ihm, selbst das Hemd: die Farbe der Kleidung läßt auf die Finsternis der Seele schließen. Er wird »der Schwarze Satan« genannt und ist der Chef einer Bande, die Falschgeld fabriziert, Rauschgift schmuggelt, gelegentlich Bankeinbrüche verübt und auch schon mehrere Morde auf dem Gewissen hat. Soviel Untaten verübt der Schwarze Satan nicht nur aus Habgier oder Spaß am Abenteuer, sondern auch aus prinzipiellen Gründen. Düstere Erfahrungen, die er einst mit einem jungen Mädchen gemacht, haben ihn zu einem Feind der Menschheit werden lassen. Es ist ihm ein Herzensbedürfnis, Schaden und Unheil zu stiften, er ist Übeltäter aus Überzeugung: dieses gesteht er, kurz vor seiner Verhaftung, dem Kreis der Kumpane, die sich wundern und fürchten; denn sie ihrerseits haben aus weniger komplizierten Gründen gestohlen. Sie murmeln ehrfurchtsvoll und betroffen, da sie erfahren, wie seltsam es um ihren Chef, den Schwarzen Satan, steht, und daß er keineswegs immer Verbrecher, vielmehr Husarenoffizier gewesen ist. Im Verlaufe dieser dramatischen Szene nimmt der Bösewicht seine Maske ab: sein Gesicht, zwischen dem steifen schwarzen Hut und dem hochgeschlossenen dunklen Hemd, ist von schauriger Blässe, übrigens immer noch aristokratisch bei aller Verkommenheit, und nicht ohne tragischen Zug.

Die maßgebenden Herren der großen Filmgesellschaft sind höchst beeindruckt von dieser grausamen und leidvollen Miene. Höfgen bringt Überraschungen, er ist eigenartig und wird gute Kassen machen, sowohl in der Hauptstadt als auch in der Provinz; so sagen sich die maßgebenden Herren, und die Angebote, die Hendrik von ihnen empfängt, übertreffen alle seine Hoffnungen. Er muß sie teilweise ablehnen; sein Vertrag mit dem Professor bindet ihn. Da er sich rar macht, werden die Filmgewaltigen erst recht wild auf ihn. Sie setzen sich mit Herrn Katz und Fräulein Bernhard in Verbindung und bieten erhebliche Abstandssummen, wenn man ihnen den Schauspieler Höfgen für einige Wochen in der Saison überläßt. Es wird viel telefoniert, korrespondiert und verhandelt. Bernhard und Katz sind anspruchsvoll; selbst für schweres Geld wollen sie nicht auf ihren Liebling verzichten. Höfgen ist der Umworbene. Alle wollen ihn haben. Er sitzt in seiner kahlen und feinen Wohnung mit den Stahlmöbeln, lächelt aasig und glossiert mit spöttisch überlegenen Worten den Kampf zwischen Bühne und Film um seine kostbare Person.

Dieses ist die Karriere! Der große Traum verwandelt sich in Wirklichkeit. Man muß nur innig genug träumen können – denkt Hendrik – und aus dem kühnen Wunschbild wird die Realität. Ach, sie ist herrlicher, als man es jemals zu träumen gewagt! In jeder Zeitung, die er aufmacht, findet er nun seinen Namen – die erfahrene Bernhard sorgt für solche Publizität – und jetzt wird er immer richtig geschrieben, in schon beinah ebenso fetten Lettern wie die Namen jener altbewährten Stars, deren Ruhm man einst, in der Kantine des Provinztheaters, neidisch verfolgt hat. Auf der Titelseite bringt eine wichtige Illustrierte Hendriks Bild. Was für ein Gesicht wird Kroge machen, wenn er es sieht! Und Frau Konsul Mönkeberg! Und der Geheimrat Bruckner! Alle, die sich Höfgen gegenüber skeptisch und ein wenig hochmütig verhalten haben, werden ehrfurchtsvoll zusammenschauern angesichts seiner Karriere, die nun in schwindelerregend steiler Kurve nach oben führt.

Am Ende der Spielzeit 1929/30 steht Hendrik Höfgen unvergleichlich größer da als an ihrem Beginn. Alles ist ihm geglückt, aus jedem Unternehmen wurde der Triumph. In den Theatern des Professors hat er schon beinahe mehr zu sagen als der Chef selber – der sich übrigens selten in Berlin aufhält, sondern meist in London, Hollywood oder Wien. Höfgen beherrscht Herrn Katz und die Dame Bernhard; längst kann er es sich leisten, mit beiden ebenso ungeniert umzuspringen, wie er mit Schmitz und Frau von Herzfeld umzuspringen pflegte. Höfgen bestimmt, welche Stücke angenommen, welche abgelehnt werden, und mit der Bernhard zusammen teilt er den Schauspielern ihre Rollen zu. Die Dichter, die aufgeführt werden wollen, umschmeicheln ihn; die Schauspieler, die auftreten wollen, umschmeicheln ihn; die Gesellschaft – oder der Klüngel von reichen Snobs, der sich so nennt – umschmeichelt ihn: denn er ist der Mann des Tages.

Alles ist wieder, wie es in Hamburg war, nur in größerem Stil, nur in anderen Dimensionen. Sechzehn Stunden Arbeit am Tag, und dazwischen interessante Nervenkrisen. In dem eleganten Nachtlokal »Zum Wilden Reiter«, wo Hendrik zuweilen von ein Uhr bis drei Uhr morgens Bewunderer um sich versammelt, sinkt er, das Cocktailglas in der Hand, seufzend vom hohen Barstuhl: Es ist eine kleine Ohnmacht, nichts Schlimmes, aber doch schlimm genug, um alle anwesenden Damen kreischen zu lassen; Fräulein Bernhard ist mit stärkenden Wohlgerüchen zur Hand – immer ist eine ergebene Frauensperson in der Nähe, wenn der Schauspieler Höfgen seine Zustände hat. Er gönnt sie sich nun wieder recht häufig, die hysterischen kleinen Zusammenbrüche, die sich vom sanften Schüttelfrost oder der stillen Ohnmacht bis zum Schreikrampf mit konvulsivischen Zuckungen steigern können – und sie bekommen ihm gut: erfrischt wie aus heilsamen Bädern geht er aus ihnen hervor, voll neuer Kraft für seine anspruchsvolle, angreifende und genußreiche Existenz.

Übrigens muß er seltener zu den erholsamen Krisen seine Zuflucht nehmen, seitdem er die Prinzessin Tebab wieder in der Nähe hat. Während des ersten Berliner Winters ließ er die drohenden Briefe der schwarzen Königstochter, die in einem wunderlichen, von orthographischen Fehlern wimmelnden Stil abgefaßt waren, unbeantwortet. Nun aber hat Barbara sich beinah ganz von ihm zurückgezogen: sie erträgt den Betrieb um ihren smarten Gatten nicht; immer seltener kommt sie nach Berlin, ihr Zimmer in dem feinen Appartement am Reichskanzlerplatz bleibt meistens unbewohnt; sie zieht die stilleren Räume im Hause des Geheimrats oder in der Villa der Generalin vor. Da entschließt sich Hendrik, seiner Juliette das Reisegeld zu schicken – das Leben ohne sie entbehrt der Würze, die grimmig blickenden Damen, die mit ihren hohen Stiefeln über die Tauentzienstraße stolzieren, sind kein Ersatz. Prinzessin Tebab läßt sich nicht lange bitten. Sie trifft ein.

Hendrik mietet ihr ein Zimmer in entlegener Gegend, wo er ihr wöchentlich mindestens einmal Visite macht; wie ein Verbrecher an den Ort seiner Übeltat – den Schal bis über das Kinn gewickelt und den Hut tief in die Stirne gedrückt – schleicht er sich zu seiner Geliebten. »Wenn mich irgend jemand ertappen würde – in diesem Aufzug!« flüstert er, während er ins Trainingshöschen schlüpft. »Ich wäre verloren! Alles wäre aus!«

Prinzessin Tebab amüsiert sich über seine schlotternde Angst; sie lacht rauh und herzlich. Aus Vergnügen daran, ihn zittern zu sehen, und auch, um noch mehr Geld aus ihm herauszukriegen, verheißt sie ihm zum hundertsten Male, sie werde ins Theater kommen und wie eine wilde Katze schreien, wenn er die Bühne betritt. »Paß nur auf, Bubi!« neckt sie ihn grausam. »Einmal tu ich es wirklich – zum Beispiel bei der großen Premiere nächste Woche. Ich ziehe mir mein buntes Seidenkleid an und setze mich in die erste Reihe. Das gibt einen Skandal!« Animiert reibt sich das dunkle Fräulein die Hände. Dann verlangt sie hundertfünfzig Mark von ihm, ehe er den neuen Tanzschritt üben darf. Mit seinem Aufstieg ist auch sie anspruchsvoller geworden. Nun benutzt sie kostspielige Parfüms, kauft sich in erheblichen Mengen bunte Seidentücher, klirrende Armbänder und kandierte Früchte, die sie aus großen Tüten mit ihren rauhen und gewandten Fingern zu naschen liebt. Wenn sie grinsend kaut und sich dazwischen behaglich am Hinterkopf kratzt, sieht sie einem großen Affen zum Verwechseln ähnlich.

Hendrik muß zahlen, und er zahlt gerne. Es bereitet ihm Lust, auf so plumpe Art ausgenutzt zu werden von der Schwarzen Venus. »Denn ich liebe dich wie am ersten Tag!« sagt er ihr. »Ich liebe dich sogar mehr als am ersten Tage. Wenn du weg bist, begreife ich erst ganz, was du mir bedeutest. Die strengen Damen von der Tauentzienstraße sind unerträglich langweilig.«

»Und deine Frau?« erkundigt sich das Urwaldmädchen mit einem grollenden Kichern. »Und deine Barbara?«

»Ach die …«, macht Hendrik, sowohl kummervoll als verächtlich, und wendet das fahle Gesicht dem Schatten zu.

Barbara kommt immer seltener nach Berlin; auch der Geheimrat zeigt sich beinah nie mehr in der Hauptstadt, wo er früher, mehrmals im Winter, Vorträge zu halten und an der repräsentativen Geselligkeit teilzunehmen pflegte. Der Geheimrat sagt: »Ich bin nicht mehr gern in Berlin. Ja, ich fange an, mich vor Berlin zu fürchten. Es bereiten sich hier Dinge vor, die mich entsetzen – und das schaurigste ist, daß die Menschen, mit denen ich Umgang habe, die Gefahren nicht zu bemerken scheinen. Man ist geschlagen mit Blindheit. Man amüsiert sich, streitet sich, nimmt sich ernst; inzwischen verfinstert sich der Himmel, aber man hat keinen Blick für das Ungewitter, das näher kommt – das schon beinahe da ist. Nein, ich bin nicht mehr gern in Berlin. Vielleicht meide ich es, um es nicht verachten zu müssen …«

Er kommt doch noch einmal; aber nicht mehr, um an repräsentativer Geselligkeit teilzunehmen oder in der Universität zu dozieren; vielmehr um eine große kulturpolitische und tagespolitische Rede zu halten. Die Rede trägt den Titel: »Die drohende Barbarei«; mit ihr will der Geheimrat den geistigen Teil des Bürgertums noch einmal – zum letzten Mal – warnen vor dem, was heraufkommt und was Verfinsterung und Rückschlag bedeutet, während es sich selber frech »Erwachen« und »nationale Revolution« zu nennen wagt.

Der alte Herr spricht anderthalb Stunden lang vor einem Publikum, welches tobt – teils vor Beifall, teils zum Widerspruch.

Während seines letzten Aufenthalts in der Kapitale hat der bürgerliche Gelehrte, der durch seinen Besuch in der Sowjetunion der Rechten verhaßt und den Demokraten schon ein wenig verdächtig ist, Besprechungen mit vielen seiner Freunde, mit Politikern, Schriftstellern, Professoren. All diese Unterredungen endigen mit der heftigsten Meinungsverschiedenheit. Die Freunde erkundigen sich, nicht ohne Hohn: »Wo bleibt Ihre geistige Toleranz, Herr Geheimrat? Wohin sind Ihre demokratischen Prinzipien? Wir erkennen Sie gar nicht wieder. Sie sprechen ja wie ein radikaler Tagespolitiker, nicht mehr wie ein kultivierter, überlegener Mensch. Alle kultivierten Menschen sollten sich darin einig sein, daß es diesen Nationalsozialisten gegenüber nur eine Methode gibt: die erzieherische. Wir müssen alles daransetzen, diese Menschen zu zähmen, mittels der Demokratie. Wir müssen sie gewinnen, anstatt sie zu bekämpfen. Wir müssen diese jungen Menschen überreden zur Republik. – Und übrigens«, fügen die sozialdemokratischen oder liberalen Herren mit einer vertraulich gedämpften Stimme und mit einem ernsten Blick hinzu, »und übrigens, lieber Geheimrat: Der Feind steht links.«

Manches muß Bruckner sich anhören über die »gesunden und aufbauwilligen Kräfte«, die »trotz allem« im Nationalsozialismus stecken; manches über das edle nationale Pathos einer Jugend, der gegenüber »wir Älteren« eben nicht länger verständnislos ablehnend bleiben dürfen; über den »politischen Instinkt des deutschen Volkes«, seinen »gesunden Menschenverstand«, der stets das Schlimmste verhüten werde – (»Deutschland ist nicht Italien«) – ehe er, erbittert und enttäuscht, abreist, im Herzen entschlossen, nie wiederzukehren. Der Geheimrat Bruckner entzieht sich einer Gesellschaft – in welcher Hendrik Höfgen Triumphe feiert.

In Berliner Salons ist jeder willkommen, der Geld hat oder dessen Namen häufig genannt wird von der Boulevardpresse. Auf dem Parkett der Tiergarten- und Grunewaldvillen treffen sich die Schieber mit den Rennfahrern, Boxern und berühmten Schauspielern. Der große Bankier ist stolz darauf, Hendrik Höfgen bei sich zu empfangen; noch lieber freilich hätte er Dora Martin in seinem Hause gesehen, aber Dora Martin kommt nicht, sie sagt ab oder zeigt sich höchstens für zehn Minuten.

Natürlich erscheint auch Höfgen nicht vor Mitternacht. Nach der Abendvorstellung tritt er noch in einer Music-Hall auf, wo er für dreihundert Mark ein Chanson singt, welches sieben Minuten dauert. Die schicke Gesellschaft, die er mit seiner Gegenwart beehrt, trällert ihm den Refrain des Songs entgegen, den er berühmt gemacht hat:

»Es ist doch nicht zu schildern.

Soll ich denn ganz verwildern?

Mein Gott, was ist denn nur mit mir geschehn!«

Wie schön und fein Hendrik ist – es ist doch nicht zu schildern! Grüßend und lächelnd, hinter sich Herrn Katz und Fräulein Bernhard als seine treuen Trabanten, bewegt er sich durch diese Gesellschaft von versnobten jüdischen Finanziers, von politisch radikalen und künstlerisch impotenten Literaten und von Sportsleuten, die noch nie ein Buch gelesen haben und, gerade deshalb, von den Literaten angehimmelt werden. »Sieht er nicht aus wie ein Lord?« flüstern reich geschmückte Damen orientalischen Typs. »Er hat einen so lasterhaften Zug um den Mund – und diese herrlich blasierten Augen! Sein Frack ist von Knize, er hat zwölfhundert Mark gekostet.« – In einer Ecke des Salons wird behauptet, Höfgen habe ein Verhältnis mit Dora Martin. »Aber nein – er schläft doch mit Fräulein Bernhard!« wollen noch Eingeweihtere wissen. »Und seine Frau?« erkundigt sich ein etwas naiver junger Herr, der noch nicht lange in der Berliner Gesellschaft verkehrt. Er bekommt nur ein verächtliches Lachen zur Antwort. Die Familie Bruckner ist nicht mehr ernst zu nehmen, seitdem sich der alte Geheimrat politisch auf eine so anstößige und übrigens sinnlose Art exponiert hat. Gelehrte sollten sich nicht in Dinge mischen, von denen sie nichts verstehen – darüber sind alle sich einig – und außerdem empfindet man es als albernen Eigensinn, gegen den Strom zu schwimmen. Für die zukunftsträchtige Bewegung des Nationalsozialismus, die soviel positive Elemente enthält und ihre störenden kleinen Fehler, zum Beispiel diesen lästigen Antisemitismus, schon noch ablegen wird, bringt man als moderner Mensch Verständnis auf. »Daß der Liberalismus etwas Überwundenes ist und keine Zukunft mehr hat, ist doch wohl eine Tatsache, über die wir nicht mehr zu diskutieren brauchen«, sagen die Literaten, und weder die Boxer noch die Bankiers widersprechen ihnen.

»Wie reizend, daß Sie eine Stunde Zeit für uns gefunden haben, Herr Höfgen!« flötet die Hausfrau ihrem attraktiven Gast entgegen und hält ihm ein Tellerchen mit Kaviar hin. »Man weiß doch, wie beschäftigt Sie sind! Darf ich Sie mit zwei Ihrer glühendsten Verehrer bekannt machen? Dieses ist Herr Müller-Andreä, der Ihnen durch seine bezaubernden Plaudereien im ›Interessanten Journal‹ gewiß bekannt ist. Und dieses ist unser Freund, der berühmte französische Schriftsteller Pierre Larue …«

Herr Müller-Andreä ist ein eleganter, grauhaariger Mann mit stark hervortretenden wasserblauen Augen in einem roten Gesicht. Jedermann weiß, daß er von den guten Beziehungen seiner schönen Frau lebt, die aus aristokratischer Familie stammt. Durch sie erfährt er den ganzen Klatsch der Berliner Gesellschaft, aus dem er seine kleinen Artikel für das »Interessante Journal« zusammenstellt. In diesem verrufenen Skandalblatt plaudert Herr Müller-Andreä wöchentlich unter dem Titel: »Hatten Sie davon eine Ahnung?« Gerade diesen amüsanten Artikeln verdankt das »Interessante Journal« seine Beliebtheit; denn in ihnen wird mitgeteilt, daß die Gattin des Industriellen X mit dem lyrischen Tenor Y eine kleine Reise nach Biarritz unternommen hat, und daß die Gräfin Z jeden Nachmittag im Adlon zum Tanztee erscheint, und dieses nicht der guten Kapelle, sondern eines gewissen Gigolos wegen … Durch solche Eröffnungen versteht es Herr Müller-Andreä, die Leser zu fesseln und zu belehren. Seine ziemlich luxuriöse Lebenshaltung bestreitet er übrigens keineswegs mit seinen Einnahmen aus veröffentlichten Artikeln; vielmehr mit jenen Summen, die er sich für die Nichtveröffentlichung von »Plaudereien« bezahlen läßt. So manche Dame hat schon schweres Geld an Herrn Müller-Andreä überwiesen, damit ihr Name nicht in die Rubrik »Hatten Sie davon eine Ahnung?« komme. Herr Müller-Andreä ist ein gemeiner Erpresser, niemand bestreitet es – auch er selber nicht – niemand macht besonderes Aufheben davon.

Der andere »glühende Verehrer« des Schauspielers Höfgen, Monsieur Pierre Larue, ist ein kleines Männchen. Er reicht Hendrik eine bleiche, spitze Hand und spricht mit einer klagenden Sopranstimme: »Sehr interessant, lieber Herr Höfgen! Darf ich mir Ihre Adresse notieren?« Dabei hat er schon, mit geübtem Griff, ein dickes Notizbuch hervorgeholt. »Ich hoffe, Sie werden nächstens im Esplanade bei mir speisen«, ruft er noch mit seinem jammernden und dabei sirenenhaft lockenden Stimmchen. – Monsieur Larue hat in seinem altjüngferlich spitzen, von unzähligen Fältchen durchzogenen Gesicht merkwürdig scharfe und durchdringende Augen; aus ihnen leuchtet, beinah ekstatisch, eine ungeheure Neugierde; sie funkeln von jener Sucht nach Menschen, Namen und Adressen, die der eigentlich herrschende Impuls und der einzige echte Inhalt seines Lebens ist. Monsieur Larue würde sterben, traurig eingehen wie ein Fischlein, dem man das Wasser entzieht, an dem Tage, der ihn keine neuen Bekanntschaften machen ließe. Jedoch wird diese Situation, die so beklagenswert wäre, dem kleinen Menschensammler erspart bleiben, mindestens solange er sich in Berlin aufhält. Denn Ausländer haben es leicht in Berliner Salons: ein Gast, der mit schlechtem Akzent deutsch spricht, gereicht einer Gesellschaft fast ebenso zur Ehre wie ein Boxer, eine Gräfin oder ein Filmschauspieler – und nun gar noch ein Ausländer, der Geld hat, interessante Diners im Hotel Esplanade arrangiert, mehreren Königen vorgestellt ist und sogar den Prince of Wales kennt. Keine Tür bleibt verschlossen vor Monsieur Larue, sogar der ehrwürdige alte Herr Reichspräsident hat ihn empfangen. Er genießt den Umgang der reaktionärsten und exklusivsten Familien von Potsdam; andererseits sieht man ihn in Gesellschaft linksradikaler junger Leute, die er als »mes jeunes camarades communistes« in den Häusern der Bankdirektoren einzuführen liebt.

»Gestern habe ich Sie im Wintergarten bewundert«, sagt Pierre Larue, nachdem er sich Höfgens Telefonnummer notiert hat. Und er wiederholt scherzhaft, aber klagenden Tones, den populären Refrain: »Es ist doch nicht zu schildern …« Danach hat er ein kleines Lachen, das klingt wie das Rascheln von Herbstwind in trockenem Laub. »Hahaha«, lacht Monsieur Larue; reibt sich die bleichen Knochenhändchen über der Brust gegeneinander und steckt sein Gesicht tief in den dicken, schwarzen Wollschal, den er, trotz der warmen Temperatur in diesen Räumen, über dem Smoking um den Hals geschlungen trägt.

Es ist doch nicht zu schildern – das hat die Welt noch nicht gesehen – das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder! In Deutschland steht alles glänzend, besser könnte es gar nicht stehen, man darf sorglos und guter Dinge sein. Gibt es eine Krise? Gibt es Arbeitslose, gibt es politische Kämpfe? Gibt es eine Republik, der es nicht nur an Selbstachtung, sondern sogar an Selbsterhaltungstrieb fehlt und die sich vor der ganzen Welt verhöhnen läßt von ihrem frechsten und rohesten Feinde? Dieser wird ausgehalten und begünstigt von den reichen Leuten, die nur eine Angst kennen: Eine Regierung könnte es sich einfallen lassen, ihnen etwas Geld wegzunehmen. Gibt es Saalschlachten in Berlin und nächtliche Straßenkämpfe? Gibt es schon den Bürgerkrieg, der beinah täglich seine Opfer fordert? Wird schon Arbeitern von Burschen in brauner Uniform das Gesicht zertreten und der Kehlkopf durchgeschnitten, der große Volksverführer aber – Chef der »aufbauwilligen Elemente«, Liebling der Schwerindustriellen und der Generale – publiziert schamlos sein Glückwunschtelegramm an die viehischen Mörder? Schwört derselbe Hetzer, der die Nacht der langen Messer fordert und öffentlich gelobt, es würden Köpfe rollen, er wolle »nur auf legalem Wege« zur Macht kommen? Darf er es sich herausnehmen, darf er es wagen, täglich soviel Drohungen und Infamien in die Welt zu schreien mit seiner bellenden Stimme?

Es ist doch nicht zu schildern! Ministerien stürzen, werden neu gebildet und sind nicht klüger als vorher. Soll man denn ganz verwildern? Im Palais des ehrwürdigen Generalfeldmarschalls intrigieren die Großgrundbesitzer gegen eine zitternde Republik. Die Demokraten schwören, der Feind steht links. Polizeipräsidenten, die sich sozialistisch nennen, lassen auf Arbeiter schießen. Die bellende Stimme aber darf täglich ungestört dem »System« Strafgericht und blutigen Untergang verheißen.

Das hat die Welt noch nicht gesehen! Sieht es denn nicht der hochbezahlte Spaßmacher eben jenes Systems, gegen das die infame Kettenhundstimme ihre Verwünschungen schleudert? Fällt es denn dem Schauspieler Höfgen nicht auf, daß die Veranstaltungen, deren fragwürdiger Held er ist, im Grund makabren Charakters sind, und daß der Tanz, zu dessen beliebtesten Anführern er gehört, die grausige Tendenz zum Abgrund hat?

Hendrik Höfgen – Spezialist für elegante Schurken, Mörder im Frack, historische Intriganten – sieht nichts, hört nichts, merkt nichts. Er lebt gar nicht in der Stadt Berlin – so wenig, wie er jemals in der Stadt Hamburg gelebt hat; er kennt nichts als Bühnen, Filmateliers, Garderoben, ein paar Nachtlokale, ein paar Festsäle und versnobte Salons. Spürt er, daß die Jahreszeiten wechseln? Wird es ihm bewußt, daß die Jahre vergehen – die letzten Jahre dieser mit soviel Hoffnung begrüßten, nun so jammervoll verscheidenden Weimarer Republik: die Jahre 1930, 1931, 1932? Der Schauspieler Höfgen lebt von einer Premiere zur nächsten, von einem Film zum andern; er zählt »Aufnahmetage«, »Probentage«, aber er weiß kaum davon, daß der Schnee schmilzt, daß die Bäume und Gebüsche Knospen tragen oder Blätter, daß ein Wind die Düfte mit sich trägt, daß es Blumen gibt und Erde und fließendes Wasser. Eingesperrt in seinen Ehrgeiz wie in ein Gefängnis; unersättlich und unermüdlich; immer im Zustand höchster hysterischer Spannung, genießt und erleidet der Schauspieler Höfgen ein Schicksal, das ihm außerordentlich scheint, und das doch nichts ist als die vulgäre, schillernde Arabeske am Rande eines todgeweihten, dem Geist entfremdeten, der Katastrophe entgegentreibenden Betriebes.

Es ist doch nicht zu schildern – es ist doch überhaupt nicht aufzuzählen, was er alles treibt, durch wieviel verschiedenartige Einfälle und Überraschungen er das öffentliche Interesse auf sich lenkt. – Den Vertrag mit den Bühnen des Professors hat er, zum fassungslosen Kummer des Fräulein Bernhard, gelöst, um frei zu sein für all die verlockenden Chancen, die sich ihm bieten. Nun spielt und inszeniert er einmal hier, einmal dort – wenn die einträgliche Filmtätigkeit ihm Zeit für die Bühne übrig läßt. Auf der Leinwand oder auf der Bühne sieht man ihn in kleidsamer Apachentracht – rotes Halstuch zum schwarzen Hemd; das Haar einer blonden Perücke, die seine Miene noch verdächtiger wirken läßt, tief in die Stirn frisiert; im gestickten Kostüm des dandyhaften Rokokofürsten; im üppigen Gewand orientalischer Despoten; in der römischen Toga oder im Biedermeierrock; als preußischen König oder als degenerierten englischen Lord; im Golfanzug, im Pyjama, im Frack oder in der Husarenuniform. In der großen Operette singt er Albernheiten auf so klug pointierte Manier, daß die Dummen sie für geistreich halten; in klassischen Dramen bewegt er sich mit so eleganter Nachlässigkeit, daß die Werke Schillers oder Shakespeares wie amüsante Konversationsstücke wirken; aus mondänen Farcen, die in Budapest oder Paris nach billigen Rezepten hergestellt sind, zaubert er raffinierte kleine Effekte, die des Machwerks Nichtigkeit vergessen lassen. – Dieser Höfgen kann alles! Seine brillante, vor keiner Zumutung versagende Wandlungsfähigkeit scheint genialen Einschlag zu haben. Wollte man jede seiner Leistungen einzeln betrachten, so käme man wohl zu dem Resultat, daß keine von ihnen allerersten Ranges ist: als Regisseur wird Höfgen niemals den »Professor« erreichen; als Schauspieler kann er es mit seiner großen Konkurrentin Dora Martin nicht aufnehmen, die der erste Stern an einem Himmel bleibt, über den er sich als ein schillernder Komet bewegt. Es ist die Vielfalt seiner Leistungen, die seinen Ruhm ausmacht und immer wieder erneuert. Da gibt es nur eine Stimme im Publikum: Fabelhaft, was er alles fertigbringt! Und in gewählteren Ausdrücken wiederholt die Presse die gleiche Meinung.

Er ist der Liebling der links-bürgerlichen und linken Blätter – wie er der Favorit der großen jüdischen Salons ist und bleibt. Gerade der Umstand, daß er kein Jude ist, läßt ihn diesen Kreisen besonders schätzenswert erscheinen; denn die jüdische Berliner Elite »trägt blond«. – Die Zeitungen der radikalen Rechten, die täglich die Erneuerung deutscher Kultur durch die Rückkehr zum volkhaft Echten, zu Blut und Boden zornig propagieren, verhalten sich mißtrauisch und ablehnend gegen den Schauspieler Höfgen; er gilt ihnen als »Kulturbolschewist«. Daß die jüdischen Feuilletonredakteure ihn schätzen, macht ihn ebenso verdächtig wie seine Vorliebe für französische Stücke und die exzentrisch-volksfremde Mondänität seiner Erscheinung. Außerdem verfolgen ihn die nationalistischen Dramatiker mit ihrem Haß, weil ihre Stücke von ihm abgelehnt werden. Cäsar von Muck zum Beispiel, repräsentativer Dichter der aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung, in dessen Dramen erwürgte Juden und erschossene Franzosen die Pointen des Dialogs ersetzen – Cäsar von Muck, höchste Kapazität für kulturelle Fragen im Lager der dezidierten Kulturfeindlichkeit, schreibt über die Neuinszenierung einer Wagner-Oper, mit der Höfgen eben Sensation gemacht hat: Dies sei übelste Asphaltkunst, zersetzendes Experiment, durchaus jüdisch beeinflußt und freche Schändung deutschen Kulturgutes. »Der Zynismus des Herrn Höfgen kennt keine Grenzen«, schreibt Cäsar von Muck. »Um dem Kurfürstendammpublikum eine neue Unterhaltung zu bieten, wagt er sich an den ehrwürdigsten, größten der deutschen Meister – an Richard Wagner.« – Recht herzlich amüsiert Hendrik sich, gemeinsam mit ein paar radikalen Literaten, über diese Redensarten des Blut-und-Boden-Skribenten.

Höfgen hat seine Beziehungen zu kommunistischen oder halbkommunistischen Kreisen keineswegs aufgegeben; zuweilen bewirtet er in seiner Wohnung am Reichskanzlerplatz junge Schriftsteller oder Parteifunktionäre, denen er in immer neuen und immer effektvollen Redewendungen seinen unversöhnlichen Haß gegen den Kapitalismus und seine glühende Hoffnung auf die Weltrevolution versichert. Umgang mit den Revolutionären pflegt er nicht nur, weil er meint, diese könnten doch vielleicht einmal an die Macht kommen, und dann würden alle Diners sich reichlich bezahlt machen; sondern auch zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Man ist anspruchsvoll und möchte doch mehr sein als nur ein gut verdienender Komödiant; man will nicht ganz aufgehen in einem Betrieb, den man im Grunde zu verachten behauptet, während man doch ganz in seinem Banne steht.

Hendrik schmeichelt sich, daß sein Leben Inhalte und Probleme habe, deren sich die Kollegen kaum rühmen können. Dora Martin zum Beispiel, diese großartige Dora Martin, die immer noch um eine entscheidende Nuance berühmter ist als er selbst: was mag schon vorgehen in ihrem Innern? Sie schläft ein mit dem Gedanken an ihre Gagen und erwacht mit Hoffnungen auf neue Filmverträge: So sagt sich Hendrik, der von Dora Martin nichts weiß. In seinem Innern aber begeben sich die originellsten Dinge.

Die Bindung an Juliette, das grausame Naturkind – sie ist mehr als nur sexuelle Angelegenheit, sondern kompliziert und geheimnisvoll – Hendrik legt Wert auf diesen interessanten Umstand. Manchmal glaubt er auch, daß seine Beziehung zu Barbara – Barbara, die er seinen guten Engel genannt hat – durchaus nicht abgeschlossen und zu Ende sei, sondern noch Wunder, Rätsel und Überraschungen bringen könne. Wenn er vor sich selbst die bedeutenden Faktoren seines Innenlebens Revue passieren läßt, vergißt er nie, Barbara – zu der er in Wahrheit den Kontakt mehr und mehr verliert – mit zu nennen.

Die wichtigste Nummer auf dieser Liste seiner außerordentlichen inneren Vorgänge bleibt jedoch die revolutionäre Gesinnung. Auf diese Rarität und Kostbarkeit, die ihn so vorteilhaft von den übrigen »Prominenten« des Berliner Theaterlebens unterscheidet, möchte er um keinen Preis verzichten. Deshalb pflegt er, eifrig und geschickt, die Freundschaft mit Otto Ulrichs, der seine Stellung am Hamburger Künstlertheater aufgegeben hat und im Norden Berlins ein politisches Kabarett leitet.

»Jetzt müssen alle unsere Kräfte der politischen Arbeit zur Verfügung gestellt werden«, erklärt Otto Ulrichs. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Der Tag der Entscheidung ist nahe.«

In seinem Kabarett, welches »Der Sturmvogel« heißt und durch die Schärfe wie durch die Qualität seiner Darbietungen Aufsehen nicht nur in den Proletariervierteln erregt, produzieren sich junge Arbeiter neben berühmten Schriftstellern und Schauspielern.

Hendrik glaubt es sich leisten zu können, in eigener Person auf der engen Bühne des »Sturmvogels« zu erscheinen. Anläßlich einer Feier, die Ulrichs zu Ehren eines Besuches von russischen Autoren veranstaltet, wird dem Publikum als besondere Attraktion der berühmte Höfgen vom Staatstheater angekündigt. Ehe Ulrichs aber ausreden kann, springt Höfgen, der seinen schlichtesten grauen Anzug angelegt hat und übrigens nicht im eigenen Mercedeswagen, sondern im Taxi vorgefahren ist, elastisch hinter der Kulisse hervor. »Nichts von Berühmtheit, nichts von Staatstheater!« ruft er mit der metallisch leuchtenden Stimme und reckt mit schöner Geste die Arme. »Ich bin euer Genosse Höfgen!« Ihm antwortet Jubel. Am nächsten Tag erklärt der streng marxistische Kritiker Doktor Erding im »Neuen Börsenblatt«, der Schauspieler Höfgen habe sich die Herzen der Berliner Arbeiterschaft mit einem Schlag erobert.

So bewegende Erlebnisse in den proletarischen Außenbezirken beschwichtigen sein Gewissen, das sonst dagegen rebellieren könnte, daß man im Westen nur mondäne Albernheiten inszeniert und spielt. Man gehört doch zur Avantgarde: nicht nur das eigene Bewußtsein sagt es einem; vielmehr bestätigen es auch die Literaten, die es wissen müssen – zum Beispiel Erding – und die Angriffe, mit denen so lächerliche Figuren wie Cäsar von Muck einen bedenken. Man gehört doch zur geistigen Vorhut! Die Neuinszenierungen der Wagner-Opern sind kühne Experimente – sehr verständlich, daß sie die ewig Rückständigen in Harnisch bringen. Auch von einem literarischen »Studio«, einer Serie modernster Kammerspielaufführungen ist wieder die Rede; zwar realisiert Hendrik den schönen Plan ebensowenig, wie er das Revolutionäre Theater in Hamburg realisiert hat; aber er spricht doch häufig und verlockend von ihm, so daß viele junge Schauspieler und Dichter sich jahrelang auf das Unternehmen herzlich freuen dürfen. – Man gehört zur revolutionären Elite, und man läßt es sich etwas kosten: Durch Vermittlung des Otto Ulrichs leitet Höfgen Summen, die nicht erheblich sind, aber doch freudig akzeptiert werden, an gewisse Organisationen der Kommunistischen Partei …

Wer wagt zu behaupten, er lebe ahnungslos und eitel in den Tag hinein? Seine intensive Anteilnahme an den großen Zielen und Problemen der Zeit ist bewiesen. Sehr mit Recht schaut Hendrik, seiner tadellos radikalen Gesinnung sich froh bewußt, verächtlich auf so unentschiedene Naturen, wie etwa Barbara eine ist – Barbara, die im Hause des Geheimrats oder auf dem Gute der Generalin ein müßiges und egoistisches Leben führt, eingesponnen in ihre abseitigen intellektuellen Spiele und Sorgen.

Was weiß Hendrik von den Sorgen oder Spielen Barbaras? Was weiß Hendrik überhaupt von Menschen? Ist er, was ihre Schicksale angeht, nicht ebenso ahnungslos wie in den Dingen öffentlichen Lebens? Hat er sich mit denen, die er so gern das »Zentrum seines Lebens« nennt, gründlicher und liebevoller beschäftigt als etwa mit dem kleinen Böck, der nun wirklich sein Diener ist, oder mit Monsieur Pierre Larue, der im Hotel Esplanade feine Abendessen für »mes jeunes camarades communistes« veranstaltet?

Kümmert Hendrik sich etwa um das innere Leben seiner Freundin Juliette? Er erwartet von ihr, daß sie immer grausam und guter Dinge sei. Sie bekommt reichlich Geld und darf die Peitsche schwingen: hat sie nicht allen Anlaß zur Zufriedenheit? Niemals denkt Höfgen darüber nach, was die dunklen Blicke meinen könnten, die das schwarze Mädchen jetzt so oft auf ihn richtet. Hat das fremde Kind vielleicht Heimweh nach den Küsten, aus deren schönerer Landschaft ein launisches Schicksal sie in eine fragwürdige Zivilisation verschlug? Beginnt sie vielleicht, in ihrem rätselvollen Herzen den fahlen, leidenssüchtigen Freund zu lieben, oder fängt sie an, ihn zu hassen? Hendrik weiß nichts davon. Für ihn ist Prinzessin Tebab die verführerische Barbarin, die schöne Wilde, an deren ungebrochener Kraft er sich erfrischt, indem er sich vor ihr erniedrigt.

Er ahnt von Juliette so wenig, wie er von Barbara weiß oder von seiner Mutter Bella. Nur flüchtig liest er die Briefe der armen Mama, der ihr Gatte Köbes und ihre Tochter Josy – zwei muntere und bedenklich leichtsinnige Geschöpfe – viel Sorgen bereiten. Vater Köbes ist geschäftlich nun total ruiniert. »Die Krise!« jammert brieflich Frau Bella. »Dein guter Vater gehört zu den zahlreichen Opfern der Krise.« All sein Hab und Gut wäre verpfändet worden, und bittere Schande hätte die Familie heimgesucht, wäre nicht Hendrik gewesen, der in allerletzter Stunde eine größere Summe telegraphisch überwiesen hat. Schwester Josy verlobt sich mindestens einmal jedes halbe Jahr; Frau Bella atmet erleichtert auf, wenn die Verbindungen, die stets irgendwie unglückseligen Charakters sind, wieder gelöst werden.

Einmal erscheint Nicoletta in Berlin; aber sie reist bald wieder ab, zurückgerufen von einem drohenden und klagenden Telegramm ihres Gatten Marder. »Ich bin sehr, sehr glücklich mit ihm«, erklärt Nicoletta und bemüht sich, die schönen Augen funkeln zu lassen wie einst. Aber dann stellt sich heraus, daß Marder seit zwei Jahren in einem Sanatorium lebt: Nicoletta hat ihre Zeit damit verbracht, ihn zu pflegen – sie lächelt sanft und innig, wenn sie von der kindlichen Dankbarkeit spricht, die der geniale Mann für sie hat. »Nun geht es ihm schon viel besser«, sagt sie hoffnungsvoll. »Wir können bald in den Süden ziehen, er braucht Sonne …«

Das »Lebenszentrum«, mit dem Hendrik prahlt: Nicoletta, die Liebende, besitzt es. Auch andere dürfen es ihr eigen nennen; so Ulrichs, der kämpferisch und geduldig auf »den Tag« wartet. »Er wird kommen!« verspricht der Gläubige sich und seinen gläubigen Freunden. – »Er wird kommen, der Tag!« verheißt auch dem jungen Hans Miklas die innere Stimme freudiger Gewißheit. Er meint den schönen Tag, da »der Führer« endlich an der Herrschaft sein wird: seine Feinde aber sind dann alle vernichtet. Vernichtet ist dann vor allem der ärgste und abscheulichste Feind – Höfgen. Der Sturz des Verhaßten, dessen Laufbahn Miklas aus der Ferne mit machtlosem Ingrimm verfolgt, soll das beglückendste Ereignis des »großen Tages« sein und ein Teil seines Sinnes.

Hans Miklas ist – wie Otto Ulrichs, sein politischer Feind – Schauspieler nur noch im Dienste der »großen Sache«, des umfassenden Ziels. Er arbeitet längst nicht mehr an Theatern, sondern nur noch mit den Jugendorganisationen der nationalsozialistischen Bewegung; seine Tätigkeit ist es, für Freilichtbühnen und Versammlungssäle Fest- und Werbespiele mit dem »Jungvolk« seines »Führers« einzustudieren: solche Beschäftigung befriedigt sein unwissendes und enthusiastisches Herz. Im Sprechchor brüllen die Burschen, daß sie siegreich die Franzosen schlagen und ihrem Führer stets die Treue wahren wollen; dies haben sie eingeübt unter der Regie des jungen Miklas, der jetzt viel gesünder und frischer aussieht als in der Hamburger Zeit – die schwarzen Löcher in seinen Wangen sind fast verschwunden.

Der Tag ist nahe: schwärmerischer Gedanke, der Hans Miklas und Otto Ulrichs beherrscht, ausfüllt, begeistert wie Millionen anderer junger Menschen. Auf welchen Tag aber wartet Hendrik Höfgen? Er wartet immer nur auf die neue Rolle. Seine große Rolle in der Saison 1932/33 wird der Mephisto sein: Hendrik spielt ihn in der neuen »Faust«-Inszenierung, die das Staatstheater zu Goethes 100. Todestag herausbringt.

Mephistopheles, »des Chaos wunderlicher Sohn«, große Rolle des Schauspielers Höfgen – für keine andere hat er jemals so viel Eifer aufgebracht. Der Mephisto soll sein Meisterstück sein. Schon die Maske ist sensationell: Hendrik macht aus dem Höllenfürsten den »Schalk« – eben jenen Schalk, als den der Herr des Himmels in seiner unermeßlichen Güte den Bösen begreift und ab und zu seines Umgangs würdigt, da er ihm am wenigsten zur Last ist von allen Geistern, die verneinen. Er spielt ihn als den tragischen Clown, als den diabolischen Pierrot. Der kahlgeschorene Schädel ist weiß gepudert wie das Gesicht; die Augenbrauen sind grotesk in die Höhe gezogen, der blutrote Mund zu einem starren Lächeln verlängert. Die breite Partie zwischen den Augen und den künstlich erhöhten Brauen schillert in hundert verschiedenen Farben; hier haben Fachleute die Gelegenheit, eine kosmetische Leistung von außergewöhnlichem Rang zu bewundern. Alle Töne des Regenbogens vermischen sich auf den Augenlidern Mephistos und auf den Bögen unter seinen Brauen: das Schwarz spielt ins Rot, das Rot ins Orangefarbene, ins Violette und Blaue; silberne Punkte leuchten dazwischen, ein wenig Gold ist klug und sinnig verteilt. Was für eine bewegte Farbenlandschaft über den verlockenden Edelsteinaugen dieses Satans!

Mit der Anmut des Tänzers gleitet Hendrik-Mephisto im eng anliegenden Kostüm aus schwarzer Seide über die Szene; mit einer spielerischen Akkuratesse, die verwirrt und verführt, kommen die verfänglichen Weisheiten, die dialektischen Scherze von seinem blutig gefärbten Munde, der immer lächelt. Wer zweifelt daran, daß der schaurig elegante Spaßmacher sich in einen Pudel zu verwandeln vermag, Wein aus dem Holz des Tisches zaubern kann und auf seinem gespreiteten Mantel durch die Lüfte fährt, wenn er irgend Lust dazu spürt? Diesem Mephisto wäre das Äußerste zuzutrauen. Alle im Saale fühlen: Er ist stark – stärker selbst als Gott der Herr, den er von Zeit zu Zeit gerne sieht und mit einer gewissen verächtlichen Courtoisie behandelt. Hat er nicht Grund genug, ein wenig auf Ihn herabzusehen? Er ist viel witziger, viel wissender, jedenfalls ist er sehr viel unglücklicher als jener – und vielleicht ist er stärker eben darum: weil er unglücklicher ist. Der riesenhafte Optimismus des erhabenen Alten, der von den Engeln sich selbst und die Schönheit Seiner Schöpfung im deklamatorischen »Wettgesang« lobpreisen läßt – die euphorische Gutmütigkeit des Allvaters wirkt beinahe naiv und ehrwürdig-senil neben der furchtbaren Melancholie, der eisigen Traurigkeit, in welche der satanisch gewordene Lieblingsengel, der Verfluchte und zum Abgrund Gefahrene zuweilen, zwischen all seinen fragwürdigen Munterkeiten, plötzlich verfällt. Welch ein Schauer geht durch das Auditorium des Berliner Staatstheaters, da Höfgen-Mephistopheles mit seinen grellen Lippen die Worte formt:

»… denn alles, was entsteht,

ist wert, daß es zugrunde geht;

drum besser wär’s, daß nichts entstünde.«

Nun bewegt er sich nicht mehr, der gar zu gewandte Harlekin. Nun steht er regungslos. Ist er vor Jammer erstarrt? Unter der bunten Landschaft aus Schminke haben seine Augen jetzt den tiefen Blick der Verzweiflung. Mögen die Engel frohlocken um Gottes Thron – sie wissen nichts von den Menschen. Der Teufel weiß von den Menschen, er ist eingeweiht in ihre argen Geheimnisse, ach, und der Schmerz über sie lähmt seine Glieder und läßt seine Miene versteinern zur Maske der Trostlosigkeit.

Nach der »Faust«-Premiere, die mit Ovationen endet, verschließt sich der Schauspieler Höfgen in seine Garderobe: er will niemanden sehen. Eine Besucherin aber wagt der kleine Böck nicht abzuweisen. Es kommt selten vor, daß Dora Martin sich Vorstellungen ansieht, in denen sie selbst nicht beschäftigt ist. Ihre Anwesenheit heute abend hat Aufsehen gemacht. Der kleine Böck verneigt sich tief vor ihr und öffnet die Tür zum Heiligtum: zu Hendrik Höfgens Garderobe.

Beide sehen überanstrengt aus, sowohl Höfgen als auch seine Kollegin und Konkurrentin: Er ist mitgenommen und erschöpft von den Ekstasen des Spiels, die hinter ihm liegen; sie von Sorgen, die ihm unbekannt sind.

»Es war gut«, sagt die Martin leise und sachlich; sie hat sich sofort auf einen Stuhl gesetzt, ehe er ihn ihr noch anbieten konnte. Auf dem schmalen Sessel kauert sie sich zusammen, ihr Gesicht, mit der hohen Stirn, den weiten, kindlich sinnenden Augen, steckt tief im Kragen des braunen Pelzes. »Es war gut, Hendrik. Ich wußte, daß Sie das können. Der Mephisto ist Ihre große Rolle.«

Höfgen, der am Schminktisch sitzend ihr den Rücken wendet, lächelt ihr durch den Spiegel zu. »Sie sagen das nicht ohne Bosheit, Dora Martin.«

Sie erwidert, immer noch mit dem ruhigen, sachlichen Ton: »Sie irren sich, Hendrik. Ich nehme es niemandem übel, daß er ist, wie er ist.«

Nun wendet Hendrik ihr sein Gesicht zu, von dem er die Teufelsbrauen und die Farbenpracht auf den Lidern entfernt hat. »Danke, daß Sie heute abend gekommen sind«, sagt er weich und läßt die Augen schimmern.

Aber sie winkt ab, fast verächtlich, als wolle sie sagen: Lassen wir doch nun diese Scherze! – Er scheint ihre Geste zu übersehen und erkundigt sich zärtlich: »Was sind Ihre nächsten Pläne, Dora Martin?«

»Ich habe Englisch gelernt«, antwortet sie.

Er macht ein erstauntes Gesicht. »Englisch? Wieso das? Warum gerade Englisch?«

»Weil ich in Amerika Theater spielen werde«, sagt Dora Martin, ohne den ruhigen, prüfenden Blick von ihm zu wenden.

Da er immer noch den Verständnislosen spielt und wissen will, wieso und warum gerade in Amerika, spricht sie mit einer gewissen Ungeduld: »Weil hier Schluß ist, mein Lieber. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«

Da ereifert er sich. »Aber was reden Sie, Dora Martin! Für Sie wird sich doch nichts verändern! Ihre Position ist doch unerschütterlich! Sie werden doch geliebt – wirklich geliebt von so vielen Tausenden! Keiner von uns – Sie wissen es doch – keiner von uns empfängt so viel Liebe wie Sie!«

Hier wird ihr Lächeln so traurig und höhnisch, daß er verstummt. »Die Liebe von vielen Tausenden!« sagt sie, beinah tonlos vor Verachtung. Dann zuckt sie die Achseln. Und, nach einem Schweigen, an Hendrik vorbei, ins Leere: »Man wird andere Lieblinge finden.«

Er schwatzt aufgeregt weiter. »Aber die Theater machen doch Geschäfte! Das Theater wird die Leute immer interessieren, was sonst auch in Deutschland geschieht.«

»Was sonst auch in Deutschland geschieht«, wiederholt Dora Martin leise und steht plötzlich auf. »Ja, dann wünsche ich Ihnen also alles Gute, Hendrik«, sagt sie schnell. »Man wird sich lange nicht sehen. Ich reise schon dieser Tage.«

»Schon dieser Tage?« erkundigt er sich verwirrt; und sie erwidert, den dunklen Blick in die Ferne gerichtet: »Es hat keinen Sinn, noch zu warten. Ich habe hier nichts mehr zu suchen.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Aber Ihnen wird es schon gut gehen, Hendrik Höfgen – was sonst auch in Deutschland geschieht.«

Ihr Gesicht unter der rötlichen Fülle des Haares – ein etwas zu großes Gesicht für den schmalen und kleinen Körper – hat Züge von Stolz und Gram, während sie langsam auf die Tür zugeht und Hendrik Höfgens Garderobe verläßt.

Klaus Mann - Das literarische Werk

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