Читать книгу Klaus Mann - Das literarische Werk - Клаус Манн - Страница 28
Epilog
ОглавлениеEin junger Mensch saß in einem Café an der Canebière und schrieb:
Marseille, den 1. Januar 1939. Lieber alter Karl! Wo steckst Du? Bist Du immer noch in Jugoslawien? Ich weiß Deine Adresse nicht – sonst hätte ich Dir schon lange geschrieben. Vor einem Jahr hast Du Dir Deine Briefe nach Ragusa, poste restante, bestellt. Ich versuche es mal. Hoffentlich erreicht Dich mein Gruß. Ich möchte gern von Dir hören.
Nun bin also auch ich unter die Emigranten gegangen. Bist Du darüber erstaunt? – Ich denke mir, eher wirst Du Dich gewundert haben, daß ich so lange Zeit gebraucht habe, um den Entschluß zu fassen. Beinah sechs Jahre … Mir kommt es vor, als seien es sechzig gewesen … Hunderttausendmal hatte ich schon gemeint: Jetzt geht es nicht mehr; ich muß weg … und bin immer wieder geblieben. Aber dann war plötzlich eine Grenze erreicht. Ich hatte gar keine Wahl mehr – verstehst Du? Es ging um mein Leben.
Ich spreche nicht von äußeren Gefahren – die gab es auch, und sie waren lästig genug. Natürlich hatte ich den Mund nicht halten können. Eine Zeitlang bin ich jeden Morgen mit dem gleichen Schrecken aufgewacht: Heute kommen sie, dich zu holen! Wenn ich das Wort »Konzentrationslager« hörte – und man hört es oft – wurde mir etwas übel. Ich wußte: Das bleibt dir auch nicht erspart …
Aber es war nicht nur das, und nicht das vor allem.
Es war auch nicht nur die Wut über den gemeinen, falschen, sinnlosen Krieg, den sie vorbereiten und der im September vor der Türe schien. Nachher hat sich ja herausgestellt: das Kriegsgeschrei, die Mobilisation waren nur Bluff und Schwindel – wie alle Veranstaltungen dieses Regimes. Aber damals haben wir’s doch ernst genommen.
Bin ich ein Pazifist? – Es kommt ganz darauf an. – Kämpfen? Warum denn nicht! Aber auf der richtigen Seite!
Tschechen, Russen und Franzosen totschlagen; Bomben auf Weiber und Kinder schmeißen; Land erobern, damit das deutsche Zuchthaus noch größer wird: ohne mich, wenn ich bitten darf!!
Ich weiß, was Zucht ist, ich weiß, was Patriotismus ist: mein Vater war ein preußischer Offizier. Von ihm habe ich aber auch gelernt, was Anstand und Ehrenhaftigkeit bedeuten. Ein paar andere Kenntnisse und Erkenntnisse mußte ich mir selbständig, ohne väterliche Hilfe, erobern. Haben wir jungen Deutschen den Wert der Freiheit, das Ideal der Gerechtigkeit jemals kapiert? Ich fürchte, wir mußten erst durch die Hölle der totalen Unfreiheit, der kompletten Rechtlosigkeit gehen, um zu ermessen, was wir mißachtet – was wir verloren haben.
Ja, wir sind durch eine Hölle gegangen. Unser Land ist immer noch mitten drin. Es liegt ein Fluch auf unserem Vaterland. Die Luft in unserem Vaterland ist vergiftet.
Das Atmen wird unerträglich. Das ist es: man kann nicht atmen. Die gehäufte Lüge, das Übermaß der Gemeinheit: das verpestet die Luft – wie ein kolossaler Kadaver.
Ich mußte raus, weil ich sonst erstickt wäre! Buchstäblich, ich hatte Erstickungsanfälle.
Die Septemberkrise, der Abscheu vor dem geplanten Krieg waren mehr der akute Anlaß und letzte Anstoß als der eigentliche Grund zu meiner Flucht. (Es war eine ziemlich dramatische Flucht – ich will Dir das alles erzählen: später einmal.)
Ich muß viel an die armen Kerle denken, die drinnen geblieben sind. Du glaubst doch nicht, daß es denen gefällt in der Hölle? Es sind ja nicht lauter Schufte. Aber die Schufte reißen das Maul auf. Die anderen ballen die Fäuste – in den Hosentaschen, zunächst.
Denen gegenüber ist mein Gewissen nicht so ganz rein. Hätte ich aushalten sollen, bei dieser stummen – oder flüsternden – Opposition? War es doch Fahnenflucht, daß ich weg bin? – Aber der Erstickende hat keine Wahl. Für mich gab es nur noch: leben – oder verrecken.
Solang ich lebe, kann ich mich noch nützlich machen. Wenn ich hin bin, ist’s damit aus.
In Paris kam ich an, als die Leute auf den Straßen tanzten und Champagner tranken, aus Freude über den »geretteten Frieden«. Mir taten die Leute leid.
Ich dachte mir: Die armen, guten, ahnungslosen Leute! Sie lieben den Frieden, sie wollen ihn sich erhalten. Wissen sie denn aber nicht, daß es keinen Frieden in Europa geben kann, solange die Nazis an der Macht bleiben? Mit denen ist keine »Verständigung« möglich; Verträge mit ihnen haben keinen Wert – wissen das die Leute denn nicht? Sie werden schon noch dahinterkommen – das dachte ich mir damals, in Paris, und so denke ich heute. Europa wird einsehen, daß es nur die Wahl hat: unterzugehen – oder mit den Nazis fertig zu werden. Es wird gar nicht so furchtbar schwer sein, sie loszuwerden – wenn man nur endlich aufhört, ihnen Konzessionen zu machen! Sie können weder den Krieg aushalten noch den wirklichen Frieden – einen Frieden nämlich, der nicht mehr ein permanentes Erpressungsmanöver der Nazis wäre.
All das scheint so einfach. Warum braucht die Welt so schrecklich lang, um es zu begreifen? Wieviel Unglück soll noch geschehen – und hingenommen werden? – Man muß sehr viel Geduld haben.
Ich habe sehr viel Geduld. Für mich gibt es keine Illusionen mehr – die habe ich mir im Dritten Reich gründlich abgewöhnt – aber Hoffnungen gibt es. Es sind realistische Hoffnungen. Ich weiß: eines Tages wird man in Deutschland Leute von unserer Art wieder brauchen. Es wird viel für uns zu tun geben. Es wird sehr schön sein, aber auch sehr hart. Wir werden ernste und schwierige Pflichten haben. Ich freue mich schon darauf. Es kann übermorgen soweit sein – oder erst in Jahren. Vielleicht dauert das Exil noch lange. Das wäre bitter; aber man muß sich zu trösten wissen. Das Leben hat überall seine interessanten Seiten.
Vielleicht kann ich auf einer Farm in Argentinien arbeiten. Vielleicht fahre ich nach Neuseeland. Ich habe allerlei Pläne. Ich sitze hier in Marseille rum, und die Stadt gefällt mir, und ich habe kein Geld und kenne keine Seele, außer ein paar Burschen in den Hafenkneipen – und die sind immer besoffen.
Es wird schon irgendwie weitergehen; ich habe gar keine Angst. Manchmal muß ich denken: Wir Vagabunden, wir Heimatlosen, vaterlandsloses Pack haben irgendeinen Schutzengel, einen freundlichen Dämon. Der geleitet uns, und der führt uns zurück – eines Tages. Er hilft uns aber nur, wenn wir uns nicht auf ihn verlassen. Wir müssen ihn vergessen – dann ist er unsichtbar da …
Man geht nicht kaputt – wenn man noch eine Aufgabe hat. Laß von Dir hören! Dein alter Freund Dieter.
Er legte die Feder weg und steckte den dicken Brief in ein Couvert, ohne ihn vorher noch einmal durchzulesen. Dann saß er ein paar Minuten lang unbeweglich, das Gesicht in beide Hände gestützt, und schaute ins Weite.
Später schlenderte er die breite Straße hinunter, dem Hafen zu. Sein Gang war elastisch – immer noch der Gang eines Jünglings; er hatte sich die graue Sportmütze unternehmungslustig schief in die Stirn gezogen, und auch die kleine Melodie, die er pfiff, klang zuversichtlich.
Le Vieux Port – der wunderschöne Alte Hafen von Marseille – lag, pittoresk und schmutzig, im milden Licht des warmen Wintertages. Dieter bog nach links ein; er ging schneller, ließ die engen Gassen hinter sich. Die Stadt hörte auf, es öffnete sich überraschend die wilde Landschaft, ein Pfad führte steil in die Höhe.
Die Menschensiedlung schien weit entfernt; Pflanzen gediehen hier nicht; keine weiche Form, kein Atmen der Kreatur; nur Zacken, Felsen, Geröll. – War dies noch einmal der Paß, der Grat, das Hochgebirge? Die schmale Spur, am Rande des Abgrunds – noch einmal? Begann sie wieder, die riskante Tour, die erschöpfende Gletscherpartie? Taten die Schluchten sich wieder auf, gefüllt mit blauschwarzen Schatten …? Dieter erschrak. Würde er wieder schwanken? – ›Früher bin ich schwindelfrei gewesen …‹, dachte er. ›Was macht mir Angst? Hier ist kein Eis, keine Schlucht, auch Lawinen kommen hier nicht vor. Hinter den harmlosen Klippen strahlt ein südlicher Himmel, und der laue Wind bringt Salzgeruch mit. Ich höre schon die Melodie des Meeres – gleich werde ich den großen Ausblick haben. Nur noch ein wenig aufwärts! Nur diese hundert Meter noch nach oben! Den Pfad gibt es nicht mehr, aber gute Stufen im Stein … Da ist das Meer. Wie es leuchtet!‹
Dieter – am Ende des Vorgebirgs, auf der Spitze der Klippe – hat die Mütze abgenommen, wie in der Kirche. Diesen Wind will er nicht nur auf Lippen, Stirn und Augenlidern spüren, sondern auch im Haar; am liebsten möchte er sich das Hemd aufreißen und dem Sturm die nackte Brust hinhalten.
Er reckt sich, er dehnt die Glieder. Da er sich alleine weiß, hat er den Mut zu einer schönen, wilden Gebärde, die er vor Zuschauern kaum wagen würde. Zuschauer könnten finden, es sei theatralisch, wie er nun die Arme breitet und den Kopf langsam-selig in den Nacken sinken läßt.
Ihm aber ist es die natürlichste Geste. Er genießt sie, er atmet beglückt. Immer haben Jünglinge in solcher Haltung gestanden, auf einer Klippe, mit dem Blick zum Meer. Immer haben sie dies zugleich benommene und entschlossene Lächeln gehabt und die seltsam rudernden Bewegungen der gebreiteten Arme – als wollten sie sich vom Boden lösen; aufsteigen, auffliegen – Wohin?
Die Jünglinge fragen kaum nach dem Ziel, in solcher Stunde äußerster Bereitschaft und des kühnen Rausches. Wer spricht von den Mühen und Gefahren des langen Weges? – All dies ist Nebensache geworden; nur die Bewegung gilt, nur der Flug – seht, die Zukunft schimmert, wie das unendliche Meer.
›Zukunft – was auf mich zukommt …!‹ denkt der Nüchtern-Berauschte. ›Ich will es an mich reißen wie eine Geliebte. Die Umarmung wird auch Schmerzen bringen: ich ertrage sie gern. Selbst auf ein schnelles Ende wäre ich gefaßt, mit Katastrophen soll man immer rechnen, es kann alles schief gehen. Ein wenig Leichtsinn dürften wir immerhin gelernt haben, bei allem, was uns zugestoßen ist. – Ein Menschenleben – was ist es? – Wie wenig! Wie viel! Man muß es nur leben – sonst ist mit dem Ding nichts anzufangen.
Erreichen wir ein Ziel? Gibt es ein anderes Ufer? Setzen wir den schließlich müde gewordenen Fuß in das Land der Verheißung?
Und wenn wir zugrunde gehen – am Wege; unwissend, ohne Antwort und Trost – wäre dann alles sinnlos gewesen? Das redet niemand mir ein!
Da nichts in dieser Welt verschwendet wird; da alle Energien sinnvoll wirken, mit Plan und kluger Absicht trefflich organisiert – warum sollten gerade die Kräfte unseres lebendigen Herzens, unsere Schmerzen und Gedanken, sich ziellos verirren und ganz verloren sein?‹
Wie lange steht der Jüngling – Dieter, ein Deserteur – auf der Klippe, über dem Meer? – Das Wasser, das geleuchtet hat, erbleicht, und der Wind wird kälter. Ein Tag ist zu Ende, die Sonne will Abschied nehmen, sie sendet ihr Abschiedslicht. Es ist golden und rot, wie das Licht der Frühe – nicht nur letzter Gruß eines scheidenden Tages, sondern auch das Versprechen des kommenden.
Die Wolken am Horizont – eben noch rosig, purpurn und violett – werden fahl. Auf dem Felsen aber, wo der Jüngling steht, liegt Glanz – ein letztes Licht, oder ein erstes? Man unterscheidet es kaum. Auch der Knabe weiß es noch nicht – oder nicht mehr.
Diese brechenden Strahlen, die, zärtlich und streng zugleich, seine Stirn berühren – meint ihre Botschaft Anfang oder Ende? Sind sie das glühende Vergehen einer Herrlichkeit, die sich verbraucht hat und zur Ruhe will? Oder bringen sie den harten Segen der Morgenröte, Gnade und Befehl des neuen Tages?