Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 26

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Im Februar und März 1938 durfte manch deutscher Emigrant, wehmütig und stolz, sich besinnen: Fünf Jahre Exil – das wäre also geschafft. Ist es wirklich schon fünf ganze Jahre her, seit wir in einer deutschen Stadt unseren Koffer packten? Es scheint gestern gewesen zu sein … Damals meinten wir: Es ist wohl nur für eine kleine Weile, in ein paar Monaten kehren wir zurück … Ist es wirklich erst fünf Jahre her? Was haben wir inzwischen alles mitgemacht! Enttäuschungen, Hoffnungen, noch einmal Enttäuschungen, ohne Ende … Das Gedächtnis hat eine seltsam launenhafte Manier, mit der Zeit – dieser nur scheinbaren, nur vorgestellten Realität – spielerisch umzuspringen. Wir erinnern uns – und fünf Jahre sind wie ein Tag; sind aber auch wie die Ewigkeit.

Sonderbare fünf Jahre – ob sie euch lang geworden sind oder kurz – sie haben euer Leben verändert; sie sind ein Teil eures Lebens, auch wenn ihr anfangs den neuen Zustand nur für provisorisch, abenteuerlich und unverbindlich halten wolltet. Das Abenteuer hat sich stabilisiert, das Provisorium wird zum Alltag – so sehr zum Alltag, daß viele schon darauf verzichtet haben, sich des abenteuerlichen Anfangs noch zu erinnern oder seinem Ende entgegenzuträumen. Irgendwo, in der geheimen Gegend des Herzens, bleibt freilich die Hoffnung wach: Dies alles wird eines Tages überstanden sein und vorüber – plötzlich, wie es begonnen hat. Das Exil war nur Episode, der Tag der Heimkehr wird kommen – ein gereinigtes, erholtes, wieder schön gewordenes Vaterland empfängt uns; wir werden zu Hause sein, und die Fremde versinkt, ganz ähnlich, wie jetzt die Heimat für uns versunken ist …

Die Hoffnung bleibt wach – aber nur im geheimen, in der tiefen, verborgenen Schicht. Immer seltener gestatten sich die Verbannten, sich das heimlich-innig Gewünschte bewußt zu machen. In ihren Gesprächen kommt das Wort »Heimkehr« kaum noch vor, und selbst in Gedanken vermeiden sie die süße und gefährliche Vokabel. Auf die Dauer ist kein Mensch geneigt, alles, was er tut oder läßt, auf eine Zukunft zu beziehen, von der niemand Genaues weiß – weder was den Termin ihres Kommens noch was irgendwelche andere Details betrifft. Der Alltag versteht keinen Spaß und duldet nicht, daß du ihm mit vagen Wunschträumen ausweichst. Geduldig und wachsam tue deinen Dienst – deinen Lebensdienst! Er ist überall gleich streng, gleich ermüdend, gleich beglückend, in der Fremde oder in der Gegend, die du Heimat nanntest.

Reale Freuden und Sorgen bringt auch das Exil. Ein Transitvisum durch Belgien wird zum großen Problem, ein Affidavit für die Vereinigten Staaten zum erregenden Thema, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zur ersehnten Gabe des Himmels. Berliner Geschäftsleute fassen den Plan, eine gewisse Sorte von Manschettenknöpfen in Mexiko zu lancieren, Frankfurter Rechtsanwälte lassen sich in Australien nieder, Schriftsteller aus Wien versuchen, Artikel in holländischen oder dänischen Publikationen unterzubringen. »Die Forderung des Tages – deine Pflicht!« Deutsche Ärzte bemühen sich um Assistentenstellungen in kalifornischen oder türkischen Hospitälern; deutsche Schauspieler bieten sich in Hollywood an; die Gattinnen vertriebener deutscher Professoren wollen Wiener Cafés in Argentinien eröffnen. Wird es ein Erfolg oder ein Fiasko? Langt das Geld und wer könnte noch etwas zur Verfügung stellen? Bekomme ich die Aufenthaltserlaubnis? – Dies sind lebendige Fragen, Lebensfragen, dies ist Alltag, für Wunschträume und geheime Hoffnungen bleibt wenig Zeit.

Gar zu viele und zu lang ertragene Sorgen können den Charakter verderben: mancher nimmt Schaden an seiner Seele, wenn er schier ununterbrochen über Transitvisen und Geldbeschaffung grübeln muß. Auch das intellektuelle Niveau senkt sich – gesetzt den Fall, daß es jemals eine Höhe hatte, von der sich hinabgleiten ließ – das Interesse für alles Feinere, alles Schwierig-Zarte hört auf, auch das Mitgefühl wird erstickt von der permanenten Angst um die eigene Zukunft, und schließlich bleibt nur noch ein Egoismus übrig, der stumpfsinnig und völlig lieblos werden läßt.

Ach – nicht alle, nicht die meisten unter den Exilierten zeigten sich leidenschaftlich, widerstandsfähig, stark genug, um sich einen offenen Sinn und ein fühlendes Herz zu bewahren! Sie bekamen manches von der weiten Welt zu sehen während dieser fünf Wanderjahre. Aber waren ihnen die Augen nicht schon blind geworden für Schönheit und Jammer der bewohnten Erde? Hatten sie Anteil genommen? Hatte man sie Anteil nehmen lassen?

Überall blieben sie am Rand der Gesellschaft. Es war Gnade, wenn sie irgendwo verweilen durften – bis auf Widerruf und bis neue, strengere Gesetze gegen sie, die Fremden, erfunden waren. Sie vereinsamten, wurden asozial, weil sie an nichts denken, über nichts reden konnten, was nicht das eigene Elend betraf. Die Monotonie ihrer Gespräche ward lähmend – »Wird Mussolini Ausnahmegesetze gegen die Juden machen? Werden die Handelsbeziehungen zwischen Mexiko und dem Reich sich gegen uns Emigranten auswirken?«

Anderen freilich war die harte, angespannte Existenzform gut bekommen. Die Fremde hatte sie kühner, klüger und besser gemacht. Ihre mitleidende Phantasie, ihr prüfender Verstand, ihr Glaube und ihr Zweifel hatten sich entwickelt. Früher waren sie vielleicht weichlich und faul, unwissend und sentimental gewesen. Das Exil – die harte Schule, durch die sie gingen – hatte sie zu Menschen geformt. Ihre veränderten, geprüften Herzen waren sowohl empfindlicher als auch entschlossener geworden.

Helmut Kündinger – um nur irgendeinen zu nennen – wäre in Deutschland ein pedantischer Schwärmer, ein provinzieller Schöngeist geblieben. Zur Emigration zwang ihn niemand – nur der Schmerz um seinen Göttinger Freund. Als wir ihn kennenlernten – Frühling 1933, auf der Terrasse des »Café Select« – wußte der arme Junge noch nichts von den Härten und den großen Möglichkeiten dessen, was ihm bevorstand. Er war schüchtern und ahnungslos – das Gesicht durch Pickel entstellt; den Kopf voller Stefan-George-Zitate. Jetzt sendet er aus China exzellente Berichte an sein Pariser Blatt. Alles, was er schreibt, ist sachlich, präzis, dabei mit journalistischem Schwung formuliert. Kündingers französischer Stil ist klarer und eleganter, als sein deutscher es in Göttingen je geworden wäre. Bei all dem ist ihm nichts von bleichem Ehrgeiz anzumerken. Die Kollegen mögen ihn: er ist ein guter Zechkumpan, anspruchsloser Causeur, liebenswürdiger Zuhörer. In Shanghai trinkt er Whisky und Soda mit den Jungens von der amerikanischen Presse. Wer aber ist der soignierte Weißhaarige, der sich, mit der Miene des Hausherren und Gastgebers, zu ihnen gesellt? Mit Vergnügen erkennen wir ihn: Bobby Sedelmayer, den charmanten Unverwüstlichen!

Es ist nicht Bobbys Art, zu klagen oder zu renommieren; eher möchte er den Eindruck des stets Leichtsinnigen machen, dem kein Schicksalsschlag etwas anhaben kann. Er erzählt nicht, oder nur ungern, von der ersten schweren Zeit in Shanghai. Hat er wieder Geschirr waschen müssen, wie auch früher schon? Man erfährt kaum etwas darüber. Doch läßt sich nicht verheimlichen, daß eben jenes Hotel, in dem sein Nachtlokal dann florierte, mit schweren japanischen Bomben belegt ward. Wie durch ein Wunder ist Bobby mit dem Leben davongekommen; die Kellner seines Etablissements wurden erschlagen, auch das Mobiliar war hin. Da hieß es wieder und noch einmal: Von vorne anfangen … Bobby blickte nur einige Tage lang fahl – zuviel des Entsetzlichen hatte er mit anschauen müssen! – dann zwang er sich zum rosig-adretten Aussehen wie zu einer Pflicht. Den Tapferen belohnt das Schicksal: die neue Bar war bald ebensogut besucht wie die alte, über der Trümmer lagen. Ungeheures veränderte sich in der Stadt Shanghai, durch China ergoß sich ein Strom von Blut. Die Konsequenz der Ereignisse war riesenhaft, unabsehbar. Bobby wußte es; er war nicht dumm und erfuhr übrigens manches, was der Öffentlichkeit unbekannt blieb: eingeweihte Gäste trugen es ihm zu. Ihm lag es fern, die Wichtigkeit des eigenen Loses zu überschätzen. Er dachte aber – unpathetisch und von charmanter Zähigkeit, wie er war: ›Wem wäre damit gedient, wenn ich in panischer Verzweiflung mich selber aufgäbe? Das Gräßliche macht man nicht dadurch besser, daß man sich unter die Heulenden, Verzagten mischt. Es hat sich herausgestellt und bewiesen, daß ein Nachtlokal unter meiner Leitung große Chancen hat. Niemand kann mir verdenken, daß ich leben will. Wenn die Leute Cocktails und Jazzmusik nicht entbehren wollen, auch während die Erdoberfläche sich unter Katastrophen verändert: bitte sehr! Bobby Sedelmayer ist Spezialist im Vergnügungsgewerbe! Er wird lächeln und adrett aussehen – bis ihn selber eine Bombe trifft …‹

Sedelmayer und Kündinger tranken sich zu. »Auf was wollen wir anstoßen?« fragte einer den anderen. Der Ältere von ihnen entschied: »Na – daß es noch eine Weile weitergehen soll …« Der Jüngere hatte nichts einzuwenden.

Es sollte doch noch eine Weile weitergehen – so empfanden die meisten, trotz allem Schweren, was es auszuhalten gab. Einige aber sagten sich: Ich muß mein Leben radikal, von Grund auf ändern – sonst ginge es wohl nicht weiter. Sogar die Kabarettistin Ilse Ill hatte sich zu der Erkenntnis durchgerungen: Meine Karriere ist an einem toten Punkt. Zwar kann ich nicht häßlich sein – da ich ja Talent habe – aber die Menschen sind wankelmütig, besonders die Pariser, und in anderen Städten habe ich sowieso keine Chancen. Das Unwahrscheinliche ist Tatsache geworden: Der Erfolg bleibt aus. Sicherlich kommt er mal wieder – Ilse Ill gibt nicht nach, die Welt wird noch von mir hören. Für den Augenblick aber sieht es hoffnungslos aus. Unbeschäftigt in den Pariser Cafés herumzusitzen und mich von den Kollegen bemitleiden zu lassen – dazu fehlt mir die Lust. Übrigens ließe man mich verhungern. Kein Mensch zahlt mir einen Teller Suppe, wenn ich nicht mehr die berühmte Ilse bin.

Jetzt war sie eben noch berühmt genug, um etwas Geld aufzutreiben: sie brauchte es für die Reise. Auch das Affidavit konnte sie sich verschaffen. Die Bekannten fragten: Was willst du denn in Amerika? Sie ließ es geheimnisvoll offen; war aber im Herzen entschlossen: Ich verdinge mich als gemeine Magd. Dienstmädchen will ich werden. Sie war eine radikale Natur. Da der Weltruhm auf sich warten ließ, und die Theaterdirektoren lauter Schweine waren, wollte sie nun gründlich elend sein. Nur nichts Halbes! Keine Kompromisse! – Sie fuhr Dritter Klasse, auf einem recht kleinen, obskuren Schiff. Empfehlungsschreiben hatte sie sich verbeten und war erst sogar geneigt gewesen, ihre schönen Pariser Kritiken samt allen Photographien zu verbrennen wie die Briefe eines ungetreuen Geliebten. Dies freilich hatte sie denn doch nicht fertiggebracht. Auf dem Grund ihres Koffers ruhten die Zeitungsausschnitte, sorgsam gebündelt und von einem himmelblauen Seidenband umschlossen, wie die Souvenirs eines jungen Mädchens.

Bei der Landung in New York hatte sie Schwierigkeiten, weil sie gar zu interessant und düster wirkte. Grünes Haar und violette Wangen mißfielen dem Beamten, der ihren Paß kontrollierte: höchstens einer Dame, die Cabin Class fuhr, wäre soviel Extravaganz erlaubt gewesen; bei einem Passagier der Dritten schien es fast kriminell. Ilse mußte nach Ellis Island. ›So ist es recht!‹ dachte sie zähneknirschend. Ihr Ehrgeiz war gleichsam umgeschlagen und hatte sich in fanatischen Masochismus verwandelt. ›Nur zu! Nur weiter in diesem Stil! Behandelt mich nur wie den Aussatz der Menschheit!‹ – Und das tat man denn auch. Ihr bitterer Triumph war vollkommen; denn auf Ellis Island ging es beinah wie in einem Zuchthaus zu. Ilse Ill teilte die triste Zelle mit Ostjüdinnen, die immer weinten, und verzweifelten Negerinnen.

Nach einigen Tagen schickte die freundliche Dame, von welcher das Affidavit stammte, ihren Rechtsanwalt. Ilse ward freigelassen. Der Anwalt sagte verdrossen: »Good luck, Miss!« – und ließ sie stehen.

Sie betrat New York City mit düsterem Frohlocken: Nun werde ich eine Magd! Ilse Ill – vorgestern höchst gefeiert; gestern unschuldig ins Loch geworfen – wird morgen, unerkannt und stolz, in irgendeiner dunklen Küche stehen. Sie wollte die weiße Schürze nehmen, wie den Nonnenschleier. Jedoch kam es anders.

Als sie in einem kleinen Restaurant zu Abend speiste – trotzig um sich blickend, sehr einsam, und auf das äußerste Unglück gefaßt – näherte sich ihr ein Herr mittleren Alters und rief überschwenglich: »Nein, so was! Sie habe ich doch schon mal gesehen!« Sie funkelte böse; er merkte es nicht, sondern erklärte begeistert: »In Paris, vor zwei Jahren! Erinnern Sie sich denn nicht? Ich habe doch so laut applaudiert, nach jedem Ihrer Lieder! Ihr treuester Zuhörer bin ich gewesen! Jeden Abend war ich im Lokal, nur um Ihretwillen – und wäre noch so manches Mal gekommen, wenn mich die Pflicht nicht nach New York gerufen hätte!«

Er hieß Johnson und hatte ein Schuhgeschäft. Ilse beschloß, ihn lächerlich zu finden; war aber bald gewonnen durch seine stürmischen Huldigungen. Nachdem sie zwei Whiskys mit ihm getrunken hatte, mußte sie sich zugeben: Er ist wirklich ein netter Kerl. Im Taxi ließ sie sich die Hand von ihm küssen. Mehr wurde nicht gestattet.

Die Idee, sie könnte Dienstmädchen werden, machte ihn beinah zornig. »So ein Unsinn!« rief er immer wieder. »Eine Person wie Sie!« Im Grunde gab sie ihm recht, trotz allen düsteren Vorsätzen. Indessen weigerte sie sich hartnäckig, sich als seine Geliebte von ihm erhalten zu lassen, obwohl Johnson – ein flotter Junggeselle, nicht reich, aber in angenehmen Verhältnissen – ihr immer wieder versicherte: »Es wäre das einzig Vernünftige!« Sie bestand darauf: »Suche mir eine Stellung – wenn du mir helfen willst.«

Wirklich gelang es ihm, ihr einen »Job« zu verschaffen. Sie wurde Empfangsdame in einem feinen französischen Restaurant. Dort hatte sie nichts zu tun, als zu lächeln. Ihr Platz war am Eingang, neben einer breiten Schale voll Pfefferminzbonbons. Sie sollte einladend wirken. Der Chef des Lokals hatte von ihr verlangt, daß sie sich Haar und Miene ein wenig dezenter färbe. Grün und Violett mußten geopfert werden – sehr zum Bedauern Johnsons, der gerade diese ausgefallenen Nuancen so pikant gefunden hatte.

Hier verlassen wir Ilse Ill, überlassen sie ihrem Schicksal. Vielleicht wird ein Theaterdirektor – weniger instinktlos und korrupt als seine Kollegen – das fleißige Mädchen entdecken, und sie wird am Broadway ihre dritte Karriere starten. Vielleicht wird sie Mr. Johnson heiraten, in dessen Achtung sie natürlich gestiegen ist, weil sie es abgelehnt hat, seine ausgehaltene Mätresse zu sein. Wir wünschen ihr von Herzen das Beste. Oft waren wir geneigt, sie nicht ganz ernst zu nehmen; sie erschien uns etwas affig und prätentiös. Spürte sie nicht selber, im Grunde, daß sie sich recht krampfhaft und geziert benahm? Sie ahnte es wohl; konnte es aber nicht ändern. All ihr Getue war immer nur der angestrengte Versuch, sich zu behaupten; es war die etwas barocke Form ihrer Tapferkeit. Ist es nicht ein mutiges Lächeln, mit welchem sie die Gäste im feinen französischen Restaurant willkommen heißt? Ist es nicht ein fester und braver Blick, mit dem sie sich nun von uns trennt …?

Nicht alle unsere guten alten Freunde haben noch die Energie, so fest und brav zu schauen. Nathan-Morelli blinzelt tödlich ermattet. Wie hochmütig war er einst gewesen: ein intellektueller Grandseigneur, ungebunden, leicht zynisch, mit einer Neigung zum provokant Sarkastischen. Nationalistische Sentimentalitäten lagen ihm denkbar fern; Theo Hummler, den Mann vom Volksbildungswesen, hatte er durch herabsetzende Reden über Deutschland gekränkt. Nun war es gerade Hummler, mit dem er Erinnerungen an die Heimat zu tauschen liebte. »Wie wunderschön ist Berlin!« seufzte Nathan-Morelli. »Als ich dort noch hätte leben können, habe ich es verachtet!« Hummler versicherte ihm: »Sie werden Berlin wiedersehen, lieber Freund! Unsere Arbeit macht Fortschritte …« Und er war bei seinem Thema: der Politik, dem Kampf gegen das Naziregime. Gerade dafür schien Nathan-Morelli sich wenig zu interessieren. Er winkte wehmütig ab. »Lassen Sie nur! Für junge Leute mag das tröstlich sein. Was mich betrifft – ich bin fertig.« – Er lag seit Wochen zu Bett, sein Gesicht verfiel, die klugen Mongolenaugen waren tief umschattet. »Das Herz macht nicht mehr mit«, erklärte er resigniert. »Es kann nicht mehr lange dauern.« – Er glich einem abgemagerten Buddha, wenn er, schräggestellten Hauptes, ins Leere träumte. Seine Miene belebte sich, sobald Fräulein Sirowitsch kam. – Sie lebten zusammen, sahen sich aber nicht oft; denn die Sirowitsch war beschäftigt. Von morgens bis abends saß sie im Bureau an den Champs-Élysées, wo fünf Angestellte mit ihr tätig waren. Ihre Presseagentur hatte internationales Ansehen bekommen. Tausende von Artikeln und Photographien gingen durch Fräulein Sirowitschs tüchtige Hände. Sie mußte sich plagen; ihr kranker Freund hing nicht nur seelisch von ihr ab, sondern auch finanziell. – Sie liebten sich, sie waren sich von Herzen zugetan. Die Sirowitsch genoß innig ihr spätes Glück und durfte sich täglich sagen: Ich habe ihn mir erobert. – Sie war die Herrschende, Aktive in diesem Bunde – Geliebte, mütterliche Freundin, Ernährer – alles in einer Person. Wenn sie bedachte, wie alles zwischen ihnen begonnen und wie schön es sich verändert hatte, kamen ihr Triumphgefühle, neben der Zärtlichkeit. ›Er gehört mir! Er hat sich mir unterworfen!‹ Auch etwas Rachsucht war in ihrer Liebe enthalten.

Aber gehörte er ihr wirklich so ganz? War er nicht schon wieder im Begriffe, zu entgleiten? – Er würde sterben – sie wußte es, und sie litt. Sein eingeschrumpftes Buddha-Gesicht trug schon die Zeichen, vor denen dem Lebenden graut. Die Liebende freilich fürchtet sich nicht, ihn zu küssen. Aber sie erschrickt vor seinem viel zu sanften, viel zu fernen Blick.

War nicht auch dies Heimweh, von dem er jetzt soviel sprach, ein Symptom des Erlöschens? Es bewies wohl, daß er Abschied nehmen wollte. Als er Deutschland verspottete, war er echter, jedenfalls gesunder. Nun schämte er sich nicht, von Mondscheinfahrten auf oberbayrischen Seen oder auf dem Rhein zu schwärmen. Er breitete den Plan der Stadt Frankfurt am Main auf den Knien aus, um mit dem Finger den Schulweg seiner Kindheit nachzufahren. Früher hatte er mit einem Achselzucken gesagt: »Ich bin gar kein Deutscher!« Daß seine Mutter aus Italien stammte, war oft erwähnt worden. Plötzlich gestand er: sie war in München geboren, Italiener war nur ihr Vater gewesen. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber er legte Wert darauf, es festzustellen. »Ich bin deutsch, durch und durch – mögen die dummen Nazis es auch bestreiten.« – Die Sirowitsch war schauerlich berührt von solchen Reden. Kamen sie aus dem Munde ihres ironischen Nathan-Morelli?

Als er noch gesund und boshaft war, hatte er wenig Freunde. Jetzt, da Abschiedsmilde ihm Blick und Lächeln verklärte, zog er die Menschen an. Er war fähig, ihnen zuzuhören, weil die eigenen Angelegenheiten ihm nun gleichgültig waren. – Manchem wurde es zur angenehmen Gewohnheit, sich am Lager dieses sanften, klugen Kranken auszusprechen.

David Deutsch freilich schien entsetzt zu sein über die eigene Kühnheit. »Ich überfalle Sie«, murmelte er, noch in der offenen Türe – das blauschwarze Haar gesträubt, wie aus Schrecken über sein verwegenes Eindringen. »Sie liegen wehrlos im Bett, ich stehle Ihnen die Zeit – nur ein paar Minuten; aber immerhin …« Er machte schiefe Bücklinge; wand gequält den Oberkörper, und über sein wächsern bleiches Gesicht liefen Zuckungen. – »Es ist wirklich gar zu keck von mir!« wiederholte er, eigensinnig zerknirscht – obwohl Nathan-Morelli ihm schon wiederholt versichert hatte, wie sehr die Visite ihn freue.

»Nur ein Abschiedsbesuch …« David brachte es gleichsam als Entschuldigung vor, als wollte er andeuten: Selbst meine Unverschämtheit hat ihre Grenzen. Wenn es nicht adieu zu sagen gälte, hätte ich mich denn doch nicht hergewagt. Nathan-Morelli erkundigte sich, wohin Herr Deutsch denn zu reisen gedenke. – »Ziemlich weit weg.« David lächelte trüb; sein dunkler, trauervoller Blick wich den müden, aber scharfen Augen des Kranken aus. Er berichtete trocken – als handelte es sich um eine etwas peinliche, auch kaum sehr wichtige Sache: »In Dänemark irgendwo gibt es ein Lager, wo jüdische Intellektuelle zu Landarbeitern oder Handwerkern ausgebildet werden.« – »Was haben Sie dort zu suchen?« forschte Nathan-Morelli. Und David – wobei er ihm plötzlich fest und ruhig in die Augen sah, als hätte er eine dumme Scham überwunden: »Ich will Schreiner werden.«

Nathan-Morelli schwieg eine kleine Weile. Er blickte ernst, wie sein Gast. Dann sagte er langsam: »Ich habe Ihre Arbeiten in den Soziologischen Heften immer mit großem Interesse verfolgt. Ihre große Studie zur Kritik des Marxismus …«

»Hören Sie bitte auf!« – David hatte es fast geschrien – soviel Heftigkeit wirkte, gerade bei ihm, überraschend. Nathan-Morelli erschrak nicht; sah ihn nur aufmerksam an. David hatte Tränen in den Augen.

»Ich kann nicht mehr …« brachte er schließlich hervor. »Es quält mich – es ekelt mich an … Ich kann nicht mehr denken und nicht mehr schreiben …« – Nathan-Morelli warf, schmeichlerisch und grausam zugleich, mit ruhiger Stimme dazwischen: »Mir scheint aber, daß Sie immer noch vorzüglich denken und vorzüglich schreiben können.« Hierauf ging David nicht ein. Mit nassen Augen und verzerrtem Mund klagte er weiter: »Gleich nach Martins Tod hatte ich die erste furchtbare Krise. Monatelang war ich wie gelähmt. Bedenken Sie doch: ich habe ihn sterben sehen – den langsamen Selbstzerstörungsprozeß überwacht … Er hatte so große Gaben! Einen solchen Tod mitanzusehen – bedenken Sie doch, was das bedeutet …« – Alles sprach dafür, daß das eingeschrumpfte Buddha-Gesicht dies recht gründlich bedachte. Nathan-Morelli sagte nichts; geduldig wartete er auf Davids nächsten Ausbruch.

Der Besucher aber nahm sich zusammen – mit einem Ruck, der ihm nicht nur das Antlitz, sondern auch den Körper verzog. Er schüttelte sich, als führen elektrische Ströme durch seinen Leib. Die zerbrechlichen Finger zausten das starre Haar. Endlich hatte er seine Nervosität so weit bezwungen, daß es ihm möglich war, mit bewegter, aber gedämpfter Stimme fortzufahren.

»Die Analyse der gesellschaftlichen Kräfte und ihrer Entwicklung interessiert mich nicht mehr.« Er konstatierte dies mit großer Traurigkeit, wie eine Mutter, die gestehen müßte: Ich habe aufgehört, mein Kind zu lieben. – »Wenn eine Gesellschaft in Krämpfen liegt; wenn alle ihre ökonomischen, moralischen, intellektuellen Gesetze plötzlich fragwürdig werden und vor unseren Augen zerbrechen – dann scheint es mir sinnlos – schlimmer als das: frivol – sich mit Theorien über Herkunft und wahrscheinlichen Ausgang der Katastrophe wichtig machen zu wollen.«

»Die Theorie könnte hilfreich sein«, bemerkte Nathan-Morelli. »Die Untersuchung der Katastrophe, die Klärung ihrer Ursprünge kann zur Heilung führen … Was für ein Unsinn!« rief er, wobei seine Stimme plötzlich herzhaft kräftig klang. »Was für eine Kateridee – das mit der Schreinerei! Tische und Stühle zimmern kann jeder Trottel. Aber ein Hirn wie Ihres ist unersetzlich – gerade jetzt, heute, für uns!«

David schüttelte das zarte Haupt – melancholisch, aber entschlossen. »Ich habe es mir überlegt; habe mir alles vorgehalten, was dafür und was dagegen spricht – das werden Sie mir doch glauben? – Ich ertrage es einfach nicht mehr – dieses Monologisieren; dieses In-den-luftleeren-Raum-Sprechen … Denn wir sprechen doch ins Leere, niemand hört uns zu, das ist so – beschämend … Die Ereignisse gehen ihren Gang – ihren schrecklichen Gang – unbeeinflußt von uns. Oft fühle ich mich so entfremdet der Wirklichkeit; so ausgestoßen vom echten Leben; isoliert, vereinsamt … Es kommt da so vieles zusammen. Man hat die Heimat verloren; man ist ein Jude, ein Intellektueller – ein ›volksfremdes Element‹ …« Dies sagte er mit einem höhnischen Achselzucken und einem sehr bitteren kleinen Gelächter. »Überall ein ›volksfremdes Element‹ …«

Dann richtete er sich auf, Miene und Haltung wurden zuversichtlich. »Man muß diese Isolierung durchbrechen können …« Er atmete stärker – beinah schon befreit. »Das einfache Leben wird die Rettung sein. Auf den geistigen Hochmut verzichten, sich einordnen, arbeiten – mit den Fäusten arbeiten – das ist die Rettung! Das ist die Erlösung!«

Er hob und senkte die ineinander verkrampften Hände; dabei wiegte er leicht den Kopf, auch sein Oberkörper geriet in rhythmisches Schwanken – kummervolle orientalische Pantomime, seltsam kontrastierend zum Elan der Worte, die er gesprochen hatte. – Nathan-Morelli – matt, aber aufmerksam – schaute auf diese klagend hin und her bewegten, höchst zerbrechlichen Finger. – »Werden Sie stark genug sein?« Er fragte es behutsam und schonend. »Ich meine – werden Ihre Hände kräftig genug sein für den Zimmermannsberuf?«

Über Davids zartes Wachsgesicht lief eine helle, geschwinde Röte, als würde sein Schamgefühl verletzt durch solchen Zweifel. Er reckte sich ein wenig und rief: »Es muß gehen – es muß! – Ich freue mich auf das neue Leben!« Dies behauptete er mit Nachdruck; wiegte aber jammernd Haupt und Oberkörper. »Wollen Sie Bilder von unserem Lager sehen?« Er kramte aufgeregt in den Jackentaschen; Nathan-Morelli mußte lächeln, weil David schon von »unserem Lager« sprach. – »Alles ist dort von den jüdischen Intellektuellen selbst fabriziert. Sie haben die kleinen Häuser selbst gebaut, in denen sie wohnen, und diese Tische, diese Schränke und Krüge: alles ihr Werk! Ist das nicht prachtvoll? Es muß ein wundervolles, tröstliches Gefühl sein, auf einem Stuhl zu sitzen, den man gezimmert hat, mit den eigenen Händen … Und wenn sie dann ausgebildet sind – wenn sie etwas Praktisches, Nützliches wirklich können – dann finden sie eine Stellung, irgendwo in der Welt – in Australien oder in Argentinien oder in Alaska – ganz egal, wo. Die Lagerleitung besorgt ihnen das. Der Mann, der das alles ins Leben gerufen hat, heißt Nathan: ein famoser Mensch, ich habe ihn kennengelernt; ein großer Organisator, ein aktiver Philanthrop. Er hat viele Existenzen gerettet; manches Leben, das sich schon selber aufgeben wollte, hat durch ihn einen neuen Sinn bekommen. Diese Leute mußten sich für überflüssig halten – niemand konnte sie brauchen, die Lumpenproletarier mit dem Doktortitel. Jetzt begreifen sie, daß niemand überflüssig ist, wenn er sich nur einzuordnen versteht. – Wir müssen den falschen Ehrgeiz ablegen wie ein schwarzes, feierliches Kleid, das bei der redlichen Arbeit nur stört. – Europa hinter sich lassen, seine schal gewordene Problematik überwinden; heimkehren zu den primitiven Formen des Lebens, die seine haltbarsten sind; Weib und Kind ernähren, für die Familie schaffen, wie der Bauer, wie der Handwerksmann im Dorf …«

Der Begeisterte schien zu vergessen, daß er weder Weib noch Kind sein eigen nannte; nicht einmal eine Braut hatte der arme David. Sein stiller Zuhörer dachte daran; hütete sich aber, ihn durch solchen Hinweis zu ernüchtern oder gar zu kränken. Vielmehr sagte Nathan-Morelli nur, leise und ernst: »Ich bewundere Ihren Mut. Ich selber bin alt und krank.« Dies war stolze, leidvolle Koketterie. Nathan-Morelli durfte noch als Mann in den besten Jahren gelten. Die Todesnähe, deren er sich feierlich-innig bewußt war, schenkte ihm freilich die Würde des Hochbetagten. »Wenn ich jünger wäre«, sagte er noch, und über das verfallene Buddha-Gesicht lief ein Schatten alter Ironien – »wer weiß: vielleicht folgte ich Ihnen nach …«

Dies kam wenig überzeugend heraus. David vermied es denn auch, darauf einzugehen. Er konstatierte nur noch – weniger erregt; gleichsam abschließend: »Man wird mutig unter dem Druck der Verhältnisse – womit ich auch die finanziellen Verhältnisse meine. Ich hatte ein bißchen Geld; es ist aufgebraucht. Den Comités mag ich nicht zur Last fallen. Es ist also nicht der Augenblick, wählerisch und delikat zu sein … Außerdem sehne ich mich unaussprechlich nach Ruhe.« Sein erschöpfter Blick und das überanstrengte Lächeln bestätigten, wie stark sein Ruhebedürfnis war. »Irgendwo muß es doch still sein …« Es klang mehr fragend als überzeugt. »Irgendwo, in einer wilden, reinen Landschaft – in einer Luft, die noch nicht vergiftet ist vom Lärm der Propaganda, von den Lügen der Politik. Ich träume von Urwäldern oder grenzenlosen Prärien, von Steppen oder Gebirgen … Die Gegend, die mir Heimat werden soll, mag öde sein; aber ich verlange Unschuld von ihr, wie von einer Frau. Die große Gabe, die ich von ihr erflehe, heißt: Stille …«

›Hoffnungslos‹, dachte Nathan-Morelli. ›Ein gescheiter Kerl, und so hoffnungslos romantisch … Ach, diese Deutschen! Ach, diese Juden! Ach, diese deutschen Juden …‹ – Der Kranke hatte ein Lächeln, in dem Spott und Mitleid sich mischten – ein sehr verächtliches, sehr mildes Lächeln. Schließlich sagte er, mit schwachem Achselzucken: »Ich fürchte, mein Lieber, Sie haben übertriebene Vorstellungen von der grenzenlosen Weite unseres Planeten. Er ist klein geworden. Die Zivilisation umspannt ihn, und mit ihren schätzenswerten Bequemlichkeiten sind überall ihre Probleme da. – Muß ich das Ihnen erklären, lieber Herr Doktor Deutsch?« Seine Stimme wurde strenger; bekam aber gleich wieder den wehmütig gedämpften Klang. »Sie glauben, anspruchslos geworden zu sein, verlangen aber in Wahrheit das Schwierigste, Kostbarste, Seltenste. Unschuld und Stille … wo finden wir die? – Doch nicht hier!« entschied mit spöttisch-mitleidsvollem Lächeln der Kranke. »Lieber, armer Freund – doch nicht hier …«

Nicht hier, doch nicht hier … Die paradiesisch unberührte Landschaft; das idyllisch-wackere Leben – karg und heiter zugleich – wie weit müssen wir reisen, wohin sollen wir fliehen, um ihm noch zu begegnen? – Glaubt David Deutsch an die Erfüllbarkeit seiner Träume? Er kann glauben, weil er glauben muß – die Not des Herzens, des verwirrten Geistes, wie auch seine ökonomische Situation zwingen ihn zum Letzten, Äußersten. Er wendet sich – mit höflich-schiefen Bücklingen, aber doch entschieden – von dieser Zivilisation; denn auf ihr liegt ein Fluch. Das ist die Erkenntnis, zu der lange, angestrengte Studien ihn schließlich gebracht haben.

Die Zivilisation – im Stich gelassen, aufgegeben von ihren klügsten, aufmerksamsten Söhnen – scheint nach dem eigenen Untergang zu lechzen. Lange genug hat sie sich üppig entfaltet, jetzt aber will sie heim, zurück, in den Urwald – mit ihren eigenen Mitteln, mit dem Raffinement ihrer triumphierenden Technik hebt sie sich selber auf. Noch einmal entfaltet sie sich aufs eindrucksvollste, ihre Apokalypse ist pittoresk – großes Schauspiel, glänzend inszeniert – in schaurig-imposanten Bildern führt sie sich zu Ende. »Der totale Krieg«: blutrünstige Intellektuelle, späte Erben des abendländischen Geistes – hysterisch entartet, völlig ruchlos geworden – haben ihn eifrig genug propagiert, seine stählern vernichtende Schönheit in schrillen Tönen besungen. Paßt auf: er wird das Überraschendste zu bieten haben, dieser vielgerühmte »totale Krieg«! Feuerwerk ohne Beispiel, infernalische Ausstattungsrevue grandiosen Stils wird er sein! In fulminantem Tempo wird unsere Zivilisation zugrunde gehen – dies ist ihre letzte Ambition. Schnelligkeitsrekord der Vernichtung; Organisation der Katastrophe; Virtuosität des Massenmordes: das ist es, wozu die Patrioten sich fiebrig rüsten.

Die Vorbereitung des totalen Krieges muß notwendig eine totale, umfassende sein. Nicht nur ökonomisch, politisch, militärisch organisiert man die Katastrophe; auch moralisch und psychologisch soll die Menschheit reif gemacht werden zum großen Rückfall ins Barbarische, zur schauerlichen Heimkehr in Nacht und Tod. Alte Vorurteile könnten störend wirken, die Tradition der menschlichen Gesittung wird zum hemmenden Ballast, »Freiheit« und »Barmherzigkeit« sind skandalöse Vokabeln, sowohl lächerlich als auch kriminell – weg damit! Endlich zum Teufel mit ihnen! Wir sind die Teufel, sind der Antichrist – empfinden die regierenden Mörder. Von dem Höllenlärm, den wir verbreiten, werden die zarteren Stimmen verschlungen, jede Warnung muß untergehen, und ungehört verhallt jede Klage. – ›Machen wir euch die Erde zur Hölle?‹ fragen mit lustiger Neugier die Teufel. ›Nur Geduld, Kinderchen! Wir sind erst am Anfang. Es soll noch unvergleichlich toller kommen!‹

Es soll noch toller kommen, ist aber schon toll genug. Das Training zur Katastrophe hat seinerseits schon katastrophalen Charakter. Die Menschen gewöhnen sich an die eigene Entwürdigung, an den Verlust der Freiheit, die Ungewißheit und permanente Gefährdung des Lebens. Das Menschenleben wird zur Bagatelle; ehe man es noch vernichtet, beraubt man es seines Wertes – wer nichts mehr zu verlieren hat, fürchtet nichts; der Sklave freut sich auf den Weltuntergang …

›Treiben wir dem Pack zunächst die Menschenwürde aus!‹ beschließen die regierenden Mörder. Mit Folterinstrumenten alter und neuester Konstruktion, mit Konzentrationslagern, Propagandageheul und straffer Zucht wird sie schnell erledigt. Auch Bombenflugzeuge werden gelegentlich schon verwendet – um des Trainings willen, und um den Widerspenstigen zu beweisen, über welch famosen Apparat wir verfügen.

Nicht nur Bobby Sedelmayer, der unverwüstliche Bonvivant, hörte die Explosivstoffe krachen. Dem gleichen Lärm lauschten Mutter Schwalbe, das Meisje und Dr. Mathes: das geschah in Barcelona, März des Jahres 1938. Zahlreiche Bomben fielen, es war eine Generalprobe, die fast schon der Monstre-Gala-Aufführung glich. »Verdammt noch mal!« murmelte Mathes. Die zwei Frauen schwiegen; das verwitterte Kapitänsgesicht der Schwalbe war fahl, man hatte es noch nie so gesehen: unter dem borstigen weißen Haar glich es plötzlich dem Gesicht einer uralten Frau. Die letzten Wochen hatten ihr zugesetzt, es hatte harte Arbeit gegeben, und sie war kein Kind mehr, unsere Schwalben-Mutter. Ihr Blick war zugleich härter und sanfter, strenger und tiefer geworden; die Vertrautheit mit dem Tode hatte ihn verändert. Nun also surrten sie wieder über der schönen, tapferen, viel gequälten Stadt Barcelona – die schwarzen, wendigen Todesvögel; die schrecklichen Maschinen deutscher und italienischer Konstruktion. Die Sirenen heulten – aber zu spät, es hatte schon gekracht, dies war schon der Höllenlärm der Zerstörung, die Leute von Barcelona erreichten die Unterstände nicht mehr, man hatte sie überrascht – welch ein Spaß! Welch geglücktes kleines Experiment! Kinder winden sich in ihrem Blute, man hat sie auf offener Straße erwischt, die roten kleinen Bestien! Noch eine Bombe – solid-preußisches Fabrikat – eine Mietskaserne stürzt zusammen wie ein Kartenhaus. Hier wohnten Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Familien waren hier glücklich oder zankten sich, waren arm oder in leidlich guter Situation – was geht es uns an! Keine Sentimentalitäten! Hin ist hin, nichts ist billiger und leichter zu ersetzen als ein paar Dutzend Menschenleben – lohnt es sich, die Leichen unter den Trümmern hervorzuziehen? Man kann sie nicht mehr erkennen; sie sind verstümmelt, beinah plattgedrückt – da seht ihr, was die Menschenwürde ist! Haben diese komischen Kadaver noch Würde? Lacht doch über sie! Kichert, frohlockt über die komplette Entwürdigung! Wer weint hier? Wer ist altmodisch, ahnungslos genug, noch Tränen zu vergießen angesichts eines so natürlichen, heiteren, durchaus modernen kleinen Zwischenfalles? – Nehmen Sie sich doch zusammen, Fräulein! Sie scheinen zu vergessen, in welcher Zeit Sie leben! Das Gebot der Stunde heißt: Entmenschlichung; Verhärtung des Herzens … Voici le temps des assassins! Sie werden ja zum öffentlichen Gespött, dumme Gans!

Wir kennen die Weinende, es ist das Meisje, sie irrt mit ihren zwei Kameraden, der Schwalbe und Dr. Mathes, vor den aufgerissenen, zerfetzten, rauchenden, brennenden Häusern. Ganze Straßenzüge sind in Trümmer gelegt, die Häuser stehen schauerlich geöffnet, ihre Vorderwand ist abgefallen, schamlos enthüllen sie ihr Inneres, ihr Eingeweide: man kann in die Stuben sehen wie auf kleine Bühnen. Noch immer stürzen Treppen oder Mauern ein. Das fallende Gestein donnert wie eine Lawine. Die Verwundeten schreien, manche wimmern nur noch, andere schweigen. Die Toten schweigen. Es schweigen auch die Leute von Barcelona – die Bürger der Märtyrerstadt. Stumm irren sie zwischen den Trümmern.

Das Meisje aber vergießt Tränen. Man muß es ihr verzeihen, sie ist überanstrengt und übrigens halb verhungert. Es gibt nicht mehr viel zu essen in der schönen Stadt Barcelona. Sie taumelt, Mathes und Mutter Schwalbe halten die Sinkende.

»Meisje … liebes Meisje …« flüstert Mathes. Er liebt sie, er ist ihr Gatte, sie sind glücklich gewesen. Er streichelt ihre Wangen, ihr zerzaustes Haar. Seine Hand zittert. Wenn er nur eine Zigarette hätte! Er hat seit Tagen keine Zigarette gehabt, die Gier nach dem Nikotin ist viel ärger als Hunger. – »Meisje … aber Meisje!« wiederholt er und zieht sie an sich; sie gleitet beinah willenlos in seine Arme. Dort ruht sie, mit geschlossenen Augen, das blasse schöne Gesicht naß von Tränen.

Was aber ist nun in die Schwalben-Wirtin gefahren? Sie läßt Meisje los – das kann sie riskieren: Mathes stützt und hält seine Frau – sie eilt davon, die würdige Matrone macht große Schritte – es ist halb ein Marschieren, halb ein Hüpfen: überraschende Gangart für eine weißhaarige Alte. Der feldgraue Soldatenmantel, den sie trägt, reicht ihr fast bis zu den schweren, schmutzigen Stiefeln. Der Mantel ist ihr zu weit, er flattert, da sie nun hüpft und stapft. Was haben ihre scharfen Augen – die Kapitänsaugen unter buschigen Brauen – denn entdeckt? Warum eilt sie so? Hier gibt es doch nichts als Trümmer …

Noch hat sie nicht gesehen, nur gehört. Sie läuft dem leisen Weinen eines Kindes nach. Sie lauscht und rennt. Aus dieser Richtung ist das rührende Geräusch, die kleine Klage des Kindes gekommen … Die Schwalben-Mutter sieht sich gezwungen, über eine Leiche zu steigen, wie über einen gefallenen Baum. Der Tote starrt ihr aus aufgerissenen Augen nach, die Schwalben-Mutter erschrickt, sie hat Angst, sie bemerkt nicht, daß sie in eine Blutlache getreten ist: nun gibt es auch noch rote Flecken an ihren Stiefeln, neben den erdigen Krusten.

Gleich aber wird sie das blicklose Starren des Toten vergessen dürfen; denn dort sitzt das Kind – klein, rundlich und wohlerhalten, unter gestürzten Steinen, wie in einer Nische. Ein ganzes Haus ist zusammengestürzt, seine Einwohner sind getötet, wie viele mögen hier begraben sein! Dieses Kind ward verschont. ›Ein Wunder!‹ empfindet die alte Frau. Sie ist niemals fromm gewesen, der Hang zum Mystischen liegt ihr fern, nun aber fühlt sie: ›Gott sei Lob und Dank! Er hat ein Wunder getan!‹

Dieser kleine Mensch sollte gerettet werden, das berstende Gemäuer durfte ihn nicht verletzen, kein Haar auf seinem runden, glatten Köpfchen ward vom Feuer versengt. Der kleine Mensch indessen zeigt keine Dankbarkeit; vielmehr scheint er recht ärgerlich über die Störung. Er schüttelt die Fäustchen und läßt die Unterlippe beleidigt hängen. Wo ist seine Mutter? Sie hatte gerade eine Tasse voll Milch vor ihn hingestellt – für kleine Kinder hat die Stadt Barcelona noch etwas Milch reserviert. Dann gab es diesen abscheulichen Lärm, und der gefüllte Napf verschwand, gleichzeitig mit der Mama, die ihn gehalten hatte.

Das Bübchen beruhigt sich, da es von der Schwalben-Mutter hochgehoben wird. Mit behutsamem, festem Griff hält die weißhaarige Deutsche den kleinen Bürger von Barcelona. Vor seinen großen, runden, goldbraunen Augen steht plötzlich – erstaunlich weitflächig, drollig und vertrauenerweckend – ein Gesicht mit vielen Runzeln und Falten, ein braves altes Gesicht, eine strahlende Miene. Die Augen der Schwalben-Mutter leuchten. Da lacht auch der Kleine. Er kichert, er quietscht vor Vergnügen. Seine weiche, zarte, unversehrte Wange schmiegt er an ihre harte, verwitterte. Seine winzigen, runden Finger zausen ihr borstiges Haar. Es ist lustig, mit dem harten, weißen Haar zu spielen. Das Haar seiner Mutter war schwarz und weich. Wo ist die Mutter? Der kleine Bürger von Barcelona hat sie schon vergessen. Er ist grausam. Er amüsiert sich. Er denkt nicht mehr an die gute Milch, die vergossen wurde, und er weiß nichts von dem vergossenen Blut.

Die Schwalbe, mit ihrem kostbaren Fund, ist zurückgekehrt zu Dr. Mathes und seinem Meisje. – »Dem Kleinen ist nichts geschehen!« Alle drei bestätigen es immer wieder, sie können es gar nicht fassen, ihre Freude ist groß. Das Meisje hatte schon zu weinen aufgehört. Nun aber sind ihr die Augen wieder naß geworden. – »Wie niedlich er ist! Sieh doch – die kleinen Hände! Es ist ihm gar nichts geschehen!«

›Es wird ihr doch nichts geschehen sein?‹ dachte Professor Samuel. Er meinte das arabische kleine Mädchen, mit deren Porträt er beschäftigt war. Um vier Uhr hatte sie zur Sitzung kommen sollen, und jetzt war es beinah sechs. In den Straßen von Jerusalem hatte man heute wieder geschossen; der Krieg zwischen Arabern und Juden hörte nicht auf, die Soldaten Seiner Britischen Majestät mußten eingreifen. Wenn dem hübschen kleinen Mädchen nur nichts passiert war! Sie hat so reizvoll geschnittene Augen, ein so liebes Lachen und oft so kindlich ernste, weise, rührende Blicke – es wäre schade um sie. Übrigens ist das große Porträt, das Samuel vor zwei Monaten begonnen hat, noch lange nicht fertig. Der Meister läßt sich Zeit; er arbeitet gemächlich und mit Genuß – immer verliebter ins Detail; tiefer bezaubert denn je vom Reiz der Farben. Zuweilen denkt er: ›Die »Junge Araberin mit weißen Blumen« wird vielleicht mein letztes Bild sein. Jedenfalls ist es mein schönstes. Ich bin auf der Höhe – was wohl bedeutet, daß ich nah dem Ende bin. Nach einer Übung von fünfzig Jahren, nach dem Training eines langen Künstlerlebens, fange ich endlich an, zu begreifen, was Farben sind … Wenn man’s begriffen hat, malt man das schönste Bild; ist aber innerlich schon darauf vorbereitet, den Pinsel nächstens wegzulegen.

Heute wird die Kleine also nicht mehr kommen; wahrscheinlich hat sie mich einfach versetzt; ist mit einer Freundin ins Kino gegangen oder mit einem Freund. Übrigens könnte ich jetzt doch nicht mehr arbeiten; das Licht ist schwach geworden – welch ein blasses Licht, in welch fahlem Glanz stehen die Dinge!

Jerusalem ist schön zu dieser Stunde; die Heilige Stadt hat viel feierlich-traurige Schönheit, zu Anfang war ich glücklich hier – beinah glücklich; mir gefielen die jungen Leute; ich dachte: etwas ganz Neues entwickelt sich hier, die Wiedergeburt, die vielversprechende Renaissance einer Rasse; die jungen Juden – dachte ich erfreut – haben keinen scheuen Blick, keinen gebückten Gang mehr; sie schauen mutig um sich, tragen den Kopf hoch, ein neues Selbstbewußtsein gibt ihnen neue Würde. Und wie sie arbeiten können! Ich beobachtete sie auf den Feldern, an den Neubauten, an den Maschinen; ich sah ihnen auf den Sportplätzen zu. Ich zeichnete sie in den schönen Posen der Arbeit und des Vergnügens. Ich war stolz auf sie. Ich fühlte: Es ist gut, einer von ihnen zu sein. Ich gab mir Mühe, etwas Hebräisch zu lernen. Man ließ mich ein Fresko für eines ihrer neuen Gebäude entwerfen. Ich wollte ein guter Bürger unseres alten, neuen Landes sein.

Das war zu Anfang, in den ersten Wochen. Seitdem habe ich viel gesehen – zu viel, und nicht alles war gut. – Bin ich enttäuscht? Es wäre eine Schande, dies zuzugeben. Das Leben ist überall interessant, es hat überall Farbe, es kann nie enttäuschen. Langweilig und schlimm sind nur die kleinen – oder großen – Probleme, mit denen die Leute sich ihr Leben vergällen: lauter erfundene Sorgen, abstrakte Komplikationen – sowohl stumpfsinnig als auch gefährlich; beunruhigend und öde zugleich. Oh, über diesen Dünkel der Klassen, Rassen, Religionen! Über all diese Trennungen, Unterscheidungen, Isolierungen! Geschwätz ohne Ende – unfruchtbar, eitel und monoman! Ich bin seiner müde, es ekelt mich an. Jüdische Freunde nehmen mir übel, daß ich das Porträt einer kleinen Araberin male: es scheint ihr nationales Ehrgefühl, ihren »jüdischen Stolz« zu beleidigen. Wie mesquin – und wie dumm! Sind die Lippen und die Augen dieses Kindes weniger lieblich, leuchten die Blüten zwischen ihren Fingern minder stark, weil die Juden und die Araber sich um ein Stück Erde zanken …? Ich gewöhne mich nicht mehr an das Pathos der modernen Unduldsamkeit. Die dogmatische Unerbittlichkeit der jungen Generation langweilt mich bis zu Tränen und tut mir weh, wie eine lange Behandlung beim Zahnarzt. Die Deutschen verachten die Juden, die Juden verachten die Araber, und übrigens polemisieren sie auch untereinander: den Juden aus Frankfurt am Main sind ihre Brüder aus Krakau oder Bukarest nicht gut genug, die Sozialistischen sind gegen die Liberalen, und die orthodox Nationalen sind gegen den ganzen Rest. Warum versuchen sie das ordinäre Pack, das uns aus Deutschland vertrieben hat, an Unduldsamkeit und Roheit zu übertrumpfen …? In Mallorca haben die Faschisten mich an die Wand gestellt – aus purer Schelmerei, nur um sich über die Grimassen zu amüsieren, die ich schneiden würde. Ist dies der Humor des zwanzigsten Jahrhunderts …? Und hier werde ich fast boykottiert, weil ich gute Freundschaft mit den Arabern halte. Es ist betrüblich, die Menschen solcherart herunterkommen zu sehen. Schon verändern sich auch die Gesichter – nicht zum Vorteil, wie sich versteht. Rohe Mienen, ohne Reiz und Geist – mir, dem Maler, fallen sie peinlich auf. Die Menschen anderer Jahrhunderte zeigten edler geformte Stirnen, Nasen und Hände. Wird die Menschheit häßlich, wie eine geistlose Frauensperson, die ohne Charme altert? Sie schminkt sich jugendlich frische Backen, wodurch sie noch gemeiner und verbrauchter wirkt. Es wäre ganz trostlos – wenn nicht auch noch andere Typen vorkämen. Mein väterliches Malerauge entdeckt sie gleich, prüft sie mit Wohlgefallen und freut sich ihrer. Zuweilen erscheint ein Antlitz in der Menge – hier, oder sonst irgendwo – es ist stolz und rein; es hat den Schimmer der Unschuld, samt der Würde, die nur das überstandene Leiden verleiht. Ich sehe es und finde mich neu entflammt, neu verliebt – unersättlicher alter Liebhaber des Menschenantlitzes, der ich bin.

So wäre noch nicht alles verloren? Sind neue Kräfte im Anrücken? Formiert sich eine neue Elite? Ist eine neue Schönheit im Entstehen begriffen?

»Zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.« – Wo habe ich das neulich gelesen? Bei Nietzsche.

Ich will mich ans Fenster setzen und das letzte Licht dieses Tages zur Lektüre nutzen. Aber es ist nicht die Zeitung, die mich lockt; nicht das politische Magazin. – In Nietzsches Nachlaß finde ich die Stelle:

»Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich der Masse als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten …«‹

Der alte Mann am Fenster blieb unbeweglich, die erfahrene Stirn über die Seiten des Buches geneigt. Indessen las er nicht weiter. Die Augen träumten, und um den blassen, sinnlichen Mund lag ein Lächeln – sehr trauervoll und nicht ohne Hochmut.

›Wir sind Emigranten … Wie recht hat der kranke Weise! Und wie weise ist er gewesen, solche Erkenntnis für sich zu behalten, solange er lebte: erst im »Nachlaß« wurde sie publik. Hat man ihn ganz verstanden? Fühlt man Stolz und Schmerz seiner Klage? Denn es ist eine Klage, sie enthält auch Heimweh, die Isoliertheit tut weh, es ist kein leichtes Los: sich von der Gemeinschaft zu distanzieren – und sei es selbst von einer schäbigen, erbarmungswürdigen Gemeinschaft. Dies gesteht der kranke Weise, indem er das Wort »Emigranten« wählt, um seinen Zustand, Hochgefühl und Pein seiner seelischen Situation zu beschreiben. »Wir sind Emigranten …« Es liegt Resignation in der Formulierung, neben dem Schmerz und dem Stolz. Siegesgewissere Bezeichnungen wären leicht zu finden gewesen – gar zu leicht, wie dem anspruchsvollen Weisen scheinen wollte. Er bevorzugte die genaue, realistische, nicht sehr dramatische Definition: wodurch er sich nicht nur als Stilist äußersten Ranges, sondern auch als Prophet erwies – wie schon bei anderen Gelegenheiten. Wußte er denn voraus, was bevorstand? Kannte er unser Schicksal? Er erschauerte vor Katastrophen, deren Opfer wir erst werden sollten. Den Philosophen der »Macht« konnte nichts überraschen: er hatte die Abgründe in sich, vor denen er warnte; er selbst war Teil des Unheils, gegen das er seherisch sich empörte. Er wußte Bescheid – selbst über den vulgären Mißbrauch, den man treiben würde: mit seiner Lehre und mit seinem Martyrium. Er hat sich zu uns bekannt – ja, zu uns! Zu den Emigranten!‹

Der alte Mann dachte: ›Keine komfortable Existenzform, zu der sich der Weise entschloß! Irdisches Glück erschien ihm kaum sehr erstrebenswert, nicht einmal an irdischer Würde war ihm gelegen; er hätte es entschieden besser, glänzender haben können, bei seinen Talenten. Mit den Emigranten ist nicht viel Staat zu machen. Um die Wahrheit zu sagen: die meisten von ihnen sehen recht erbärmlich aus. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel meinen Freund Siegfried Bernheim – eine äußerst repräsentative Figur. Was treibt er denn eben jetzt? Spielt er Bridge mit dem Bundeskanzler von Österreich?‹

Professor Samuel hatte lange keine Zeitungen gelesen und keine Menschen gesehen, außer einer kleinen Araberin mit süßen Augen und Lippen. Sonst hätte ihm sehr wohl bekannt sein müssen, daß der Bundeskanzler von Österreich durchaus nicht in der Stimmung und nicht einmal in der Lage war, mondänen Vergnügungen nachzugehen – die ihn übrigens niemals gelockt hatten.

Was den Bankier Siegfried Bernheim betraf, so war er, zu seinem Kummer, dem Herrn Bundeskanzler niemals vorgestellt worden. Freilich hatten zu seinem intimeren Umgang verschiedene Herren gehört, die ihrerseits Seiner Exzellenz nahestanden. Vor allem die beinah freundschaftliche Beziehung zu hohen klerikalen Würdenträgern hatte dem Bankier recht herzlich wohlgetan. Stolze, wohlige Gefühle bewegten ihm die Brust, wenn er sich mit legitimen Grafen, klugen und gewandten Priestern abends traulich unterhalten durfte. Jeden, der pessimistisch war, was die Zukunft Österreichs betraf, wies er würdig zurecht. Felsenfest war Bernheims Überzeugung: ›Diesmal habe ich aufs richtige Pferd gesetzt. Über uns hält der Vatikan seine schützende Hand – und außerdem gibt es noch Mussolini. Auf die Unabhängigkeit Österreichs kann er nie verzichten: wenn Deutschland den Angriff wagte, der Duce ließe am Brenner mobilisieren, wie auch früher schon. Meine trüben Abenteuer von Mallorca werden sich keinesfalls wiederholen.‹

So zuversichtlich war der Bankier, dessen intellektuelle Kräfte sich von dem Mallorquiner Schock niemals ganz erholt hatten. Er spielte eine Rolle in der guten Wiener Gesellschaft. Seine Villa, außerhalb der Stadt, war ein Treffpunkt einflußreicher Leute. Man fand die Küche vorzüglich; die Bilderkollektion beachtenswert. Niemand zweifelte die Echtheit des Greco an, und man war liberal genug, sich an dem sinnlichen Reiz des Renoir zu entzücken.

Bernheim blieb optimistisch, bis zum bitteren Ende. Der Bundeskanzler tat die schauerliche Fahrt nach Berchtesgaden; das Plebiszit, das die Nazis erledigen sollte, ward kühn beschlossen – und abgesagt. Bernheim sagte: »Es gibt immer noch Mussolini!«

Indessen bekam er Anlaß zu schmerzlichster Verwunderung. Nur die deutsche Armee marschierte, während die italienische sich durchaus still verhielt. Österreich wehrte sich nicht, Frankreich hatte Kabinettskrise, Europa beobachtete mit ehrfurchtsvoller Spannung die historischen Vorgänge, der Führer und der Duce wechselten fröhliche Telegramme. Bernheims einflußreiche Freunde wurden verhaftet oder waren schon abgereist, mehrere von ihnen erschlug man, alle galten jetzt als Vaterlandsverräter, weil sie ihrem Vaterland nach bestem Wissen und Gewissen gedient hatten. Bernheim – guter Katholik und österreichischer Patriot – erkannte endlich mit Grauen: ›Ich habe mich wieder verrechnet, es geht noch einmal schief. – Gibt es denn keine stabilen Werte mehr in dieser zerrütteten Welt?‹ – grübelte der fassungslose Bankier. ›Hält sich nicht einmal Mussolini …? Dem Himmel sei gedankt, daß ich Geld in England habe! Ich reise nach London, lieber heute als morgen …‹

Er klingelte dem Kammerdiener, damit er ihm die Handkoffer packe. Der Bursche war in die Stadt gegangen, ohne erst Erlaubnis einzuholen. Bernheim mußte sich seine Sachen selbst zusammensuchen. Ein paar kostbare Kleinigkeiten – schwere Manschettenknöpfe; Krawattennadel mit großem Diamanten – steckte er sich in die Tasche – für alle Fälle. ›Die Möbel und Bilder werde ich mir hoffentlich nachkommen lassen können.‹ Er hatte Tränen in den Augen, als er Abschied von dem Greco nahm, den Professor Samuel für eine Fälschung hielt. – ›Das französische Transitvisum werde ich wohl kriegen‹, meinte er. ›Der Generalkonsul ist einer meiner guten Freunde … Nur ein Glück, daß meine Steuerangelegenheiten in Ordnung sind! Es gibt keinen Vorwand, mich zurückzuhalten …‹

Er ließ den Wagen vorfahren und wunderte sich beinah, daß der Chauffeur zur Stelle war, in seiner adretten, kleidsamen Uniform. Übrigens sah der junge Mann verdrossen aus. »Wir fahren zum französischen Konsulat«, bestimmte Bernheim, mit einer Stimme, die immer noch kräftig und salbungsvoll klang.

Wie schauerlich hatte Wien sich verändert: über Nacht, ganz ohne Übergang und Vorbereitung, hatte es ein fremdes und bedrohliches Gesicht bekommen. Überall wehten die Hakenkreuzfahnen, und Figuren machten sich breit, die sonst höchstens im Halbdunkel sichtbar geworden waren. Die meisten trugen Uniformen, breite Armbinden und farbige Hemden. Sie blickten angriffslustig und tückisch. Ihr Grinsen war triumphierend, gleichzeitig aber feige; sie schienen sich der neuen Macht noch nicht ganz sicher zu sein. Echte Triumphatoren tragen die Häupter stolzer und schöner gereckt. Diese duckten die breiten Nacken, als erwarteten sie Schläge von oben. ›Mörder …‹, dachte beklommen Herr Bernheim in seiner Limousine. ›Sie sehen alle wie Mörder aus. Was ist aus meinem schönen, frommen, konservativen Wien geworden?‹ – Sogar die Lieder, die gesungen wurden, klangen grauenvoll. Jubelrufe, dünn und schrill, ließen sich hören. Eine ältere Frauensperson schrie mit zänkischer Stimme in Bernheims Wagen hinein: »Heil Hitler!« Er hob matt den Arm; mit dem anderen zog er den seidenen Vorhang vor das Fenster des Coupés.

Indessen hielt das Gefährt vor dem Konsulat. Bernheim konnte sich noch nicht gleich zum Aussteigen entschließen. Er lüftete den Vorhang ein wenig; was er sah, war erschreckend. Vor dem Haus mit der französischen Flagge standen die Leute Schlange – eine lange, stumme Reihe auf das Trottoir hinaus. Bernheim bemerkte respektable Herren, die er kannte. Sie standen gebückt, den Hut tief in die Stirn gezogen. Wie bleich sie alle waren – und die Gesichter schienen von Angst verzerrt.

Es gab Grund genug, sich zu fürchten. Der Menschenauflauf um die Wartenden wurde immer dichter. Weiber, Burschen, Kinder blieben stehen – Arme in die Hüften gestemmt, und die Mäuler höhnisch aufgerissen. Sie kreischten Beleidigungen: Bernheim hörte es durch die Fensterscheibe. Es war eine dicke Frau in blauer Schürze, die einen der Juden an den Schultern packte. Erst schüttelte sie ihn ein wenig – es wirkte fast neckisch, besonders weil die Frau so vergnügt dazu kicherte. Indessen blieb der Herr schrecklich ernst; wehrte sich auch nicht, bekam vor Angst geweitete Augen. Es wurde stärker gelacht; die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als die Dicke dem Bankdirektor – einem von Bernheims einflußreichen Freunden – mit flacher Hand ins Gesicht schlug. Auch diese Ohrfeige hatte noch scherzhaft-intimen Charakter. Indessen reagierte die Menge, als hätte der Bankdirektor seinerseits die Frau mißhandelt. Mehrere Männer stürzten sich auf ihn, er ward von ihren Leibern zugedeckt, dem Pöbel entging der amüsante Anblick seines Falles. Hingegen konnte man ihn jammern hören. Die Prügel, die er jetzt bekam, waren ernst; vielleicht waren sie tödlich. Bernheim sah das Gesicht seines alten Freundes nicht mehr.

Die Leute applaudierten: hier ward gute Arbeit getan. Sie heulten: »Saujud! Menschenschinder!« Das Goldene Wiener Herz war in Aufruhr, die Wiener Gemütlichkeit tobte, der Stephansturm schaute zu. »Immer feste druff!« verlangte schneidig eine Männerstimme mit dem preußischen Akzent, der hier früher kaum beliebt gewesen war. Jetzt aber nahm niemand Anstoß; man war in festlicher Stimmung, durchaus bereit, das alte Vorurteil aufzugeben, und übrigens vom Ehrgeiz erfüllt, selber »schneidig« zu werden. »Immer feste druff!« kreischte das Goldene Wiener Herz – der Berliner Tonfall klang noch nicht ganz natürlich aus dem Munde der Österreicher; aber sie würden es lernen, waren der besten Absichten voll – und prügeln konnten sie jetzt schon wie die deutschen Brüder in Dachau oder Oranienburg: dies bewiesen die uniformierten Burschen, lauter echte Wiener Kinder, tapfere Kerle – zehn junge Athleten gegen einen kränklichen alten Israeliten – immer feste druff!

Bernheim sagte mit bebenden Lippen zu seinem Chauffeur: »Fahren Sie weiter!« Er dachte: ›Ich werde mit dem französischen Konsul telefonieren; ich schicke ihm einen Boten; er gibt mir das Transitvisum – er muß es mir geben – ich muß fort – der Konsul hat bei mir zu Abend gegessen, er kann nicht dulden, daß ich hier erschlagen werde wie ein toller Hund …‹

Er wiederholte: »Ich bitte Sie – fahren Sie weiter!« Der Chauffeur antwortete ihm mit einem trüben Blick über die Schulter. Der Wagen war schon umringt; Bernheim begriff: Ich bin in der Falle, bin ausgeliefert, am Ende. – Der Chauffeur schaute ihn an, mitleidig und verächtlich. Bernheim erinnerte sich plötzlich, in all seiner Angst: Der Chauffeur war ein Sozialdemokrat, er hatte im Februar 1936 gegen die Truppen der Regierung Dollfuß gekämpft, er hatte die Regierung Schuschnigg gehaßt, er verabscheute auch die Nazis, er war nicht für die Restauration, er war für die Republik. »Im Februar 1936 haben wir Österreich verloren!« Diese Worte hatte Bernheim von ihm gehört – jetzt fielen sie ihm ein. Der Chauffeur sah ihn an; sein Gesicht blieb starr, als die Tür des Wagens aufgerissen wurde.

Ein Arm mit Hakenkreuzbinde langte in den Wagen; ein entmenschtes Gesicht ward sichtbar. – »Sind Sie auch ein Jud?« – Welch entsetzliche Stimme! Der Atem, der zu ihr gehörte, stank nach Bier. Herrn Bernheim wurde sehr übel; er fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Ich bin Ausländer!« brachte er hervor. Die Antwort war nur ein dröhnendes Gelächter. »Das kann jeder sagen!« höhnte die stinkende Stimme. »Was für einen Paß hast du dir denn gekauft, du Hund?« – »Ich bin Bürger des Fürstentums Liechtenstein!« Bernheim machte eine letzte Anstrengung, seine Würde zu wahren und sowohl gütig als auch kräftig zu wirken. Indessen ward das Gelächter noch wilder. Der Mann, der Bier getrunken hatte, ließ dumpfes Jubeln hören. »Hoho! – Und so was fährt in einem dicken Packard rum!« – als ob es gerade für einen Bürger von Liechtenstein besonders unpassend wäre, in einem luxuriösen Automobil zu sitzen.

»Die Koffer hat er auch schon mitgenommen!« stellte erbittert ein verwelktes Frauenzimmer fest: es war die gleiche, die vorhin so zänkisch den Führer hatte hochleben lassen. Der Biertrinker machte plötzlich ein strenges Beamtengesicht. »Wahrscheinlich Steuerhinterziehung!« behauptete er völlig sinnlos und sah tugendhaft aus: eine Stütze der Ordnung, legitimer Verteidiger staatlicher Interessen. – »Das werden wir ja gleich haben!« brüllte er, die Miene purpurn verfärbt. Er riß Bernheim aus der Limousine – ihn mit beiden Armen umfassend, wie zu einer mörderischen Liebkosung.

Siegfried Bernheim, zu Boden geschleudert, berührte das Straßenpflaster mit seiner Stirn. Er kauerte wie ein Orientale in der Pose der Andacht. Die Hände hatte er vors Gesicht gelegt; zwischen seinen dicken Fingern quoll der rosig-graue Bart hervor. Er hielt still; er wußte nur noch: ›Sie werden mich schlagen …‹ Da spürte er schon den ersten fürchterlichen Hieb im Nacken. Es mußte ein Gummiknüppel sein, von dem er getroffen wurde. Bernheim hatte in seinem Leben noch niemals solchen Schmerz gekannt. Er dachte: ›Ich will nicht schreien. Das Gesindel soll mich nicht weinen hören …‹ Gleichzeitig aber ward ein Wimmern laut – ein fremdes, kindisches kleines Wimmern: er erkannte es nicht, und doch kam es aus seinem Munde. ›So ist das also‹, fühlte er, halb betäubt. ›So ist es, wenn man geschlagen wird mit einem Gummiknüppel. Man kann den Hals nicht mehr rühren, er wird heiß und steif, wahrscheinlich wird es eine große Beule geben – mein Gott, tut das weh; man bekommt nasse Augen, und man wimmert, ob man will oder nicht.‹ – Die Beobachtungen waren interessant, wenngleich schaurig. Übrigens blieb eine gewisse Neugierde wach in dem gemarterten Kopf. Bernheim fragte sich: ›Was werden sie jetzt mit mir machen? Sie haben mich geschlagen; vielleicht töten sie mich …‹

Sie hatten noch allerlei mit ihm vor. Die Verwelkte mit der zänkischen Stimme forderte animiert: »Er soll putzen! Den Boden soll er aufputzen, die Plakate von der Vaterländischen Front soll er wegputzen von der Mauer! Auf der Ringstraße drüben haben die Saujuden auch putzen müssen!« Sie schien entzückt von ihrem kleinen Einfall; ihre Stimme krähte vor Begeisterung. »Ich habe lang genug die Böden aufgewischt!« erklärte sie noch. »Bei einem Juden – ja, so hat eine Volksgenossin sich erniedrigen müssen! Jetzt sind aber die an der Reihe! Putzen soll er – putzen – putzen!!« jauchzte sie mit ekstatischem Eigensinn. Bernheim, aufs Pflaster gekauert, dachte: ›Die Plakate von der Vaterländischen Front? Sie können doch gar nicht fest an den Mauern kleben; sind doch nur dünnes Papier … Was war denn die Vaterländische Front? Ach ja – das falsche Pferd, auf das ich gesetzt habe. Fünfundzwanzigtausend Schilling hab ich für sie gegeben – das Geld hätte ich besser verwenden können – warum schreit die Person eigentlich immerfort, ich soll putzen?‹

Der Vorschlag der verwelkten Haushälterin wurde allgemein verständig gefunden; gleich schrie die Menge im Chor: »Putzen soll er! Putzen!« Sogar Herrn Bernheims Chauffeur schrie mit, sonst wäre er wohl seinerseits verprügelt worden, man hatte ihn schon »Judenknecht« genannt; einige meinten sich zu erinnern: »Das ist so ein alter Sozi!« Sollte er Schläge riskieren, wegen des Bankiers? Nichts konnte ihm ferner liegen; lieber rief er, mit den anderen: »Putzen soll er!« – übrigens mit etwas gedämpfter, brummender Stimme. Sein Gesicht blieb starr und verächtlich. Er dachte: ›Blöde Hunde! Meint ihr wirklich, euch wird’s künftig besser gehen, weil ihr heute ein paar Juden schikanieren dürft? Glaubt ihr, das ist die Revolution? Daß ihr euch so anschwindeln laßts! Schön blöd müßts ihr sein! Zum Menschenfeind könnt man werden …‹

Angesichts des wimmernden alten Mannes, der wie in jammervoller Andacht hockte, ward das Goldene Wiener Herz übermütig und einfallsreich. »Straßenkehren?« rief ein flotter Bursch. »Viel zu mild für einen Steuerhinterzieher! – Den Abort soll er saubermachen!« Dies mußte ihm wie eine plötzliche Eingebung in den Sinn und auf die Lippen gekommen sein. Er stand stramm vor Glück, gleichsam einer unsichtbaren Obrigkeit für die Gabe solchen Geistesblitzes dankend. – »Den Abort soll er saubermachen!« Besonders die Damen zeigten sich von dieser neuen Pointe bezaubert. Sie begannen ein wenig zu tanzen: der wiegende Walzerschritt, den niemand der süßen Wienerin nachmacht, ergab sich gleichsam von selbst; die innere Glückseligkeit wollte sich manifestieren. Die jungen Herren aus Berlin und Breslau fanden: Wien ist, wie wir’s uns erträumt haben! So was Goldiges! Nun müssen wir aber beweisen, daß wir nicht die steifen Kerle sind, für die man uns häufig hält. Immer feste druff! Einen Walzer werden wir auch noch schaffen …

Die derben Jungens aus dem fernen Norden – rauhe Schale, aber sonst gut beisammen: gerade was die süße Wienerin lieb hat! – schmiegten Arme um Taillen, drückten Schnurrbärte an zarte Wangen. Die Halbwüchsigen – musikalisch bis in die Fingerspitzen und übrigens voll frühreifem Verständnis für Laune und Bedürfnis der Großen – trällerten und pfiffen, alle miteinander: »Wien, Wien, nur du allein – sollst stets die Stadt meiner Träume sein …« Eine Melodie, bei der kein Mädchenfuß stillstehen kann! Selbst die Dicke in der blauen Schürze, die den Bankdirektor gebeutelt und damit die ganze Gaudi in Gang gebracht hatte, wiegte sich rhythmisch. Da keiner der Berliner Gäste sich um sie bemühte, ward sie ihrerseits aggressiv; der junge Mann, den sie schüttelte, war lang und dünn; erst fürchtete er sich, weil er meinte: Jetzt folgt wohl gleich die Maulschelle und alles übrige! Dann ward ihm klar, daß es diesmal wirklich nur um Schabernack ging: da stellte er seinen Mann, nicht schlechter als die Kumpane. Er stürzte sich ins Vergnügen – ein wenig stöhnend; denn das Gewicht der dicken Blauen war kolossal.

So eine Hetz – das hat’s lang nimmer geben! Seit den Tagen des seligen alten Franz Joseph nicht mehr. Ja, so fesch hat man sich in Wien wahrscheinlich überhaupt noch nie amüsiert.

»Wien, Wien – nur du allein!« – Walzertaumel bei den Burschen von der SS, der SA, der Gestapo, der Reichswehr, der Polizei, der Hitler-Jugend, den Nationalsozialistischen Studentenverbänden. »Zwei Herzen im Dreivierteltakt …«: das patriotische Hochgefühl vermischt sich wohlig mit den Freuden anderer Art. Österreich ist verloren! Österreich ist verraten! Der preußische Kommißstiefel über unserer Stadt! Hurra! »Das muß ein Stück vom Himmel sein – Wien und der Wein …«

Die Wartenden vor dem Konsulat blicken sowohl befremdet als auch hoffnungsvoll. Sie denken: Jetzt werden sie alle närrisch. Umso besser – dann wird man uns vielleicht in Frieden lassen. – Die Gasse hat sich in einen Ballsaal verwandelt, die allgemeine Munterkeit ist grenzenlos; auch Bernheim faßt neuen Mut: ›Sie singen so frohe Lieder, vielleicht bleibt mir das Schlimmste erspart!‹

Die Walzerseligkeit war intensiv; aber doch nicht stark genug, um die Gemüter von den heiter-ernsten Pflichten des Tages völlig abzulenken. Die Halbwüchsigen zwitscherten noch: »Ich weiß – auf der Wieden – ein kleines Hotel …«: da schrillte die Stimme der verblühten Haushälterin: »Er soll putzen – die Bedürfnisanstalt soll er putzen!« Sie vermied das rauhere Wort, das der junge Mann mit dem Geistesblitz verwendet hatte und das dann von der Menge wiederholt worden war: »die Bedürfnisanstalt«, sagte sie spitz und fein. Glücklicherweise fand sich ein solches Lokal an der Straßenecke. Man schleppte Herrn Bernheim hin. Er ward mit Fußtritten, Püffen und lustigen Worten über das schmutzige Pflaster geschleift. Er blutete. Aus einer Verletzung an seiner Stirn lief das Blut, und es tröpfelte rötlich in den Bart. Ach, wohin war seine Würde! Sein edler, menschenfreundlicher Anstand – wohin! War dies noch derselbe Mann, der seine Gäste – Filmvedetten, Staatssekretäre, Professoren – am Portal der Villa, schlicht und feierlich, empfangen hatte? Welche Verwandlung! Welch Sturz!

Hat das Goldene Wiener Herz kein Erbarmen? Ist ihnen das Opfer nicht genug entstellt? Wenn sie kein Mitleid kennen – spüren sie denn nicht Ekel, angesichts solchen Elends? Und es riecht nicht gut, wo sie ihn jetzt hinzuknien zwingen.

Sogar etliche Frauen sind mit eingetreten, obwohl die kleine Baulichkeit ein Schild »Für Männer!« trägt. Wer wird zimperlich sein, zu so festlich-orgiastischer Stunde? Die Ungeheure in der blauen Schürze schnuppert munter die scharfen Odeurs, die hier wehen – während die Verwelkte, geniert und freudig erregt, an der Türe stehenbleibt: Eintreten – nein, das würde nicht schicklich sein! Andererseits will sie sich das Schauspiel keineswegs entgehen lassen.

Das diskrete Häuschen liegt inmitten einer kleinen Parkanlage: glücklicher Zufall; denn hier kann man weiter tanzen. Walzertexte vermischen sich mit dem donnernden Sprechchor: »Den Abort soll er putzen!« Die Melodie setzt sich sieghaft durch: »Nichts Schönres kann’s geb’n – als ein Wiener Lied …« Dann dröhnt es wieder: »Den Abort soll er putzen!« Woraufhin die Mädchenstimmen jubeln: »Das haftet im Herzen – und geht ins G’müt!« – dieses wieder auf das Wiener Lied bezogen.

Wer hatte denn die scheußlichen Geräte bereit, deren Herr Bernheim sich nun bedienen muß? Was man ihm präsentiert, ist ein Nachttopf, und erst stößt man einmal, spaßeshalber, sein Gesicht hinein. Die zähe, dicke Flüssigkeit, mit der sich sein Antlitz beschmiert, hat dunkel gelbliche Farbe und ist ätzend scharf. Aus was für Ingredienzien hat man diesen üblen, fetten Brei gebraut? Er verbrennt die Haut – erst die des Gesichtes, dann auch die der Hände.

Das Bürstchen aber, mit dem er diesen Boden säubern soll, ist derartig klein, daß ringsum das allgemeine Gelächter sich noch steigert. Der Wiener Humor kommt wahrhaft auf seine Kosten; in brüderlicher Eintracht mit dem Berliner Witz darf er sich herzhaft austoben. Es ist ja ein altes Zahnbürstchen, ein zerzaustes, jämmerliches Ding, mit dem der reiche Jud den Boden putzen soll – und was für einen Boden! Die Verwelkte meckert wie eine Ziege über soviel drolliges Malheur. Der Alte stellt sich ungeschickt an, er schnauft und wimmert, es ist wie in einer Posse, im »Theater an der Wien« kann es nicht unterhaltender sein. Die Verblühte tut einen kecken Schritt, weiter in das halbdunkle Lokal hinein, das zu betreten ihr von Natur und Sitte keineswegs bestimmt war. ›Die Sitten ändern sich!‹ beschließt sie kühn. ›Und was die Natur betrifft – nun, ich habe niemals viel Spaß und Vorteil von meinem weiblichen Geschlecht gehabt!‹

Alter Mann auf der beschmierten Erde – du hast Kot und Blut im Barte; du kannst nicht sehen, denn die Augen sind dir von dem verdächtigen Putzmittel verklebt; du kannst nicht sprechen: Scham und Grauen nehmen dir die Stimme; du kannst immer noch leiden, du leidest immer noch. Du bist Hiob, dem der Herr vieles gab, um ihm alles wieder zu nehmen; der Unglücksmann von Uz, den Er mit Aussatz schlug, mit jeglicher Armut, jeglichem Gebreste; den Er stinken ließ und sich im Miste wälzen – Du bist es, wir erkennen dich. Die platte, fleischige Nase, aus welcher Blut rinnt; der entwürdigte Bart – einst deine ehrbare Zierde – die zerrissenen Hände, das zerrissene Herz: es ist uns alles vertraut, die großen Bilder der Menschheit kehren wieder, die Situationen des großen Schmerzes wiederholen sich; du wirst die Stimme heben, Erniedrigter, wirst dir die Brust schlagen, klagen und rasen wirst du: Warum tatest du mir dies, Gott, mein Herr?

Für diesmal ist es genug; der Klageschrei, die mythische Pantomime der extremen Pein – sie sind dir erlassen; nicht diesen Tieren sollst du sie vorführen, sie würden sie nicht verstehen. Sie sind nur Werkzeuge der Züchtigung, ihre Hirne sind stumpf, und sie wissen kaum, was sie tun. Übrigens bleiben auch ihnen Qual und Schmach nicht erspart, du magst davon überzeugt sein. Es wird für sie Ernüchterung ohnegleichen kommen; wer sich so verirrt und so vergessen hat wie dieses Volk, für den wird die Stunde des Erwachens schon der Augenblick der Strafe sein – ganz zu schweigen von mancherlei anderer Heimsuchung, die ihnen vorbestimmt sein könnte.

Nun singen sie noch – wie das Geheul von Irrsinnigen gellt es uns in den Ohren. Noch wiegen sie sich, noch stampfen sie vor Vergnügen. Einer von ihnen möchte den besonders Grausamen spielen: er schlägt den Alten, dessen Hände sich nicht mehr regen, mit gewaltiger Kraft auf den Kopf. Gerade dadurch verkürzt er ihm die Qualen: Bernheim verliert die Besinnung. Er sinkt nach hinten, mit verdrehten Augen; die blutigen Flächen der geöffneten Hände nach außen gekehrt – als wollten sie es dem strengen Himmel zeigen: Siehe, meine Hände sind leer! Ich habe nichts mehr, du hast mir alles genommen!

Dunkelheit nimmt ihn gnädig auf. Er sieht nicht mehr die entmenschten Gesichter seiner Verfolger, er muß nicht mehr ihre schaurig-munteren Lieder hören: den obszönen Chorus der Idiotie; das Triumphgeheul der Verblendeten.

Tausende haben gelitten wie er; manchen ward noch Schlimmeres zugemutet, andere kamen etwas glimpflicher davon. Ein Strom von Flüchtlingen ergießt sich aus dem gemarterten Land: wohin mit ihnen? Wer nimmt sie auf …? Manche Züge, voll mit Menschen, die sich schon in Sicherheit wähnten, mußten an den Grenzen wieder umkehren: das Nachbarland wollte die Unseligen nicht. Sie bringen Unglück, und sie fressen uns arm – dies war das Empfinden der guten Nachbarn. »Weg mit euch!« riefen sie und verscheuchten die Emigranten wie böse Geister. »Sucht euch ein anderes Asyl! Nicht bei uns! Ihr verpestet die Luft, die ihr atmet!« – Wieviel Tränen flossen da, an der Grenzstation! Wieviel Schreie – Männer-, Frauen- und Kinderschreie, ein Konzert von schrillen Dissonanzen, eine Symphonie der Qual! Manche warfen sich vor den Zug: lieber sich von seinen Rädern zermalmen lassen, als zurückkehren in die Heimat, die Hölle. – Die Grenzbeamten zeigten Verständnis für solche Verzweiflungstat, obwohl sie geeignet war, den Eisenbahnbetrieb empfindlich zu stören. »Aber was bleibt den armen Leuten sonst übrig?« fragten die Beamten – milde, soweit das Dienstreglement es erlaubte.

Andere waren glücklicher, sie gewannen die Freiheit, freundliche Menschen standen ihnen bei. In Zürich, zum Beispiel, durften viele eine Weile sich aufhalten – ein paar Wochen nur, wenige Monate höchstens; aber es war doch lange genug, um die dringlichsten Affären zu ordnen, sich Visen und Schiffsbillet für die Überseereise zu verschaffen. Denn was sollte man noch in Europa? Für die Wiener hatte Wien Europa bedeutet; allenfalls kamen noch Salzburg, Innsbruck und Paris in Frage. Nun saßen sie mit verstörten Gesichtern herum und erklärten: »Es gibt Europa nicht mehr …«

So düstere Äußerungen fielen in der Pension »Rast und Ruh«, wo die Damen Tilla und Marie-Luise hilfsbereit tätig waren. Ihr Etablissement war gut besetzt, es war überfüllt, die beiden Frauen hatten alle Hände voll zu tun. Dies bedeutete übrigens keineswegs, daß sie Geld scheffelten: die neuen Gäste zahlten unregelmäßig; viele waren völlig mittellos. Marie-Luise führte die Kontobücher; Frau Tibori kümmerte sich um die Küche. Sie machte Apfelstrudel und Gulasch für die Wiener Freunde – »damit sie sich doch ein bißchen wie zu Haus bei uns fühlen!« – »Ich muß Frau Ottinger besuchen!« Zu diesem Entschluß war Marie-Luise während der letzten Wochen wiederholt gekommen. »Die Gute wird uns noch einmal aus der Patsche helfen.«

Bei Ottingers logierten vertriebene Wiener Dichter, Kammersänger, monarchistische Offiziere, sozialdemokratische Abgeordnete und eine veritable Prinzessin, mit den Häusern Habsburg und Bourbon verwandt, jedoch in arger finanzieller Lage. Das alte Ehepaar hatte täglich etwa vierundzwanzig Personen zu Tisch – lauter Flüchtlinge. Dabei blieben andere vierundzwanzig unsichtbar, die auf Ottingers Kosten in Pension »Rast und Ruh« oder in den kleinen Restaurants der Altstadt ernährt wurden. Manchmal wurde Herrn Ottinger angst und bange, wenn er seine Ausgaben überdachte. Er sagte zu seiner lieben Frau: »Wir sind ziemlich wohlhabend, aber nicht mehr so reich wie früher. Ich muß es dir gestehen: wir zehren vom Kapital – niemals hätte ich gedacht, es könne dahin kommen. Dein Mütterliches wird angegriffen – hast du etwas dagegen?« Er stellte es mit leichtem Schauder fest; auch Frau Ottinger bekam entsetzte Augen; lächelte dann aber, gütig und resigniert. – »Wie lange leben wir noch?« fragte sie ihren alten Gatten. »Noch ein paar Jahre«, konstatierte sie sanft. »Wir werden nicht hungern müssen. Wenn wir Kinder hätten – dann müßte das Kapital unversehrt bleiben. Aber so … Die Flüchtlinge sind unsere Kinder«, meinte sie abschließend. Sie schwiegen beide, die alten, blassen Gesichter nah beieinander. An was dachten sie, daß sie so zärtlich lächeln mußten? An die kleine Tilly vielleicht mit dem schlampigen Mund: die hatten sie geliebt wie ein Töchterchen. Sie erwähnten sie nicht. Vielmehr sagte Madame: »Den kleinen Braunfeld könnten wir bei Peter Hürlimann unterbringen – er hat noch ein Zimmer frei. Ich fürchte nur, der gute Peter kommt gar nicht mehr zu seiner Musik, weil er sich soviel um die Wiener bekümmert. Hat er sich nicht prachtvoll entwickelt? Wenn Tilly ihn nur sehen könnte, wie tapfer und tüchtig er ist …«

Nun hatte sie den lieben Namen doch genannt. Herr Ottinger streichelte den Arm seiner alten Gattin – um sie zu trösten, und weil er seinerseits etwas Trost dringend brauchte.

Europa gibt es nicht mehr: sagten die Fliehenden – womit sie insofern recht hatten, als der kranke Kontinent ihnen, den Emigranten, keinen Lebensraum mehr gewähren wollte. Amerika war die Hoffnung. Um hinzukommen, benötigte man die finanzielle Garantie eines Ansässigen, der seinerseits nachweisen mußte, daß er in der Lage war, für den Eingewanderten zu sorgen, wenn der es selber nicht mehr schaffen konnte. Um solche Garantien, Affidavits genannt, bemühten sich fast alle Gäste der Pension »Rast und Ruh« wie auch des Hauses Ottinger. Ohne Ruh und Rast eilten sie zum amerikanischen Konsulat – wo man sie viele Stunden lang antichambrieren ließ – und zu den Hilfscomités – wo man infolge von Überarbeitung die Nerven verlor. Außerdem schickten die Unglücklichen kostspielige und komplizierte Kabel über den Ozean, an alte Bekannte, die ihrerseits gescheit genug gewesen waren, schon vor den neuesten europäischen Evenements ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einzureisen. Die telegraphischen SOS-Rufe hatten alle den gleichen Refrain: Hier bin ich verloren! Ich ersticke hier, samt meiner Frau und den lieben Kleinen! In Ihre Hände lege ich vertrauensvoll mein ganzes Schicksal!

»Man kann sie doch nicht alle zugrunde gehn lassen! Es muß doch etwas geschehen!« – Dies war Marions Stimme, sie klang beinah zornig, als hätte Benjamin ihr widersprochen; der schwieg indessen und schaute seine Gattin nachdenklich an. – »Natürlich«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Ich werde morgen ein paar Freunde um Hilfe bitten … Freilich muß da etwas geschehen. Amerika ist groß und gutgesinnt; es hat Platz für viele …«

Die Jungvermählten hatten sich in einem der südlichen Staaten niedergelassen, er hieß North Carolina, die Universität war gut, Abel hatte eine angenehme Stellung. Die amerikanischen Kollegen fanden, daß es bei Abels »really cosy« war. Marion galt als charmante Hausfrau – aufmerksam und beweglich, trotz ihrer Schwangerschaft. Die Universitätsdamen freuten sich auf das Baby, sie überschütteten Marion mit guten Ratschlägen.

Ihr kleines Haus war nah dem Campus der Universität gelegen. Es hatte nur vier Zimmer, aber die waren nett und hell. Unten gab es das Eßzimmer mit dem runden Tisch und die Bibliothek, wo Abel arbeitete. Dieser Aprilabend war schön und mild; durchs offene Fenster kamen Blütengerüche. Junge Leute schlenderten draußen vorbei; manche sangen, andere lachten nur. Welcher Friede! Wie weit entrückt waren Qual und Aufruhr!

Jedoch lagen auf dem Schreibtisch die Telegramme – die SOS-Rufe mit dem Refrain: »Ihnen vertraue ich mein Schicksal an.« – Eines von ihnen hielt Marion in der Hand. »Sonderbar, daß sich der Mann an mich erinnert; ich kenne ihn nur sehr flüchtig«, erklärte sie, wobei sie ruhelos durchs Zimmer ging. »Er wollte einen Weltstaat gründen – Paneuropa war ihm noch zu provinziell. Nun sitzt er in Basel und darf nicht über die französische Grenze …«

Benjamin bat zärtlich: »Komm zu mir!« Da stand sie hinter ihm, die mageren Ellenbogen auf die Rückenlehne seines Stuhles gestützt. Er wandte sich um. Lange ließ er den Blick auf ihrer Gestalt ruhen. Wie stark ihr Leib schon hervortrat! Und auch ihr Gesicht war verändert: es schien breiter und weicher geworden. ›Es ist schöner geworden‹, dachte Abel mit großer Rührung. ›Noch schöner geworden. Ich liebe es jetzt noch mehr.‹

Sie las in seiner Miene, daß er glücklich war; gerade hierüber empörte sie sich. »Ich schäme mich!« schrie sie auf; dabei preßte sie die Hände an die Schläfen, das zerknüllte Telegramm fiel zur Erde. »Wir sitzen hier in Sicherheit, es geht uns gut, wir haben unser Heim – und überall wächst das Unglück! Das Unglück breitet sich aus wie die Pest. Wann ist je soviel gelitten worden?« – »Immer«, sagte der Historiker, liebevoll und pedantisch. »Oder meistens. Meistens ist soviel gelitten worden. Es war selten besser.«

Dies überhörte sie. Heftig und mit einem Schluchzen in der Stimme sprach sie von den Freunden in Wien. »Sie waren alle so voll Vertrauen! Sie meinten, es müsse ihnen geholfen werden. Niemand hat ihnen geholfen … Was kommt nun an die Reihe?« fragte sie drohend. »Wer wird das nächste Opfer?« Sie reckte das Haupt mit der Purpurmähne – das stolze und leichte Haupt; ihre Augen hatten den Flammenblick – nur leuchtete er jetzt nicht von Zuversicht, war vielmehr von düsterster Ahnung verfinstert. »Prag wird fallen!« – Sie sprach es mit schaurig gedämpfter Stimme, fast war es nur noch ein Murmeln. »Frankreich und England werden die Tschechoslowakei so wenig verteidigen, wie sie das arme Österreich verteidigt haben.«

Glich sie nicht einer Prophetin, mit dem bewegten Purpurschmuck ihres Haares? Solche Züge, solche Blicke hatte Kassandra – Königstochter und Priesterin – das bestürzte Volk von Troja durfte die fürchterliche Schönheit seiner Seherin erst in allerletzter Stunde kennenlernen. Früher waren Pracht und Grauen dieses Angesichts durch die schwarze Binde schonungsvoll bedeckt gewesen. Nun fiel das Tuch, die Eingeweihte warf es zürnend zur Erde: das war nicht mehr die Stunde der zarten Rücksicht. »Eure Stadt wird brennen!« verhieß Kassandra mit dem enthüllten Gesicht – kalt, beinah höhnisch bei allem Schmerz, als wäre es nicht auch ihre Stadt und Heimat, die zugrunde gehn sollte. »Troja wird fallen! Wird brennen!« Glaubte man ihr denn noch immer nicht? Sie hatte sich die Stimme heiser geschrien, mit ihrer unermüdlichen Warnung. Welcher Gott hatte dieses Volk mit Blindheit geschlagen? Welcher Dämon hatte es taub gemacht? Es züngelten schon die Flammen … Muß man eine Seherin sein, um das Feuer zu sehen?

»Prag wird fallen.« Marion machte eine abschließende kleine Handbewegung, als wäre dies nun erledigt. »Auch die Spanische Republik wird untergehen – ein paar Dutzend Millionäre wünschen es. Tschechische Flüchtlinge, spanische Flüchtlinge; auch französische und Schweizer Flüchtlinge könnte es noch geben – woher sollen wir denn all die Affidavits nehmen? – Die Chinesen sterben, anstatt zu fliehen. Millionen sterben. In Wien wütet der Selbstmord wie eine Epidemie. Das neue Barbarentum, die Faschisten, die Hunnen – nicht einmal kämpfen müssen sie! Ohne Kampf läßt man sie siegen! Sie begegnen keinem Widerstand, keinem Gegner …! Man läßt das Scheußliche rasen, zerstören, sich austoben – als wäre es eine Naturkatastrophe! Als lebten wir auf einem Vulkan, der Feuer speit! Es gibt keine Hilfe. Jeder wartet, ob es ihn trifft …«

Ihr Atem ging schwer; sie verstummte. Der große Ausbruch hatte sie erschöpft. Sie legte die Hände auf den gewölbten Leib. Auch Abel schwieg. Er schaute sie liebevoll, sorgenvoll an. Er dachte: ›Wie schön sie ist! Wie sie leidet! Kann ich sie trösten? Ich muß sie trösten können, ich liebe sie.‹

»Der Vulkan …« Jetzt konnte sie nur noch stammeln. »Wir alle, an seinem Rande … Auf unseren Stirnen schon sein glühender Atem; die Augen geblendet, die Glieder gelähmt, die Lungen voll erstickendem Qualm … Und da soll man Kinder bekommen!!« Nun kreischte ihre Stimme, überschlug sich und klirrte wie geborstenes Glas – ihre geübte, schöne, zuverlässige Stimme – wie entartet, wie zerrüttet war sie nun! Sie lachte, nach ihrer schrillen und schlimmen Äußerung über die Kinder – ein hysterisches Lachen, ein Gelächter der Pein: Benjamin hatte es noch niemals von ihr gehört. Auch ihr Gesicht war entstellt; Zuckungen um Mund und Augenbrauen ließen es fremd und beinah häßlich werden. War dies die Schmerzensraserei der Seherin? Der epileptische Anfall der Gottesbraut? Fiel sie in Trance, bewegte krampfhaft die Hände, hatte Schaum vorm Mund?

Nichts dergleichen; sie wurde schon wieder still. Ihre Traurigkeit bekam wieder vernünftige Maße; war aber immer noch groß und tief. – »Ich kann das Kind nicht bekommen!« Die Worte ihrer armen kleinen Schwester Tilly – Marion kannte sie nicht und wiederholte sie doch. »Ich kann das Kind nicht bekommen!« Sie bewegte flehend die Hände, die Augen waren ihr naß: Marion weinte. »Heute ein Kind zu kriegen – so ein Frevel …« brachte sie hervor, »so eine Sünde, eine Dummheit … Kriege werden kommen, Revolutionen, Kampf ohne Ende … Mein armes Kind wird vernichtet …«

»Es wird leben«, sagte Professor Abel – sehr ruhig, aber dezidiert.

»Nein, nein, nein!« Sie schüttelte angstvoll den Kopf. »Ich kann es immer noch entfernen lassen. Es ist wohl noch nicht zu spät …«

»Es ist ganz entschieden zu spät«, versetzte er, fest und gelassen.

Sie wollte ihr Kind töten; seltsamerweise war ihr alles daran gelegen, Benjamins Erlaubnis für ihre Untat zu erwirken. Sie achtete ihren Gatten, sie vertraute ihm. Er sollte gutheißen, was ihr unvermeidlich schien. Sie bettelte: »Du mußt es doch verstehen! Versuche, es zu begreifen! Ich kann doch kein Kind haben! Ich muß nach Europa zurück – muß unabhängig, aktiv sein! Ich muß kämpfen! Muß mich ganz einsetzen. Das Kind würde mich stören«, sagte sie hart, und fügte kränkend, beinah ordinär hinzu: »Und überhaupt – es ist ja gar nicht von dir! Sein Vater ist ein Vagabund – der hätte gespürt, was ich meine! – Was geht es dich an?« fragte sie ihn grausam. »Es ist mein Kind; nicht deines.«

»Es ist unser Kind!« Jetzt erhob er sich aus dem Sessel. Die kleine, gedrungene Figur wirkte imposant, wie sie sich nun männlich-würdig reckte. Auch aus seinen Augen konnten Flammen springen: kein hysterisches Strohfeuer; ernste, gediegene Glut. Er war sehr blaß geworden; sein beinah frauenhaft zarter Mund bebte. »Der kleine Marcel gehört uns!«

Er hatte den Namen ihres Kindes genannt, mit fester, markiger Stimme, wenngleich innig bewegt. Das Kind sollte Marcel heißen, dies war schon seit langem bestimmt. Marcel – tödlich getroffen, unter fremden Himmeln – er würde fortleben in dem Knaben, der nicht seines Blutes war: so hatte Marion es gewollt – Benjamin mußte sie daran erinnern. Er mußte neu die mütterliche Zärtlichkeit in ihr erwecken, die sie – Prophetin und Amazone – vor lauter Zorn und Schmerz vergessen hatte. »Wir werden ihn lieben!« mußte er ihr sagen – ach, er liebte ihn schon! Er war nicht der Vater: zwei Abenteurer, zwei Fremde waren ihm vorgezogen worden. Der eine hatte das Kind gezeugt; nach dem anderen sollte es geraten. Aber wieviel väterliche Zärtlichkeit auf Benjamins Zügen, welch inniger Ernst, welch ergreifender Stolz, da er seine Frau nun gemahnte: »Er wird groß und brav! Er wird glücklich! Er sieht bessere Zeiten. Neue Spiele fallen ihm ein, neue Aufgaben stellen sich ihm, er bewältigt sie alle. – Marion, Marion, du weißt es doch – was sollte all dein Kampf und dein Aufbegehren, wenn es nicht für ihn wäre und für all seine Brüder? Was ginge die Menschheit uns an, wenn wir nicht an ihre Zukunft glaubten – wenn wir die kommenden Geschlechter nicht liebten? – Marion, Marion – du weißt es doch …« Seine Stimme hatte fast hypnotisierende Kraft – raunende, beschwörende Stimme des Liebenden, beruhigend und fordernd zugleich.

Er zog die Geliebte an sich; er liebkoste ihren Leib, der das fremde Kind trug. Sie ließ sich umfangen, ließ sich küssen und stützen. Er rückte ihr die Kissen im Stuhl zurecht. Plötzlich fühlte sie: Ich bin müde. Wie gut, daß er ihr ein Lager richtete! Sie konnte es brauchen; sie dehnte dankbar die Glieder. Dieses schläfrig-gelöste Lächeln, den vertrauensvoll-zärtlichen Blick – ihre jungen, ungestümen Freunde – Marcel und Tullio – hatten dergleichen nie von ihr zu sehen bekommen. Benjamin Abel schaute und liebkoste ein Gesicht, das noch keiner vor ihm gekannt hatte. Er wußte es, er war stolz. – Kennen Jünglinge dies zarte, schwierige Glück, das nun das Herz des Alternden erschüttert? ›Wie reich werde ich jetzt noch beschenkt!‹ empfindet der Nicht-mehr-Junge. ›Man muß lange, lange üben und sich vorbereiten, ehe man die schwere Kunst der Liebe lernt. Jetzt bin ich meiner ganz sicher; beinah übermütig bin ich – weil ich weiß: Ich kann es, ich kann es. Ich alter Schüler habe alles gelernt, manche Klassen habe ich wiederholen müssen, aber es lohnt sich, es hat sich alles gelohnt. Nun kenn ich die Liebe – die komplizierte, unsagbar schwere, unsagbar süße Aufgabe. Wie ungeschickt sind die Jünglinge! Ich kann mir nicht helfen: sie kommen mir ein wenig komisch vor. Immer wollen sie »besitzen« – oder »verzichten«. Schwieriger und süßer ist es, den schwebenden Ausgleich zu finden zwischen Besitz und Verzicht; die rätselhafte Mitte, da man das geliebte Wesen zugleich losläßt und hält. Jünglinge mögen lachen über meine Liebe zu der Frau, die ihr Kind von einem anderen hat; geradezu fassungslos und beinah degoutiert wären sie angesichts meiner väterlichen Neigung zu dem fremden, ungeborenen Kind. Ach, ihr dummen Jünglinge! Wäret ihr klüger und feiner – aber wie solltet ihr klug und fein sein bei so bedauernswertem Mangel an Herzenstraining? – ihr empfändet Neid statt Belustigung, ließe ich euch als Zeugen meiner späten, schwierig-zarten Wonne zu. Ich werde mich aber hüten! Zeugen sind nicht erwünscht. Zur Weisheit der Liebe gehört, daß sie sich verbirgt – oder doch viel einfacher scheinen will, als sie ist. Ahntet ihr, mit welchen Schauern von Entzücken und Resignation ich diese Frau umfange – meine Frau, mein Kind, Marion, die Mutter meines Kindes, meine fremde Marion, meine Geliebte …‹

Sie ruhte, an ihn gelehnt. Sie sprach wieder; ihre Worte paßten nicht ganz zu dem besänftigten, selig-matten Lächeln auf ihren Zügen. »Der kleine Marcel wird kämpfen müssen.« Es klang, als prophezeite sie ihrem Sohne das heiterste Los. »Er wird sich schlagen müssen, wie wir. Die große Auseinandersetzung ist noch lange nicht am Ende; vielleicht fängt sie gerade erst an. – Er wird tapfer sein!« Sie hielt die Augen geschlossen; ihr Lächeln aber ward inniger, stärker und kühner. »Er wird siegen!« Dabei hob sie ein wenig den Kopf.

Benjamin sagte: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.«

Sie schickte einen schrägen, etwas mißtrauischen Blick über ihn hin. »Was bedeutet das?« wollte sie wissen.

Er erklärte, gleichsam um Entschuldigung bittend: »Es ist eine Zeile von Rilke. Sie ist mir gerade eingefallen.«

»Von Rilke also.« Es schien sie etwas unruhig und verdrießlich zu machen. »Ich kenne es gar nicht – dabei habe ich doch viel von ihm rezitiert … Du hast immer ein passendes Zitat bereit!« Sie war enerviert; ihre schönen Hände begannen wieder, rastlos zu werden.

»Es ist eine schöne Zeile«, sagte er sanft.

Und sie: »Eine falsche Zeile! – Auf den Sieg kommt es an.«

»Überstehen ist siegen!« Er erklärte es ihr mit der zärtlichen Exaktheit eines Lehrers, der für die Schülerin ein zartes Faible hat. »Wer Geduld hat, wer aushält – der siegt. Alles geht langsam, alles dauert lang. Wir überschätzen die Ereignisse des Tages, der Stunde; wir stilisieren sie apokalyptisch, geben ihnen gewaltige Namen: Historische Wende oder Weltuntergang. Das ist Irrtum und Eitelkeit. Soll unsere Epoche alles verändern und unterbrechen – nur weil es gerade unsere Epoche ist? Der Prozeß geht weiter – zäh und langsam, sehr langsam … Es gibt Störungen, Rückschläge: dergleichen erleben wir jetzt. Lassen wir uns doch nicht gar zu sehr erschüttern und verwirren! Lasse dich doch nicht wirr und kopflos machen, liebes Herz, durch die Störungen und die Rückschläge! Vertraue doch: es geht weiter! Glaube mir doch: in den großen Zusammenhängen rechnet dies alles so wenig und wird einst ruhiger und kälter beurteilt werden, als wir’s heute vermuten.«

Sie blieb eigensinnig mit ihren Worten – wenngleich Blick und Lächeln verrieten, daß sie beinah überzeugt und fast besänftigt war. »Wir leben aber heute – jetzt und hier. Unsere Leben werden vernichtet, durch die Rückschläge und die Störungen; die Leben unserer Freunde und Kameraden, selbst die ungeborenen Kinder sind gefährdet. – Die großen Zusammenhänge – können sie uns trösten? Und wer beweist denn, daß es gute, vernünftige Zusammenhänge sind? – Ich weiß nur, daß jetzt gelitten wird, von Millionen. Ich schäme mich, in mein kleines, privates Glück zu fliehen, während Ströme von Blut und Tränen sich ergießen.«

»Es ist kein kleines, privates Glück!« Er hob tadelnd den Zeigefinger. »Ein schwieriges, tiefes Glück, nach vielen Leiden gewonnen. Haben wir’s uns nicht verdient, liebe Marion? – Nun müssen wir’s tragen und fruchtbar machen. Auch dazu gehört Tapferkeit – oder gerade dazu. Stürzen, sich fallen lassen, sterben – auch heroisch sterben – das ist leicht. Leben ist schwerer und ernster. Glücklich sein – das ist am schwersten und am ernstesten für uns, die wir weder ruhig sind noch kalt. Die überlegene Haltung überlassen wir den Künftigen, die über uns urteilen mögen. Was uns betrifft, wir bleiben beteiligt, ergriffen, immer wieder angefochten, erschüttert, immer in Gefahr. Aber geduldig! Aber tapfer! Dem Gesetz dieses Lebens gehorsam. Geduldig und gehorsam sollen wir sein. Dann kommt auch das Glück – und sich seiner zu schämen wäre Feigheit und Schwäche. Stolz empfangen wir es.«

Da sagte sie nichts mehr. Auch die Lieder und Gelächter der jungen Amerikaner draußen waren verstummt. Es war in ihrem Zimmer sehr still geworden. Der Atem der milden Nacht kam sehr still herein.

Benjamin wiederholte – summend, wie den Refrain des Liedes, mit welchem man ein Kind zur Ruhe bringt: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!« – Seht, sie schläft schon fast!

Klaus Mann - Das literarische Werk

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