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Der Ehemann

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Ende August reiste das junge Ehepaar Höfgen mit Nicoletta von Niebuhr nach Hamburg. In der Villa der Frau Konsul Mönkeberg hatte Hendrik das ganze Parterre, bestehend aus drei Räumen, einer kleinen Küche und einem Badezimmer, gemietet. Die Einrichtung der großen und behaglichen Stuben wurde ergänzt durch einige Neuanschaffungen, für deren ziemlich erhebliche Kosten Geheimrat Bruckner aufkommen mußte.

Nicoletta zog es vor, im Hotel zu wohnen. »Die spießbürgerliche Luft im Hause dieser Dame Mönkeberg kann ich nicht aushalten«, erklärte sie stolz und nervös. Barbara meinte versöhnlich, daß Frau Konsul doch auf ihre Art eine sehr brave und dekorative Person sei. »Jedenfalls vertrage ich mich glänzend mit ihr«, stellte sie fest. Frau Mönkeberg hatte ihr zum Einzug zwei junge Kätzchen geschenkt, eine schwarze und eine weiße, und erwies ihr überhaupt jede nur erdenkliche Artigkeit. »Ich bin froh, mein Kind, Sie in meinem Hause zu haben«, versicherte die alte Dame ihrer neuen Mieterin. »Wir gehören doch zu denselben Kreisen.« Frau Konsul, deren Vater Universitätsprofessor gewesen war, hatte in ihrer Jugend den Dr. Bruckner als Privatdozenten in Heidelberg gekannt. Sie lud Barbara zum Tee ins obere Stockwerk ein, zeigte ihr Familienphotographien und stellte sie ihren Freundinnen vor.

Nicoletta spottete grimmig darüber, daß Barbara solche Einladungen akzeptierte. Sie ihrerseits empfing in ihrem Hotelzimmer Variétéakrobaten, Eintänzer und Kokotten – Hendrik zitterte bei dem Gedanken, in diesen originellen Kreis könnte durch einen unseligen, aber keineswegs unwahrscheinlichen Zufall Juliette, genannt »Prinzessin Tebab«, geraten. Mit wieviel Vergnügen würde Fräulein von Niebuhr die Schwarze Venus bei sich empfangen haben! Denn sie tat sich viel zugute auf ihren Snobismus der Exzentrizität und der Verworfenheit. »Die Leute, die mein Vater für wert hielt, seine Freunde zu heißen, werden auch für mich nicht zu schlecht sein«, pflegte sie erhobenen Hauptes jedem, der es hören wollte, zu versichern.

Übrigens war nicht zu leugnen, daß Nicoletta um diese Zeit blendend in Form war. Alles an ihr schien gespannt; alles blitzte, verführte, knisterte wie geladen mit Elektrizität. Siegesgewisser denn je trug sie das kühne Jünglingshaupt mit der gewölbten Stirne, der großen, gebogenen Nase und den grellen Lippen, zwischen denen die Zähne funkelten. Die meisten männlichen Mitglieder des Künstlertheater-Ensembles waren nun schon ungeheuer verliebt in sie; die Motz hatte schelten und schluchzen müssen, weil Petersen wieder einmal unbeherrscht und draufgängerisch gewesen war: er hatte es sich nicht nehmen lassen, Nicoletta zu einem schrecklich teuren Abendessen ins Hotel Atlantic einzuladen. – Anlaß zur bittersten Verstimmung erhielt auch die Mohrenwitz, die sich daran gewöhnt hatte, dem schönen Bonetti als Ersatz für die spröde kleine Angelika zu dienen, und die ihre dämonischen Reize ausgestochen sehen mußte durch den schärferen, echteren und stärkeren Charme dieser Nicoletta. Was nützte es der strebsamen Rahel, daß sie sich die Lippen schwärzlich-violett schminkte, von ihren Augenbrauen überhaupt nichts mehr stehenließ und lange Virginiazigarren rauchte, obwohl ihr von ihnen übel wurde? Nicoletta ließ die Katzenaugen strahlen und zwang mittels hypnotischer Kräfte allen die Meinung auf, daß sie herrliche Beine habe – ähnlich jenen suggestiven indischen Märchenerzählern, die ihr verzaubertes Publikum dahin bringen, dort, wo nur blaue Luft ist, Palmen wachsen und Affen springen zu sehen.

Obwohl Oskar H. Kroge Fräulein von Niebuhr im Grunde nicht leiden konnte, hatte er ihr – auf dringenden Rat seines Freundes Schmitz, der behauptete, daß die Leute »so etwas« sehen wollten – die Hauptrolle in der ersten Herbstnovität anvertraut: Nicoletta spielte in einem französischen Reißer die tragische Demimondaine, die am Schluß des dritten Aktes von einem ihrer Geliebten auf offener Szene ermordet wird. Den jungen Mörder hatte Bonetti darzustellen, dessen vor lauter Blasiertheit und Eitelkeit angewidertes, sehr hochmütiges Mienenspiel vorzüglich zu dieser Rolle paßte; der Zuhälter, der das Aussehen eines großen Herrn hat, im Grunde aber ein gemeiner Geselle ist, war Höfgen; während Frau von Herzfeld, die das Stück übersetzt und bearbeitet hatte, die Regie führte. »Sie werden in diesem Machwerk einen noch größeren Erfolg haben als in ›Knorke‹«, prophezeite sie Nicoletta, der gegenüber sie ein mütterliches Interesse an den Tag legte, seitdem ihre Eifersucht, Hendrik betreffend, sich auf eine andere Person hatte konzentrieren müssen. »Dieser Ansicht bin ich in der Tat auch«, versetzte scharf und kühl Nicoletta. »Eine Leistung, wie ich sie morgen abend hinlegen werde, dürfte man in Hamburg kaum je gesehen haben.«

»Unberufen, toi toi toi – aber mir scheint, wir werden das Stück mindestens dreißigmal hintereinander geben können«, schmunzelte Schmitz, wobei er mehrfach abergläubisch auf Holz klopfte.

Der Vorhang war gefallen, der Beifall tobte durchs Haus. Die Niebuhr wurde immer wieder gerufen: ihre Todesszene hätten die Leute am liebsten gleich wiederholen lassen. Wirklich waren Nicolettas Schreie und Gesten im höchsten Grade erschütternd gewesen, als Rolf Bonetti den Revolver gegen sie hob. Der Schuß kracht, die tragische Kurtisane stürzt, verrenkt die Glieder, heult auf, hält sterbend eine ausführliche Rede, in welcher sie dem eifersüchtigen Liebhaber im besonderen und den Männern im allgemeinen die bittersten und wirkungsvollsten Vorwürfe macht, betet, noch einmal heult, stirbt.

Die Kritiken am nächsten Tage waren ein Chorus der Begeisterung. Alle Zeitungen schienen sich darin einig, daß Nicolettas Leistung von ungewöhnlichem Rang sei. »Nicoletta von Niebuhr am Beginn einer großen Laufbahn«, stand als Überschrift auf der ersten Seite der Mittagszeitung, die am meisten gelesen wurde. In diesem Sinne wurde auch an die Berliner Blätter depeschiert. Vor der Kasse des Künstlertheaters standen die Menschen schon am Vormittag Schlange, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war. Die nächsten fünf Vorstellungen des effektvollen Dirnendramas waren ausverkauft.

Nicoletta aber hatte am Mittag nach der Premiere von Theophil Marder folgendes Telegramm bekommen: »Verlange von dir, daß sofort zu mir kommst stop verbiete daß dich länger als Schauspielerin prostituierst stop männliches Ehrgefühl in mir protestiert gegen deine Erniedrigung stop disziplinierte Frau hat bedingungslos total genialem Mann zu gehören, der sie zu sich hinaufziehen will stop erwarte dich morgen am Bahnhof stop falls in entscheidender Situation versagst und Ankunft unter welchem Vorwand auch immer verzögerst, betrachte dich als definitiv verworfen von mir, dem Weltgewissen, Theophil.«

Nicoletta entließ herrisch einige Ballettmädchen und Eintänzer, die sich eingefunden hatten, um ihr zum Erfolg zu gratulieren. Sie rief Höfgen an und erklärte ihm mit dürren Worten, daß sie in einer Stunde nach Süddeutschland abzureisen gedenke. Hendrik erkundigte sich, ob sie witzig sein wolle oder irrsinnig geworden sei. Sie erklärte trocken: keines von beiden. Vielmehr verzichte sie auf ihr Engagement und auf ihre Karriere als Schauspielerin überhaupt. Die Rolle in dem französischen Dirnenstück könne man ohne viel Schwierigkeit umbesetzen, Rahel Mohrenwitz habe sich gewiß schon vorbereitet. Ihr, Nicoletta, aber sei auf der Welt nur noch eines wichtig: Theophil Marders Liebe. Die disziplinierte Frau gehöre bedingungslos total an die Seite des genialen Mannes, der sie zu sich hinaufziehen wolle – behauptete Fräulein von Niebuhr, zu Höfgens Überraschung, am Telefon.

Hendrik, dem das Entsetzen fast die Stimme raubte, murmelte: »Du bist krank. Ich nehme mir ein Taxi und komme zu dir.« Zehn Minuten später stand er mit Barbara im Zimmer Nicolettas, die beim Kofferpacken war.

Das edle und empfindliche Oval von Barbaras Gesicht war weiß wie die Wand, an die sie den Rücken lehnte. Barbara schwieg; Nicoletta schwieg; Hendrik redete. Erst spottete er, um dann zu flehen, schließlich zu drohen und zu toben. »Du hast einen Vertrag! Das gibt Konventionalstrafe!« Nicoletta erwiderte leise, aber immer noch mit schärfster Deutlichkeit: »Herr Kroge dürfte kaum Lust haben, mit Theophil Marder um den Besitz meiner Person zu prozessieren.« Hendrik gab zu bedenken: »Deine Karriere ist ruiniert. Kein Theater der Welt engagiert dich mehr.« Darauf Nicoletta: »Ich habe dir gesagt, daß ich mit tausend Freuden auf diese Karriere verzichte. Was ich gegen sie eintausche, ist unvergleichlich kostbarer, wesentlicher und schöner.« Nun war ihre Stimme nicht mehr scharf, sondern sang vor verhaltenem Jubel. Hendrik konnte seine Erschütterung kaum verbergen. Dieses Mädchen begann, ihm rätselhaft zu werden. Wie, es gab Leidenschaften, die den Menschen so gewaltig ergriffen, daß man für sie eine Karriere hinwarf, die eben vielversprechend begann? Hendriks Phantasie war nicht dazu imstande, sich Gefühle vorzustellen, denen sein Herz kaum gewachsen gewesen wäre. Die Passionen, auf die er sich einließ, pflegten Konsequenzen zu haben, die seiner Karriere eher zuträglich waren; keinesfalls wurde ihnen gestattet, diese zu gefährden oder gar zu zerstören. – »Und all das um des schnoddrigen Propheten willen«, sagte er schließlich.

Da richtete sich Nicoletta ganz gerade auf, hackte mit der Nase in die Luft und zischte: »Ich verbiete dir, von meinem Bräutigam, dem größten lebenden Menschen, so zu sprechen.«

Hendrik lächelte erschöpft und wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Na«, sagte er, »dann muß ich es ja wohl mal dem armen Kroge erzählen.«

Während er mit dem Künstlertheater telefonierte, ließ Barbara zum ersten Mal ihre Stimme vernehmen, vor der es wie ein Schleier von Traurigkeit hing. »Du willst ihn also heiraten?« fragte Barbara.

»Wenn er mich nimmt!« versetzte mit einer schaurigen Fröhlichkeit Nicoletta, wobei sie es vermied, die Freundin anzusehen.

Barbara sagte: »Er ist dreißig Jahre älter als du. Er könnte dein Vater sein.«

»Ganz recht«, sagte Nicoletta, und aus ihren schönen Augen schlug die Flamme des Wahnsinns. »Er ist wie mein Vater. In ihm habe ich den Verlorenen wiedergefunden. Wunderbar erneuert sich die alte Bindung.«

Barbara sagte beschwörend: »Er ist krank.«

Jedoch die Verblendete sprach erhobenen Hauptes: »Er hat die höhere Gesundheit des Genies.«

Da stöhnte Barbara nur noch: »Mein Gott, mein Gott«, und legte das Gesicht in die Hände.

Als eine Viertelstunde später Oskar H. Kroge, Direktor Schmitz und Frau von Herzfeld eintrafen, hatte Nicoletta ihre zahlreichen Koffer schon gepackt und stand in der Hotelhalle, den Wagen erwartend, der sie zur Bahn bringen sollte.

Schmitz, der plötzlich gar keine weiche Stimme mehr hatte, sondern einfach schrie, drohte mit Polizei und Verhaftung; Oskar H. Kroge fauchte wie ein alter Kater, während Nicoletta wie ein Raubvogel zurückhackte; Frau von Herzfeld versuchte es mit vernünftigem Zureden, aber sie verstummte vor Nicolettas schrillem Hohn und eisigem Pathos. Alle redeten durcheinander: Schmitz beklagte die ausverkauften Häuser, Kroge sprach von Mangel an künstlerischem Verantwortungsgefühl und an menschlichem Anstand, und die Herzfeld bezeichnete Nicolettas Betragen als den Akt einer verspäteten und degoutanten Pubertätshysterie. Barbara inzwischen hatte unbemerkt das Hotel verlassen. Nicoletta reiste ab, ohne sich von Barbara verabschiedet zu haben.

Nicolettas jähes Verschwinden bedeutete für Barbara nicht nur Schmerz, sondern auch beinah etwas wie Erleichterung. Die Nachricht von der Hochzeit, die »in aller Stille« von Nicoletta und Theophil Marder gefeiert worden war, empfing sie ohne große Bewegtheit. ›Arme Nicoletta‹, war eigentlich alles, was sie noch dachte. Ihr Herz begann schon, auf den problematischen Genuß einer Freundschaft zu verzichten, von der es so viele Jahre lang beschäftigt, beglückt und gequält worden war. An eine Zukunft mit Nicoletta konnte Barbara nicht mehr denken; indessen liebte sie es, sich der gemeinsamen Vergangenheit zu erinnern und sich selber die Geschichte einer Freundschaft zu erzählen, die durch so phantastisch-sinnvolle Umstände zustande gekommen war und sich nach so wunderlichen Gesetzen entwickelt hatte.

Willy von Niebuhr, der Vater, dessen Leben unruhvoll verlaufen war – wenn auch vielleicht nicht ganz so abenteuerlich, wie seine Tochter es darzustellen pflegte – hatte sich niemals viel um Nicoletta gekümmert. Als er in China starb, war das Mädchen dreizehn Jahre alt. Damals war sie eben aus einem Internat in Lausanne mit erheblichem Skandal entlassen worden. Niebuhr, der wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte, schrieb aus Shanghai an Bruckner, mit dem er als Student befreundet gewesen war: »Kümmere dich um das Kind!« Der Geheimrat beschloß, das Mädchen für ein paar Wochen als Logierbesuch in sein Haus zu nehmen, bis ein neues geeignetes Internat oder eine andere Möglichkeit der Unterbringung für sie ausfindig gemacht sein würde. So erschien Nicoletta im Hause Bruckner: ein gravitätisch-ernsthaftes, kluges und eigensinniges junges Geschöpf mit großer, gebogener Nase, leuchtenden Katzenaugen, einem mageren, biegsamen Körper und der stolzen, siegesgewissen Haltung des Kopfes. Dem Geheimrat war an seinem jungen Gast alles unheimlich: der verlockende und drohende Blick, die übermäßig deutliche, schneidend akzentuierte Sprechweise, die diabolische Korrektheit des Betragens. Er fand es fesselnd, aber auch etwas peinlich, die sonderbare Tochter eines interessanten Freundes so nahe bei sich zu haben und den ganzen Tag beobachten zu müssen.

Es überraschte ihn – aber er verhinderte es nicht – daß Barbara sich mit einer so heftigen Freundschaft an Nicoletta anschloß. Was zog sein Kind zu diesem fremden, krassen, wunderlichen Mädchen? Liebevoll sann der Vater darüber nach. Ihm schien es, daß Barbara in Nicoletta den Menschen suchte, der ihr selber am entschiedensten unähnlich war … Immerhin hielt der Vater diese Freundschaft für bedenklich genug, daß er danach trachtete, Nicoletta aus seinem Hause zu entfernen. Sie wurde einer Pension an der französischen Riviera anvertraut; aber auch dort gab es bald wieder Skandal, Nicoletta kehrte in die Brucknersche Villa zurück. Sie wurde entfernt, und sie kam wieder: dieses Spiel wiederholte sich häufig. Von vielen Abenteuern, die ihr junges, zugleich feierlich und unbedenklich geführtes Leben mit sich brachte, erholte sie sich stets bei Barbara. Barbara erwartete sie immer, öffnete immer ihre Tür, wenn Nicoletta anklopfte; der Geheimrat sah es, wunderte sich, grämte sich vielleicht, aber duldete es. Übrigens durfte er feststellen, daß seine schöne und gescheite Tochter, während sie an ihrer Freundin sonderbarer Existenz so treuen Anteil nahm, ihr eigenes Leben keineswegs vernachlässigte. Sie beschäftigte sich, spielerisch und nachdenklich, mit tausend Dingen; sie hatte Freunde, für deren Launen und Sorgen sie viel geduldige Sympathie aufbrachte; sie war leichtsinnig und versonnen; halb Amazone und halb sanfte Schwester; kühl und gütig, sehr spröde und stets bereit zu Zärtlichkeiten, die eine bestimmte Grenze niemals überschreiten durften. – So lebte Barbara, und vielleicht gab der Umstand, daß sie auf Nicoletta wartete, daß sie zu jeder Stunde des Tages auf Nicolettas überraschende Ankunft vorbereitet war, ihrem Leben den geheimen Sinn, das rätselhafte Zentrum, dessen es bedurfte.

Immer war Nicoletta wiedergekommen. Barbara spürte und wußte, daß sie es diesmal nicht tun würde. Dieses Mal war etwas Einschneidendes, Definitives geschehen. Nicoletta glaubte, in Theophil Marder den Mann gefunden zu haben, der ihrem Vater – oder der legendären Figur, die sie aus ihm machte – ähnlich und ihm ebenbürtig war. Nun brauchte sie Barbara nicht mehr. Dem wiedergefundenen Vater, dem neuen Geliebten vertraute sie mit dem dramatischen Eklat, der all ihre Handlungen charakterisierte, ihr Leben an. Seinem maßlosen und überreizten Willen unterwarf sich Nicoletta, die den Kopf sehr hoch trug, aber es doch liebte, sich befehlen zu lassen. Was hatte hier Barbara noch zu suchen? Viel zu stolz, um sich aufzudrängen – zu hochmütig, um auch nur zu klagen, verstummte sie und behielt sogar ihr undurchdringlich heiteres Gesicht. ›Arme Nicoletta‹, dachte sie. ›Nun mußt du selbst mit deinem Leben fertig werden. Es wird kein leichtes Leben sein – arme Nicoletta.‹

Übrigens hatte Barbara nicht viel Zeit, über ihre Freundin Nicoletta nachzudenken; ihr eigenes Dasein, der neue Alltag in der fremden Stadt und an der Seite eines fremden Mannes nahmen sie in Anspruch. Sie sollte sich an das Zusammenleben mit Hendrik Höfgen gewöhnen. Würde sie es allmählich lernen, diesen Menschen zu lieben, dessen pathetischer Werbung sie – halb aus Neugier, halb aus Mitleid – nachgegeben hatte? Ehe Barbara sich diese Frage auch nur stellte, mußte sie versuchen, eine andere – wie sie fand: entscheidende – sich zu beantworten; nämlich die: ob Hendrik seinerseits sie noch liebe und überhaupt je geliebt habe. Barbara, skeptisch aus Klugheit und aus Erfahrenheit in vielen menschlichen Dingen, zweifelte nun daran, ob die Leidenschaft, die Hendrik ihr während der ersten Wochen ihrer Bekanntschaft gezeigt – oder vorgespielt – hatte, jemals echt gewesen war. ›Ich bin betrogen worden‹, dachte jetzt Barbara oft. ›Ich habe mich von einem Komödianten betrügen lassen. Es schien ihm nützlich für seine Karriere, mich zu heiraten, und außerdem brauchte er wohl irgendeinen Menschen an seiner Seite. Aber er hat mich niemals geliebt. Wahrscheinlich kann er überhaupt nicht lieben …‹

Stolz, Wohlerzogenheit und Mitleid hinderten sie daran, ihre Gekränktheit auszusprechen, ihre Enttäuschung zu zeigen. Aber Hendrik war empfindlich genug, um zu spüren, was sie ihm, mehr aus Hochmut denn aus Güte, verbarg. Ihrer Klugheit entging, daß er litt.

Qualvoll litt er unter dem Versagen seines Gefühls vor Barbara, wie unter dem Versagen seiner Physis, das sich auf blamable und groteske Art des öfteren wiederholt hatte. Er stöhnte über seine Niederlage; denn der Aufschwung seines Gefühls, die Entflammtheit seines Herzens waren echt gewesen – oder doch beinah echt, echt bis zu dem äußersten ihm erreichbaren Grade. ›Stärker und reiner als in jenen Frühsommertagen nach der »Knorke«-Premiere werde ich niemals empfinden‹, dachte Hendrik. ›Versage ich diesmal, dann bin ich dazu verurteilt, immer zu versagen. Dann würde es feststehen, daß ich, mein Leben lang, zu Mädchen wie Juliette gehöre …‹

Da aber Selbstanklage – und sei sie noch so ehrlich und bitter – fast bei allen Menschen, von einem gewissen Augenblick an, sich in Selbstrechtfertigung verwandelt, ging er bald dazu über, in seinem Innern die Argumente zu sammeln, die er gegen Barbara verwenden und mit denen er sich selbst entlasten konnte. Wenn er es recht bedachte: War es nicht Barbara, die versagte, und an deren arroganter Kühle der Elan seines Gefühls ermatten mußte? Tat sich Barbara nicht gar zuviel zugute auf ihre feine Herkunft wie auf ihren feinen Intellekt? Lagen nicht Spott, Hochmut und ein kalter Dünkel in den forschenden Blicken, die sie jetzt so oft auf ihn richtete? – Hendrik begann, diese Augen zu fürchten, die ihm, bis vor kurzem, als die schönsten erschienen waren. Noch in der gleichgültigsten und nebensächlichsten Bemerkung, die Barbara ihm gegenüber fallen ließ, vermuteten seine Gereiztheit, sein gekränkter Stolz einen Unter- und Nebensinn, der herabsetzend für ihn war. Barbaras kleine Gewohnheiten und die stille Gelassenheit, mit der sie ihnen treu blieb, enervierten und beleidigten ihn in einem Grade, dessen Unvernünftigkeit er sich in Momenten eines ruhigeren Nachdenkens selbst zugeben mußte.

Barbara ritt vor dem ersten Frühstück, und wenn sie, gegen neun Uhr, im Speisezimmer erschien, brachte sie von draußen den Duft und Atem eines frischen Morgens mit. Hendrik aber saß, das Gesicht in beide Hände gestützt, müde und mißmutig in seinem Hausgewand, das immer zerschlissener wurde, und sah fahl aus. Um diese Stunde konnte er sich noch zu keinem aasigen Lächeln, zu keinem verführerischen Schillern der Augäpfel zwingen. Hendrik gähnte.

»Du scheinst mir noch halb zu schlafen!« sagte Barbara wohlgelaunt und goß den Inhalt eines weichen Eis ins Weinglas; denn auf diese Manier pflegte sie ihre Eier zum Frühstück zu essen: aus dem Glase und gewürzt mit viel Salz und Pfeffer, scharfer englischer Sauce, Tomatensaft und ein wenig Öl.

Hendrik versetzte pikiert: »Ich bin ziemlich wach und habe sogar schon gearbeitet – zum Beispiel mit dem Kolonialwarenhändler telefoniert, der ungeduldig wegen unserer großen Rechnung wird. Entschuldige, daß ich nicht frühmorgens schon den Anblick einer festlichen Frische biete. Wenn ich jeden Tag spazierenreiten würde wie du, sähe ich wahrscheinlich reizvoller aus. Aber ich fürchte, zu so eleganten Gewohnheiten wirst sogar du mich nicht mehr erziehen können. Ich bin zu alt, um mich noch zu ändern, und ich komme aus Kreisen, in denen so nobler Sport nicht üblich ist.«

Barbara, die sich die gute Laune nicht verderben lassen wollte, zog es vor, seine Rede wie etwas humoristisch Gemeintes aufzufassen. »Ausgezeichnet triffst du diesen Ton«, lachte sie. »Man könnte beinahe glauben, es wäre dir ernst mit ihm.« Hendrik schwieg zornig; um einen repräsentativeren Eindruck zu machen, klemmte er sich das Monokel vors Auge.

Übrigens kränkte Barbara ihn gleich wieder, sicherlich ohne es beabsichtigt zu haben. Während sie mit gutem Appetit ihr gewürztes Ei aus dem Glase löffelte, sagte sie: »Du solltest es auch mal versuchen, dein Ei auf diese Weise zu essen. Ich finde, einfach so aus der Schale und ohne das scharfe Zeug schmeckt es langweilig …« Nach einer Pause fragte Hendrik, mit einer vor Gereiztheit bebenden Höflichkeit: »Darf ich dich auf etwas aufmerksam machen, meine Liebe?« Sie erwiderte kauend: »Aber gewiß doch.«

Hendrik trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, reckte das Kinn in die Höhe und kniff die Lippen zusammen, was seiner Miene den gouvernantenhaften Zug gab. »Deine naive und anspruchsvolle Art«, sprach er langsam, »dich zu verwundern oder zu mokieren, wenn irgend jemand irgend etwas anders macht, als es im Hause deines Vaters oder deiner Großmama üblich ist, könnte manchen, der dich weniger genau kennt als ich, erstaunen oder sogar abstoßen.«

Barbaras Augen, die eben noch von einer frohen Helligkeit gewesen waren, wurden nachdenklich und bekamen den forschenden Blick. Nach einem kurzen Schweigen erkundigte sie sich leise: »Wie kommst du darauf, das gerade jetzt zu bemerken?«

Er erwiderte, wobei er immer noch auf strenge Art mit den Fingern trommelte: »Es ist allgemein üblich, ein weiches Ei aus der Schale und mit Salz zu essen. In der Villa Bruckner speist man es aus dem Glase und mit sechs verschiedenen Gewürzen. Das ist sicher sehr originell. Aber ich sehe keinen Grund, sich über jemanden lustig zu machen, der an solche Originalitäten nicht gewöhnt ist.«

Barbara schwieg, schüttelte verwundert den Kopf und stand auf. Er schaute ihr nach, wie sie sich, mit ihrem schlendernd nachlässigen, etwas schiebenden Gang, langsam durchs Zimmer bewegte. Plötzlich mußte er denken: ›Es ist sonderbar – nun hat sie die hohen Stiefel an, die mir so gut gefallen, aber an ihren Beinen wirken sie nicht so, wie ich es mir wünsche und wie ich es brauche. Bei ihr sind die Stiefel der korrekte Teil eines sportlichen Kostüms. Bei Juliette bedeuten sie etwas anderes …‹

In Barbaras Gegenwart den Namen Juliette zu denken, bereitete ihm einen bösartigen Triumph, der ihn für manche Kränkung entschädigte. ›Reite du nur spazieren‹, dachte er höhnisch. ›Mache du dir nur einen Cocktail aus dem weichen Ei! Du weißt doch nicht, wen ich heute nachmittag vor der Probe treffe.‹ Während Barbara, stolz und schweigend, das Zimmer verließ, empfand er die ordinäre Genugtuung des Ehemanns, der seine Frau betrügt und stolz darauf ist, daß sie ihm nicht dahinterkommt.

Schon in der zweiten Woche nach seiner Rückkehr hatte Hendrik die Schwarze Venus wiedergetroffen. Sie hatte ihm aufgelauert, als er abends ins Theater ging. Mit welchem Schauer der Wollust und des Entsetzens war er zusammengefahren, als aus dem Dunkel eines Torbogens ihre heisere und vertraute Stimme ihn anrief: »Heinz!« Dieser Name, dessen er sich schämte und den er abgelegt hatte – ausgesprochen von der dumpfen Stimme der Negerin, tat er ihm wohl, wie eine grausame Liebkosung. Trotzdem hatte er sich dazu gezwungen, die Schwarze anzufahren: »Was erlaubst du dir?! Du lauerst mir auf!« Da hatte sie ihm höhnisch abgewinkt mit ihrer schönen, kraftvollen, sehnigen Hand: »Laß nur, mein Süßer! Wenn du nicht artig bist, gehe ich ins Theater und mache Krach.« Es nützte ihm nichts, daß er zischte: »Du willst mich also erpressen!« Sie grinste: »Aber gewiß doch!« – wobei sie Zähne und Augäpfel blitzen ließ. Ihr breites Lachen war von einer Gemeinheit, die ihm fürchterlich und dabei unwiderstehlich schien. Er drängte Juliette in den Hausgang, denn er zitterte davor, es könnte jemand vorbeikommen und ihn in so schlimmer Gesellschaft bemerken. Wirklich sah Prinzessin Tebab arg verkommen aus. Der kleine Filzhut, den sie tief in die Stirn gezogen trug, und das abgetragene, enge Jackett hatten dieselbe grellgrüne Farbe wie die hohen, glänzenden Stiefel. Um den Hals trug sie eine kleine Boa aus schmutzigen, zerzausten weißen Federn. Über diesem traurigen Putz stand breit und dunkel das Gesicht mit den aufgeworfenen, rissigen Lippen und der platten Nase. »Wieviel Geld willst du?« fragte er sie hastig. »Ich bin selber im Augenblick ziemlich knapp …« Sie antwortete, beinahe schelmisch: »Mit Geld ist es nicht getan, mein Zuckeräffchen. Du mußt mich besuchen.«

»Was fällt dir ein?« murmelte er mit bebenden Lippen. »Ich bin verheiratet …«

Aber sie unterbrach ihn streng: »Rede kein Blech, mein Schaf. Die Frau Gemahlin kann dir das nicht bieten, was du nun einmal brauchst. Ich habe sie mir doch angeschaut – deine Barbara.« (Woher wußte sie ihren Namen? Der harmlose Umstand, daß sie ihren Namen wußte, erfüllte Hendrik mit besonderem Schrecken.) »Die Person hat ja nichts in den Knochen«, sagte Prinzessin Tebab noch und rollte die wilden Augen. Hendrik, dem der Angstschweiß auf der Stirne stand, wartete darauf, daß die Schwarze seine Barbara, Bruckners Tochter, eine »lahme Ente« nennen würde. Juliette indessen schien nicht geneigt, diese theoretische Konversation fortzusetzen. In einem drohenden Ton, der prompte und exakte Antwort verlangte, fragte sie: »Also – wann kommst du zu mir?«

In einer Dachkammer, deren graue Kahlheit durch die süßlich-grelle Reproduktion einer Raffael-Madonna über dem Bett nicht verschönt, sondern grotesk betont wurde, begannen die makabren Exerzitien wieder, die früher Frau Konsul Mönkebergs bürgerliche Stube als Dekoration gehabt hatten. Hier atmete der junge Ehemann wieder den wildfremd-vertrauten Geruch, der gemischt zu sein schien aus billigstem Parfüm und dem Aroma des Urwalds. Hier gehorchte er wieder der rauhen, bellenden Stimme, dem Händeklatschen, dem rhythmischen Stampfen seiner Meisterin. Hier deklamierte er wieder französische Verse, wenn er stöhnend vor Erschöpfung auf die harte Pritsche gesunken war, die der Königstochter als Bett diente. Nun aber führten diese finsteren Festlichkeiten, die Höfgen sich – wie früher – zweimal in der Woche gönnte, zu einem abscheulichen Höhepunkt, der ihnen früher gefehlt hatte. Wenn alles vorüber war und Fräulein Juliette ihren befriedigten und ermatteten Schüler ruhen ließ, dann begann Hendrik, in dieser Kammer und vor dieser Frau, von seiner Gattin Barbara zu sprechen.

Was er der diskret-forschenden, eifersüchtig-gespannten Neugierde seiner Freundin Hedda von Herzfeld, was er dem kameradschaftlichen Interesse des Gesinnungsgenossen Otto Ulrichs verschwieg, das gestand er seiner Schwarzen Venus, die ihn »Heinz« nennen durfte: ihr beichtete er, was er um Barbara litt. Ihr, und nur ihr gegenüber zwang er sich zur Aufrichtigkeit. Er verheimlichte nichts, auch nicht die eigene Schande. Da Fräulein Martens von seiner physiologischen Niederlage, seiner ehelichen Blamage erfuhr, lachte sie rauh, lang und herzlich. Hendrik wand sich unter diesem Gelächter, das ihm schwerer zu ertragen schien als die schärfsten Hiebe. Über ihm grinste die schwarze Königstochter: »Na, wenn das so ist, mein Süßer – wenn sich das so verhält – dann kannst du wohl nicht erwarten, daß deine Schöne dich noch mit besonderem Respekt behandelt!«

Er berichtete von Barbaras Morgenritten, die er als eine ständige Provokation empfand; er beklagte sich über all ihre stolzen Extravaganzen – »aus den weichen Eiern macht sie sich einen Cocktail, mit zehn scharfen Saucen, und schaut noch auf mich herab, weil ich mein Ei wie ein gewöhnlicher Sterblicher aus der Schale esse! Alles in meiner Wohnung muß möglichst genauso sein wie in den Häusern ihres Vaters und ihrer Großmama. Deshalb hat sie auch nicht erlaubt, daß ich mir den kleinen Böck als Diener nehme: ein sehr braver Junge, mir treu ergeben, mit ihm hätte sie sich nicht gegen mich verschwören können. Aber nein – ein Mensch, der zu mir hält, das duldet sie in unserem Haushalt nicht. Da sucht sie Ausreden und behauptet, der kleine Böck würde die Wohnung nicht in Ordnung halten – dabei kennt sie ihn überhaupt nicht, er ist seit Jahren mein Garderobier, und ich kann es beschwören: er ist die personifizierte Ordnungsliebe. Statt seiner haben wir nun irgendeine unsympathische alte Person, die zwanzig Jahre lang Zimmermädchen auf dem Gute der Generalin war: damit sich nur ja nichts ändert im Leben der gnädigen Frau!«

Dies alles hörte die Schwarze Venus sich geduldig an. Sie mußte auch zur Kenntnis nehmen, daß Barbara in guten Hamburger Häusern verkehre – »bei Geheimräten oder Bankdirektoren!« sagte Hendrik gehässig – in die er, der Schauspieler Höfgen, nicht eingeladen oder doch nur auf eine verächtliche Art, die ihn zur Absage zwang, »mit eingeladen« wurde. Barbara besuchte lauter Örtlichkeiten, die ihm fremd und feindlich schienen – Hörsäle oder Salons. Auch ihre große und verzweigte Korrespondenz bedeutete ihm ein Ärgernis. Immer schrieb oder empfing sie Briefe, Hendrik wußte nicht einmal, wer die Leute waren, mit denen sie in so reger Verbindung stand: darüber beklagte er sich bitter bei der Schwarzen Venus. Ob Juliette nicht auch der Ansicht sei, daß in den Episteln, die Barbara an ihren Vater, an die Generalin oder an ihren fatalen Jugendfreund, diesen Sebastian, sandte, hauptsächlich Dinge standen, die herabsetzend für ihn, für Hendrik, waren? Prinzessin Tebab konnte und wollte diese Möglichkeit nicht bestreiten. »Sicher macht sie sich schriftlich über mich lustig!« rief Hendrik erregt. »Wenn sie kein schlechtes Gewissen hätte, würde sie mir gewiß einmal eine von den vielen Antworten zeigen, die sie bekommt. Aber niemals kriege ich etwas zu sehen.« Diesen Umstand fand Hendrik besonders deshalb sehr schlimm und auffallend, weil er seinerseits Barbara mehrmals die Briefe gezeigt hatte, die er von seiner Mutter, Frau Bella, empfing. »Das tue ich aber nie mehr«, erklärte er nun der dunklen Königstochter mit Entschiedenheit. »Wozu soll ich sie ins Vertrauen ziehen, wenn sie doch ihrerseits nichts treibt als Heimlichkeiten? Und übrigens hat sie auch noch die Frechheit, über die Briefe meiner Mutter zu lachen.« – Wirklich hatte Barbara sich herzlich amüsiert, als Hendrik ihr den Brief zeigte, in dem Frau Höfgen vom Ende der neuesten Verlobung Josys berichtete. »Natürlich sind wir alle sehr froh darüber, daß die Sache noch einmal so gut abgelaufen ist«, schrieb die arme Mama. Hierüber hatte Barbara lange lachen müssen, und übrigens hatte Hendrik sich an ihrer Fröhlichkeit beteiligt: in jenem Augenblick fand er selber die Briefstelle ebenso drollig, wie sie Barbara schien. Nachträglich erst kam der Ärger, den er nun der Schwarzen Venus mit gereizten und klagenden Worten mitteilte. »An ihrer Familie ist alles heilig!« rief er aus. »Über die Frau Generalin und ihre Lorgnette darf man nichts sagen. Meine Mutter aber wird verspottet.«

Mit solchen Erzählungen und Lamentationen endeten die Visiten in Juliettes düsterer Dachkammer. Ehe Hendrik die fünf Mark auf dem Nachttisch deponierte und ging, sagte er seiner Prinzessin, daß er sie viel, viel mehr liebe als Barbara. »Das ist ja gar nicht wahr«, antwortete Juliette mit ihrer ruhigen und tiefen Stimme. »Du lügst ja schon wieder.« Daraufhin zeigte Hendrik ein vieldeutiges, schmerzliches, höhnisches, versonnenes Lächeln. »Lüge ich?« fragte er leise. Und dann – plötzlich mit einer hellen Stimme und das Kinn hochgereckt: »Na, ich muß ins Theater …«

Die Proben zu der neuen Inszenierung des »Sommernachtstraum«, in der Hendrik den Elfenkönig Oberon spielte, und die Vorbereitungen zu einer großen Revue waren wichtiger und erregender als das zugleich komplizierte und müßige Problem, wen er mehr liebe: Barbara oder Juliette. »Unsereiner hat nicht das Recht, sich durch Privatangelegenheiten ablenken zu lassen von der Arbeit«, erklärte er seiner Freundin Hedda. »Schließlich ist man zuerst und vor allem Künstler«, schloß er, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der sowohl stolz und siegesgewiß als auch leidend war.

Barbara, die ihren Tag mit Sport, Lektüre, Zeichnen, Korrespondenz oder in den Hörsälen der Universität verbrachte, erschien manchmal gegen Abend im Theater, um Hendrik von der Probe abzuholen. Zuweilen verbrachte sie auch eine Stunde in den Garderoben oder im H.K. – was übrigens von Hendrik nicht gerne gesehen wurde. Da er argwöhnte, daß seine Frau die Kollegen gegen ihn aufzuhetzen versuchte, wollte er keineswegs, daß der Kontakt zwischen ihr und dem Ensemble des Künstlertheaters ein gar zu enger werde. Vergeblich bemühte Barbara sich darum, für eine der vielen Neuinszenierungen, die im Laufe des Winters herauskamen, die Dekorationen entwerfen zu dürfen. Immer wieder versprach Hendrik ihr, er werde sich bei der Direktion dafür einsetzen, daß sie einen Auftrag erhalte; immer wieder kam er mit dem Bescheid zurück, die Direktoren Schmitz und Kroge wären dieser Idee gar nicht abgeneigt, aber alles scheitere am Widerstand der Frau von Herzfeld.

Diese Behauptung war nicht völlig aus der Luft gegriffen. In der Tat wurde Hedda mißgelaunt und ablehnend, wenn von Barbara die Rede war. Leidvolle Eifersucht machte die kluge Frau böse und ungerecht. Sie konnte es dieser Barbara nicht verzeihen, daß Hendrik sie geheiratet hatte. Sicher war Frau von Herzfeld niemals so verwegen gewesen, sich ihrerseits ernste Hoffnungen auf Höfgen zu machen. Sie wußte um den speziellen Geschmack des geliebten Mannes, in das düstere und peinliche Geheimnis seiner Beziehung zur Prinzessin Tebab war sie eingeweiht. Die Rolle, mit der sie sich zufriedengeben mußte – und jahrelang zufriedengegeben hatte – war die der schwesterlichen Freundin und Vertrauten. Gerade diese Rolle war es, die Barbara ihr nun streitig machte. Für Hedda bedeutete es einen Triumph, daß die Rivalin sie nicht zufriedenstellend auszufüllen schien, ihre höchst beneidenswerte Rolle. Hendrik sagte dies nicht ausdrücklich, aber der geschärfte Instinkt der Eifersüchtigen erriet es. Frau von Herzfeld wußte, woran es lag: Die Geheimratstochter war zu anspruchsvoll. Man mußte verzichten, sich selber ausschalten können, wollte man auskommen mit Hendrik Höfgen. Denn natürlich dachte ein Mann wie dieser vor allem an sich. Barbara aber verlangte und erwartete etwas von ihm. Sie beanspruchte Glück. Hierüber mußte Frau von Herzfeld höhnisch lachen. Begriff die arrogante Barbara nicht? Das einzige Glück, das Männer wie Hendrik Höfgen gewähren konnten, war das ihrer erregenden Gegenwart, ihrer bezaubernden Nähe …

Ähnliches empfand die kleine Siebert. Aber dieses anmutsvolle und zarte Geschöpf hatte, was Hendrik betraf, noch gründlicher resigniert als die alternde Herzfeld. Die kleine Siebert litt, aber sie haßte nicht. Der Gattin Höfgens, Barbara, begegnete sie mit einem scheuen Respekt. Wenn die Beneidete ein Taschentuch fallen ließ, bückte Angelika sich geschwind, um es aufzuheben. Dann bedankte Barbara sich nicht ohne Erstaunen, während die kleine Siebert rot wurde, hilflos lächelte und die kurzsichtigen Augen ängstlich zusammenkniff.

Wenn Barbaras Beziehung zu Frau von Herzfeld und Angelika, den beiden hoffnungslos Liebenden, kompliziert und belastet war, so gestaltete sich um so herzlicher ihr Verhältnis zu den anderen Damen des Ensembles. Mit der Motz pflegte sie ausführlich über Lebensmittelpreise, Schneiderinnen und die Fehler der Männer im allgemeinen und des Charakterspielers Petersen im besonderen zu plaudern. Barbara verstand es so vortrefflich, den Ergüssen der biederen und temperamentvollen Frau zu lauschen, daß die Motz zur Überzeugung kam – welcher sie gerne und laut Ausdruck verlieh – die junge Frau Höfgen sei »eine famose Person«. Dieser Ansicht schloß die Mohrenwitz sich an: Barbara, die sich nicht einmal schminkte, erhob keinen Anspruch darauf, dämonisch zu sein, und konnte also für sie, die verworfene Rahel, niemals eine Konkurrenz bedeuten.

Sowohl Petersen als auch Rolf Bonetti nannten Hendriks junge Gattin einen »feinen Kerl«; Vater Hansemann hatte ein brummiges Wohlwollen für sie, weil sie ihre Konsumationen pünktlich bezahlte; Bühnenportier Knurr begrüßte sie militärisch, da er wußte, daß sie die Tochter eines Geheimrats war; die Direktoren Schmitz und Kroge unterhielten sich gerne mit ihr. Schmitz begnügte sich zunächst mit onkelhaft-koketten Scherzen, bekam aber bald heraus, daß er bei ihr ein sachliches und kluges Interesse für die finanziellen Sorgen des Theaters finden konnte, und zog sie nun in lange Gespräche über dieses immer aktuelle, immer besorgniserregende Thema. Oskar H. Kroge seinerseits entdeckte ihr seinen Kummer über das fragwürdige Repertoire des Künstlertheaters. Der alte Vorkämpfer einer geistigen Bühne mußte es gramvoll mit ansehen, daß in seinem Hause Schwänke und Operetten das ernste Stück zu verdrängen begannen. An so bedauerlicher Entwicklung hatte die Schuld nicht nur Schmitz, welcher die Stücke nach der »Kasse« beurteilen mußte, die sie voraussichtlich machen würden; für diese Senkung des literarischen Niveaus verantwortlich war auch Höfgen – so paradox es erschien. Er sprach vom Revolutionären Theater – und inszenierte alberne Konversationsstücke. Das Revolutionäre Theater – welches nicht eröffnet wurde – mußte als Begründung herhalten für die Annahme der Reißer. Kroge, trotz seiner prinzipiellen Bedenken gegen den Kommunismus, war nun schon soweit, sich die Eröffnung des geplanten Studios, welches nicht nur revolutionären, sondern auch literarischen Geist in sein Theater bringen sollte, dringlich zu wünschen. Hendrik aber behauptete mit schöner Beredsamkeit, es sei absolut notwendig, daß er sich durch die leichteren und gefälligen Darbietungen beim Publikum und bei der Presse zum Liebling mache, ehe er sich mit dem Revolutionären Theater hervorwagen könne. Vielleicht glaubte Otto Ulrichs – ebenso geduldig wie enthusiastisch – diesen Argumenten seines guten Freundes. Skeptischer und nervöser war Barbara.

Sie unterhielt sich gerne mit Ulrichs; die Unbedingtheit und Einfachheit seiner Gesinnung imponierten ihr. Sie selbst blieb zu Zweifeln geneigt; übrigens pflegte sie zu erklären, daß sie von Politik nichts verstehe – was ihr von Hendrik höhnisch bestätigt wurde. »Du hast keine Ahnung von dem wirklichen Ernst dieser Dinge«, sagte er ihr und machte sein tyrannisches Gouvernantengesicht. »An alles gehst du spielerisch und mit kühler Neugier heran. Der revolutionäre Glaube ist für dich ein interessantes psychologisches Phänomen. Für uns aber ist er heiligster Lebensinhalt.« So sprach Hendrik. Otto Ulrichs, der die Hälfte seiner Zeit und seines Einkommens der politischen Arbeit opferte, schien viel weniger streng. Sein Ton Barbara gegenüber war etwas väterlich belehrend, aber voll Sympathie. »Sie werden den Weg zu uns finden, Barbara – das weiß ich«, sagte er, freundlich und zuversichtlich. »Sie wissen ja heute schon, daß bei uns die Wahrheit ist und die Zukunft. Sie haben nur noch ein bißchen Angst, es zuzugeben und alle Konsequenzen zu ziehen.«

»Vielleicht habe ich wirklich nur ein bißchen Angst«, lächelte Barbara.

Indessen konnte sie sich nicht genug wundern über die geduldige Gutmütigkeit, mit der Ulrichs in der Angelegenheit »Revolutionäres Theater« sich von Höfgen hinhalten ließ. Sie ihrerseits drängte – wozu sie übrigens auch noch ihren privaten, egoistischen kleinen Grund hatte: denn sie wollte die Dekorationen für die erste Inszenierung des revolutionären Zyklus entwerfen. »Meine Angelegenheit ist es ja nicht«, sagte sie beinah täglich zu Hendrik, »und nicht ich bin es, für die der Glaube an die Weltrevolution den Lebensinhalt bedeutet. Aber ich schäme mich für dich, Hendrik. Wenn du nicht bald Ernst machst in dieser Sache, wirst du lächerlich.« Daraufhin bekam Hendrik eine fahle, zugeriegelte Miene. Nun schielten seine Augen nicht vor Koketterie, sondern vor Ärger. Er antwortete mit ungeheurem Hochmut: »Das sind dilettantische Redensarten. Deine Ahnungslosigkeit in den Fragen revolutionärer Taktik ist komplett.«

Seine revolutionäre Taktik bestand darin, daß er täglich neue Ausflüchte ersann, um mit den Proben für das Revolutionäre Theater nicht beginnen zu müssen. Damit aber doch irgendeine Tat im Interesse der Weltrevolution geschähe, entschloß er sich plötzlich dazu, einen Vortrag über »Das Zeittheater und seine moralischen Pflichten« zu halten. Kroge, der für dieses Thema eine immer neue Begeisterung aufbrachte, stellte Höfgen für einen Sonntagvormittag das Künstlertheater zur Verfügung. Hendriks Vortrag war teils aus dem Vokabular seines enthusiastischen Direktors, teils aus dem Wortschatz Otto Ulrichs’ recht wirkungsvoll zusammengestellt: eine pathetische und unverbindliche Ansprache, in der sowohl die liberal gesinnten als auch die marxistisch-revolutionären jungen Leute im Parkett viele ihrer Lieblingsschlagworte wiederfanden. Am Schluß klatschten alle Beifall, und beinah alle waren überzeugt von Hendriks redlichem künstlerisch-politischen Willen – der ihm am nächsten Morgen von den Zeitungskritikern ausführlich bestätigt wurde.

Auf solche Bestätigung hatte Hendrik Höfgen gewartet. »Nun ist die Situation reif, wir können handeln«, konstatierte er und tauschte Verschwörerblicke mit Ulrichs. Die erste Probe für das Revolutionäre Theater wurde festgesetzt. Freilich war es nicht jenes radikale Stück, welches man im vorigen Jahr ausgesucht hatte, das nun einstudiert werden sollte. Vielmehr hatte sich Hendrik, im letzten Augenblick und aus taktischen Gründen, für eine Kriegstragödie entschlossen, deren drei düstere Akte das Elend des Winters 1917 in einer deutschen Großstadt schilderten und einen allgemein pazifistischen, aber keineswegs deutlich sozialistischen Charakter hatten. Barbara entwarf die Dekorationen: ein finsteres Hinterzimmer, eine graue Gasse, in der die Frauen um Brot anstanden. Otto Ulrichs und Hedda von Herzfeld sollten die Hauptrollen spielen.

Höfgen, der Regisseur, entwickelte großen Elan auf der ersten Probe. Als er mit verhaltenem, schlichtem Pathos die große Anklagerede deklamierte, die Frau von Herzfeld zum Schluß des dritten Aufzuges in ihrer Rolle als tragische Mutter zu halten hatte, mußte Otto Ulrichs sich verstohlen die Augen wischen, und selbst Barbara war beeindruckt. – Auf der zweiten Probe aber litt Hendrik an einer nervösen Heiserkeit; zur dritten erschien er hinkend – sein rechtes Knie sei plötzlich steif geworden, klagte er, er könne es gar nicht mehr biegen. Auf der vierten schließlich zeigte er ein so fahles und böses Gesicht, daß alle sich vor ihm fürchteten – nicht ganz grundlos, wie sich herausstellen sollte, denn er befand sich in entsetzlicher Laune, nannte Frau von Herzfeld eine »dumme Gans« und drohte der Souffleuse Efeu mit fristloser Entlassung. »Sie sabotieren unsere Arbeit«, schrie er sie an. »Meinen Sie vielleicht, ich wüßte nicht, warum. Vermutlich haben die Parteifreunde des Herrn Miklas Ihnen den Auftrag dazu gegeben! Aber wir werden euch das Handwerk legen – Ihnen, Ihrem Herrn Miklas, dem sauberen Herrn Knurr und der ganzen verfluchten Bande – das lassen Sie sich gesagt sein!« Es nutzte der Efeu nichts, bitterlich zu weinen und immer wieder ihre Unschuld zu beschwören.

Nach dieser Probe – die allen, welche an ihr teilgenommen hatten, in sehr häßlicher Erinnerung blieb – legte sich Höfgen zu Bett und bekam Gelbsucht. Vierzehn Tage lang betrat er nicht das Theater. Ulrichs, Bonetti und Hans Miklas durften sich in seine großen Rollen teilen. Nach seiner Genesung erschien er immer noch recht matt und mitgenommen, und seine Edelsteinaugen waren gelblich getrübt. Die Eröffnung des Revolutionären Theaters wurde auf unbestimmte Zeit verschoben: der Arzt hatte es Herrn Höfgen ausdrücklich verboten, sich noch irgendwelche Arbeiten, außer den unvermeidlichen und laufenden, zuzumuten.

Mindestens einen gab es im Ensemble des Künstlertheaters, für den diese Entwicklung der Dinge eine große Freude war: Hans Miklas strahlte und triumphierte. Er habe es ja gleich gewußt, daß die ganze Geschichte mit dem sogenannten Revolutionären Theater ein ausgemachter Schwindel sei – erklärte er laut im H.K., und die strafenden Blicke der Frau von Herzfeld konnten ihn nicht davon abhalten, es mehrfach zu wiederholen. Sein trotziges Gesicht schien erhellt von dem starken Vergnügen, welches ihm das Fiasko des Revolutionären Theaters bereitete; einen ganzen Tag lang war er wohlgelaunt, pfiff und summte, hatte keine schwarzen Löcher in den Wangen, hustete gar nicht und lud sogar die Efeu zu einem Schnaps ein: solches war noch niemals geschehen, die gute Frau sagte: »Junge, Junge, du bist ja heute ganz aus dem Häuschen!«

Natürlich konnte der schöne Zwischenfall die Laune des jungen Miklas nur vorübergehend, nicht auf die Dauer verbessern. Schon am nächsten Tage erschien sein Gesicht wieder böse verschlossen, die schwarzen Höhlen unterhalb der Wangenknochen waren wieder da, und sein Husten klang besorgniserregend. ›Wie er uns alle haßt!‹ dachte Barbara, die ihn beobachtete. Sie war nicht unempfänglich für den finsteren Charme des ungezogenen Buben. Sein Gesicht, mit dem dichten, widerspenstigen Haar über der hellen Stirn, den dunklen Rändern um die trotzigen Augen und den abweisend vorgeschobenen, ungesund leuchtenden Lippen, wirkte auf sie weit anziehender als etwa die vor Eitelkeit ermüdete Miene des schönen Bonetti. An der schmalen und elastischen Figur des jungen Miklas – an diesem trainierten, biegsamen und ehrgeizigen Körper – gab es irgend etwas, was Barbara rührte. Deshalb versuchte sie zuweilen, den jungen Menschen ins Gespräch zu ziehen. Zunächst begegnete er ihr – der Gattin des verhaßten Vorgesetzten – mit verbissenem Mißtrauen. Allmählich gelang es Barbara, ihn freundlicher und vertrauensvoller zu stimmen. Manchmal lud sie ihn zu einem Bier und einem belegten Brot im H.K. ein – Aufmerksamkeiten, die Hans Miklas sehr zu schätzen wußte. Besonders wenn Barbara sich über Hendrik geärgert hatte, machte es ihr Vergnügen, sich mit dem bösen Jungen zu unterhalten. »Wollen wir uns nicht mal wieder einen aufsässigen Abend leisten?« schlug sie ihm dann vor, und er akzeptierte gerne. Für aufsässige Abende war er immer zu haben, und erst recht, wenn ihm auch noch Bier und Fleisch dazu bezahlt wurden.

Mit einem Interesse, in das sich ein wenig Grauen mischte, lauschte Barbara, wenn Hans Miklas von dem, was er liebte, und von dem, was er haßte, sprach. Niemals noch hatte sie mit einem Menschen am gleichen Tisch gesessen, der sich zu Gesinnungen und Ansichten bekannte, die dieser Knabe mit so viel Fanatismus vertrat. Ihr wurde klar, daß er alles mißachtete oder verabscheute, was ihr selber, ihrem Vater oder ihren Freunden teuer und unentbehrlich war. Was meinte er denn, wenn er den »verdammten Liberalismus« heftig anklagte oder »gewisse jüdische und verjudete Kreise« verhöhnte, die – seiner Überzeugung nach – die deutsche Kultur auf den Hund brachten? ›Ja, er meint alles, was ich je geliebt und woran ich geglaubt habe‹, verstand Barbara. ›Er meint den Geist und die Freiheit, wenn er »Judenpack« sagt.‹ Und sie erschrak im tiefsten. Trotzdem reizte es ihre Neugierde, ein Gespräch fortzusetzen, das, für ihren Begriff, durchaus phantastischen Charakter hatte. Es kam ihr vor, als wäre sie plötzlich aus der zivilisierten Sphäre, in der sie zu leben gewohnt war, in eine ganz andere, wildfremde und barbarische versetzt worden …

Wofür begeisterte sich ein so rätselhaftes Geschöpf wie Hans Miklas? Was für Ideen und für Ideale waren es, an denen sein aggressiver Enthusiasmus sich entzündete?

Er schwärmte von einer »judenreinen deutschen Kultur«, und Barbara mußte verwundert den Kopf schütteln. Als ihr sonderbarer Gesprächspartner ihr auseinandersetzte, daß der »Versailler Schandvertrag zerrissen« und die deutsche Nation wieder »wehrhaft« werden müsse, leuchteten seine Augen, und auch von seiner Stirn schien Glanz zu kommen.

»Unser Führer wird dem Volk die Ehre wiedergeben!« rief er aus. Nun klang seine Stimme heiser; er schüttelte siegesgewiß das Haar. »Wir ertragen nicht länger die Schande dieser Republik, die vom Ausland verachtet wird. Wir wollen unsere Ehre zurückhaben – jeder anständige Deutsche verlangt das, und anständige Deutsche gibt es überall, selbst hier, an diesem bolschewistischen Theater. Sie sollten einmal hören, wie Herr Knurr spricht, wenn er nicht fürchten muß, belauscht zu werden! Er hat drei Söhne im Krieg verloren, aber er sagt, das wäre ja nicht so schlimm, viel schlimmer ist, daß Deutschland seine Ehre verloren hat – und eben die kann uns der Führer – nur der Führer – wieder verschaffen!«

Barbara aber dachte: ›Warum erregt er sich so wegen der deutschen Ehre? Was stellt er sich eigentlich vor unter diesem ungenauen Begriff? Ist es für ihn wirklich so enorm wichtig, daß Deutschland wieder Tanks und Unterseeboote bekommt? Er sollte doch erst einmal sehen, seinen schlimmen Husten loszuwerden, in einer netten Rolle Erfolg zu haben und etwas mehr Geld zu verdienen, damit er sich jeden Tag satt essen kann. Sicher ißt er zu wenig und trainiert zuviel – er sieht ja fürchterlich überanstrengt aus.‹

Sie fragte ihn, ob er noch ein Schinkenbrot wolle; er nickte flüchtig, aber dann schwärmte er weiter: »Es kommt der Tag! Unsere Bewegung muß siegen!«

Ähnliche Worte einer begeisterten Zuversicht hatte Barbara erst kürzlich von einem anderen gehört: von Otto Ulrichs. Diesem zu widersprechen, hatte sie nicht gewagt – ihr Verstand wie ihr Gefühl waren ja beinah ganz überzeugt von seinem vernunftvoll-glühenden Glauben; zu Hans Miklas hingegen sagte sie: »Wenn Deutschland wirklich einmal so werden sollte, wie Sie und Ihre Freunde es sich wünschen – dann will ich lieber nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dann reise ich ab«, erklärte Barbara und lächelte Miklas nachdenklich, aber nicht unfreundlich zu. Der jedoch strahlte: »Das glaube ich wohl! Es werden verschiedene Herrschaften abreisen – das heißt: wenn wir sie noch abreisen lassen und sie nicht vorher einstecken! Dann sind wir dran! Dann werden endlich wieder die Deutschen in Deutschland etwas zu sagen haben!«

Wie ein begeisterter Sechzehnjähriger sah er jetzt aus, mit dem verwirrten Haar und den leuchtenden Augen – Barbara konnte nicht leugnen, daß er ihr gefiel, wenngleich jedes Wort, das er sagte, ihr fremd und abstoßend war. Mit einer Beredsamkeit, die sich häufig verwirrte, aber stets eindringlich blieb, erklärte er ihr, daß der Glaube, für den er kämpfte, ein im tiefsten revolutionärer Glaube sei. »Wenn der Tag erst da ist, und unser Führer die ganze Macht übernimmt – dann ist Schluß mit Kapitalismus und Bonzenwirtschaft, die Zinsknechtschaft wird gebrochen, die Großbanken und die Börsen, die unsere Volkswirtschaft aussaugen, können zumachen, und niemand wird ihnen nachweinen!«

Barbara wollte wissen, warum Miklas nicht mit den Kommunisten gehe, wenn er doch, wie sie, gegen den Kapitalismus sei. Miklas erklärte – eifrig wie ein Kind, das eine auswendig gelernte Lektion hersagt: »Weil die Kommunisten kein Vaterlandsgefühl haben, sondern internationalistisch und von den russischen Juden abhängig sind. Auch von Idealismus wissen sie nichts, alle Marxisten glauben, es kommt nur aufs Geld an im Leben. Wir wollen unsere eigene Revolution – unsere deutsche, unsere idealistische; nicht eine, die dirigiert wird von den Freimaurern und durch die Weisen von Zion!«

Hier machte Barbara den erhitzten Knaben darauf aufmerksam, daß sein »Führer«, der den Kapitalismus abschaffen wollte, sehr viel Geld von der Schwerindustrie und den Großgrundbesitzern bekomme – woraufhin Miklas zornig wurde und solche Verdächtigungen als »typisch jüdische Hetze« scharf zurückwies. Auf diese Art diskutierten die beiden bis tief in die Nacht hinein: Barbara – ironisch, sanft und neugierig – horchte den Trotzigen aus und suchte ihn zu belehren. Er aber blieb, mit eigensinniger Kinderstirn, bei seinem blutrünstigen Glauben an die Heilslehre von der Rasse, der Brechung der Zinsknechtschaft und der idealistischen Revolution. – Souffleuse Efeu, die aus einer Ecke das ins Gespräch vertiefte Paar eifersüchtig beobachtete, flüsterte dem Portier Knurr zu: »Frau Höfgen ist auf meinen Jungen scharf – das hat mir gerade noch gefehlt. Frau Höfgen will mir meinen Buben wegnehmen …«

Noch in derselben Nacht bekam Hans Miklas Krach mit seiner Efeu; Barbara indessen hatte mit Hendrik eine schlimme Szene. Höfgen tobte: nicht aus »kleinbürgerlicher Gatteneifersucht« – wie er betonte – vielmehr aus politischen Gründen. »Man sitzt nicht mit einem Lumpen von Nationalsozialisten den ganzen Abend an einem Tisch!« rief er, bebend vor Zorn. Barbara versetzte, daß, ihrer Ansicht nach, der junge Miklas kein Lump sei – woraufhin Hendrik schneidend versetzte: »Alle Nazis sind Lumpen. Man beschmutzt sich, wenn man sich abgibt mit einem von ihnen. Ich bedaure, daß dir hierfür das Verständnis fehlt. Die liberalistischen Traditionen deines Hauses haben dich verdorben. Du hast keine Gesinnung, sondern nur eine verspielte Neugierde.« Er stand sehr aufrecht mitten im Zimmer; seine streng dozierenden Worte begleitete er mit ruckhaften, eckigen Bewegungen der Arme.

Barbara sagte leise: »Ich gebe es zu – der Junge tut mir ein bißchen leid, und er interessiert mich ein bißchen. Er ist krank und ehrgeizig, und er hat nicht genug zu essen. Ihr behandelt ihn schlecht – du, deine Freundin Herzfeld und die anderen. Er sucht etwas, woran er sich klammern und aufrichten kann. So ist er zu diesem Wahnsinn gekommen, den er jetzt so stolz seine Gesinnung nennt …«

Hendrik mußte höhnisch durch die Nase lachen. »Wieviel Verständnis du aufbringst für diesen Lausekerl! Wir behandeln ihn schlecht! Das ist köstlich! Wenn ich dergleichen nur höre! – Hast du denn keine Vorstellung davon, wie er und seine Freunde uns behandeln würden, wenn das Pack an die Macht käme?!« Hendrik – den Oberkörper vorgeneigt, die Arme in die Hüften gestemmt – fragte es mit wütender Eindringlichkeit.

Barbara sagte langsam, ohne ihn dabei anzusehen: »Gott verhüte es, daß diese Irrsinnigen jemals die Macht bekommen. Ich möchte dann nicht mehr leben in diesem Lande.« Sie schüttelte sich ein wenig, als spürte sie jetzt schon die ekelhafte Berührung der Brutalität und der Lüge, die in Deutschland herrschen würden, wenn die Nazis herrschten. »Die Unterwelt«, sagte sie schaudernd. »Es ist die Unterwelt, die da nach der Macht verlangt …«

»Du aber setzt dich an einen Tisch mit ihr und plauderst!« Hendrik machte große Schritte durchs Zimmer und sah triumphierend aus. »Das ist die edle bürgerliche Toleranz! Nur immer ein feines Verständnis haben für den Todfeind – oder für das, was man heute noch den Todfeind nennt! Ich hoffe für dich, meine Liebe, daß du dich mit ihr, der Unterwelt, erst recht vertragen würdest, wenn sie einmal an die Macht käme: du wärest dazu imstande, noch dem faschistischen Terror interessante Seiten abzugewinnen. Euer Liberalismus würde es lernen, sich abzufinden mit der nationalistischen Diktatur. Nur wir, die kämpferischen Revolutionäre, sind ihre Todfeinde – und nur wir werden verhindern, daß sie heraufkommt!« Er stolzierte wie ein Gockelhahn durchs Zimmer, ekstatisch schielend und das Kinn gereckt. Barbara aber stand unbeweglich. Hätte Hendrik sie angesehen in diesem Augenblick, er wäre erschrocken vor dem großen Ernst ihres Gesichtes.

»Du glaubst also, ich würde mich abfinden«, sagte sie beinahe tonlos. »Du meinst, ich würde mich versöhnen – mit dem Todfeind versöhnen.«

Wenige Tage später kam es zwischen Hendrik und Miklas zu einem Zusammenstoß, der damit endigte, daß Höfgen die fristlose Entlassung des jungen Schauspielers bei der Direktion des Hamburger Künstlertheaters durchsetzte. Der Anlaß zu der Katastrophe – die für Höfgen ein Triumph, für Hans Miklas aber verhängnisvoll und vernichtend wurde – schien zunächst harmlos.

Hendrik war an diesem Abend in brillanter Stimmung, der Schalk saß ihm im Nacken, er schäumte über von echt rheinischer Munterkeit und überraschte die ehrfurchtsvoll belustigten Kollegen mit immer neuen Schnurren und Scherzen. Gerade hatte er ein ebenso vergnügliches wie ergiebiges Spiel ersonnen. Da er in den Zeitungen nur die Theaternachrichten gründlich las und sich eigentlich nur für Dinge, die das Theater betrafen, lebhaft interessierte, wußte er in den Ensembles aller deutschen Schauspiel-, Opern- oder Operettenbühnen Bescheid; sein geübtes Gedächtnis behielt den Namen der zweiten Altistin in Königsberg wie der »übertragenen Salondame« in Halle an der Saale. Es gab viel Spaß und Gelächter, da Hendrik sich von den Kollegen in seiner sonderbaren Wissenschaft prüfen ließ. Er antwortete prompt, wenn man ihn fragte: »Wer ist der jugendliche Bonvivant in Halberstadt?« Und er blieb die Auskunft nicht schuldig, wenn man wissen wollte: »Wo ist Frau Türkheim-Gävernitz zur Zeit engagiert?«

»Als Komische Alte in Heidelberg«, warf Höfgen hin, als wäre dies etwas Selbstverständliches.

Zu der Unannehmlichkeit mit Miklas kam es, als jemand fragte: »Bitte, wer ist die erste Sentimentale am Stadttheater in Jena?« Hendrik erwiderte: »Eine blöde Kuh. Sie heißt Lotte Lindenthal.« Daraufhin mischte sich Miklas ein, der abseits geblieben und nicht mitgelacht hatte: »Warum ist gerade Lotte Lindenthal eine blöde Kuh?« Höfgen versetzte eisig: »Ich weiß nicht, warum sie eine ist; aber sie ist eine.« Und Miklas, mit einer rauhen und leisen Stimme: »Ich aber kann Ihnen sagen, Herr Höfgen, warum Sie gerade diese Dame beleidigen wollen: weil Sie ganz genau wissen, daß sie die Freundin eines unserer nationalsozialistischen Führer ist, nämlich unseres heroischen Kampffliegers …«

Hier unterbrach ihn Höfgen, der mit den Fingern hart auf die Tischplatte trommelte und dessen Gesicht vor Hochmut versteinert schien. »Es interessiert mich nur mäßig, Namen und Titel von Fräulein Lindenthals Buhlen zu erfahren«, sagte er, ohne Miklas eines Blickes zu würdigen. »Übrigens würde es eine lange Liste werden. Fräulein Lindenthal amüsiert sich nicht nur mit dem Fliegeroffizier.«

Miklas, die Fäuste geballt und den Kopf geduckt, stand in der kampfbereiten Haltung eines Gassenjungen, der sich gleich, zur großen Rauferei, auf den Gegner stürzen wird. Unter einer wütend gesenkten Stirne schienen die hellen Augen erblindet zu sein vor Zorn. »Hüten Sie sich«, keuchte er, und alle im Lokal erschraken über seine frevlerische Kühnheit. »Ich dulde es nicht, daß eine Dame öffentlich beleidigt wird, nur weil sie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angehört und die Freundin eines deutschen Helden ist. Ich dulde es nicht!« knirschte er mit den Zähnen, und er tat ein paar drohende Schritte.

»Sie dulden es nicht!« wiederholte Hendrik und lächelte diabolisch. »Ei, ei«, fügte er noch höhnisch hinzu – woraufhin Miklas sich nun wirklich auf ihn stürzen wollte: er wurde aber zurückgehalten von Otto Ulrichs, der ihn kräftig an den Schultern packte. »Du bist wohl besoffen!« schrie Ulrichs und schüttelte Miklas, der hervorbrachte: »Ich bin nicht besoffen, im Gegenteil! Aber vielleicht bin ich der einzige hier im Raum, der noch einen Rest von Ehrgefühl im Leibe hat! Niemand in diesem verjudeten Milieu scheint etwas dabei zu finden, wenn man eine Dame beschimpft …«

»Genug!« Dieser metallisch klirrende Ruf kam von Höfgen, der hoch aufgerichtet stand. Alle sahen ihn an. Er sprach mit einer fürchterlichen Langsamkeit: »Das glaube ich wohl, mein Lieber, daß Sie jetzt nicht besoffen sind. Sie werden sich nicht auf mildernde Umstände berufen können. Unter dem verjudeten Milieu, in dem Sie sich jetzt noch befinden, werden Sie nicht lange mehr zu leiden haben – verlassen Sie sich auf mich!« Und Höfgen verließ mit steifen, kleinen Schritten das Lokal.

»Es läuft einem eiskalt über den Rücken«, flüsterte die Motz in eine ehrfurchtsvolle Stille. Aus welcher Ecke aber hörte man nun dieses leise Weinen? Die Souffleuse Efeu hatte ihren schweren Oberkörper auf den Tisch sinken lassen, und zwischen ihren dicken Fingern rannen die Tränen.

Kroge, welcher der skandalösen Szene im H.K. nicht beigewohnt hatte, war nicht ohne weiteres geneigt, Höfgens Wunsch nach fristloser Entlassung des jungen Schauspielers zu entsprechen. Frau von Herzfeld und Hendrik vereinigten ihre Beredsamkeit, um seine juristischen, politischen und menschlichen Bedenken zu zerstreuen. Der Direktor schüttelte das besorgte Katergesicht, machte Stirnfalten, ging nervös auf und ab und brummte: »Ihr mögt recht haben – ich gebe es ja zu – unleidliches Betragen dieses Burschen … Aber immerhin: es widerstrebt mir, einen mittellosen und kranken Menschen Knall und Fall auf die Straße zu setzen …« Hendrik und Hedda ereiferten sich, diese unentschiedene, Kompromissen zugeneigte Haltung habe verdammte Ähnlichkeit mit der lahmen und feigen Art, die von den Regierungsparteien der Weimarer Republik dem unverschämten Nazi-Terror gegenüber an den Tag gelegt werde. »Wir müssen dem Mörderpack zeigen, daß sie sich nicht alles herausnehmen dürfen.« Hendrik schlug mit der Faust auf den Tisch.

Beinah schon war Kroge den Argumenten seiner beiden ersten Mitarbeiter gewonnen, als Miklas, zur Überraschung aller Anwesenden, noch einen Fürsprecher fand: es war Otto Ulrichs, der sich plötzlich anmelden ließ und bat, an der Konferenz teilnehmen zu dürfen. »Ich beschwöre euch, macht das nicht!« rief er dringlich. »Mir scheint, es ist für den Jungen Strafe genug, wenn er für die nächste Saison hier nicht mehr engagiert wird. Der dumme Kerl hat sich doch das alles, was er da gestern abend geschwatzt hat, nicht so genau überlegt! Jeder von uns kann mal die Nerven verlieren …«

»Ich bin erstaunt«, sagte Hendrik und warf durch das Monokel einen strafenden Blick auf seinen Freund Otto. »Ich bin sehr erstaunt, dich, gerade dich, so sprechen zu hören.« Ulrichs winkte ärgerlich ab. »Gut«, machte er, »lassen wir also die menschlichen Erwägungen beiseite. Ich gebe zu, daß der arme Bursche mir leid tut, mit seinem Husten und mit seinen schwarzen Löchern in den Backen. Aber aus so privaten Gründen würde ich mich doch nicht für ihn einsetzen – du solltest mich gut genug kennen, Hendrik, um das zu wissen. Vielmehr sind es, wie immer, politische Erwägungen, die meine Haltung bestimmen. Man soll keine Märtyrer schaffen. Es wäre, gerade bei der augenblicklichen politischen Situation, durchaus falsch …«

Hier stand Hendrik auf. »Entschuldige, daß ich dich unterbreche«, sagte er mit vernichtender Höflichkeit. »Aber es scheint mir zwecklos, diese an sich gewiß sehr interessante theoretische Debatte fortzusetzen. Der Fall liegt einfach: Ihr habt zwischen mir und Herrn Hans Miklas zu wählen. Wenn er an diesem Theater bleibt, werde ich es verlassen.« Dieses sprach er mit einer feierlichen Schlichtheit, die an dem unerbittlichen Ernst seiner Worte nicht zweifeln ließ. Er stand am Tisch, das Gewicht des vorgebeugten Oberkörpers auf die Hände gestützt, die mit gespreizten Fingern vor ihm lagen. Die Augen hielt er gesenkt, als wollte seine Bescheidenheit es vermeiden, den Entschluß der Anwesenden durch die unwiderstehliche Kraft seines Blickes zu beeinflussen.

Bei Hendriks schrecklichen Worten waren alle zusammengefahren. Kroge biß sich die Lippen; Frau von Herzfeld konnte sich nicht enthalten, ihre Hand auf das Herz zu legen, welches krampfhaft pochte; Direktor Schmitz war bleich geworden: ihm bereitete es physische Übelkeit, sich vorzustellen, das Künstlertheater könnte nun auch noch Höfgen, den Unersetzbaren, verlieren, nachdem es schon die effektvolle Nicoletta von Niebuhr eingebüßt hatte.

»Reden Sie keinen Unsinn«, flüsterte der dicke Mensch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Und er fügte mit seiner überraschend weichen und angenehmen Stimme hinzu: »Sie können beruhigt sein: der Junge fliegt.«

Miklas flog – Kroge hatte nur mit Mühe und dank der eifrigen Unterstützung Ulrichs’ durchsetzen können, daß der verabschiedete junge Schauspieler die Gage für zwei Monate ausbezahlt erhielt. Niemand wußte, wohin Miklas reiste, selbst die arme Efeu sah ihn nicht mehr, er hatte das Künstlertheater seit jenem peinlichen Zwischenfall nicht mehr betreten, grollend hatte er sich zurückgezogen, und nun war er verschwunden.

Miklas, Opfer seines kindischen Trotzes und seiner ebenso glühenden wie nicht durchdachten Überzeugung, war fort. Hendrik Höfgen hatte den Unbotmäßigen erledigt, den Aufsässigen aus dem Wege geschafft: Sein Triumph war vollkommen, mehr denn je bewunderten ihn alle Mitglieder des Künstlertheaters, von der Motz bis zum Böck. Die kommunistischen Bühnenarbeiter, in ihrem Stammlokal, lobten seine energische Haltung. Der Bühnenportier Knurr zeigte eine unheilverkündend finstere Miene, wagte jedoch kein Wort zu sagen und versteckte sein Hakenkreuz sorgfältiger denn je unter dem Rockaufschlag. Wenn aber Höfgen das Theater betrat, trafen ihn aus dem Halbdunkel der Portiersloge fürchterliche Blicke, in denen zu lesen stand: Warte nur, du verfluchter Kulturbolschewist, dir werden wir das Handwerk schon noch legen! Unser Führer und Erlöser ist unterwegs! Der Tag seiner großen Ankunft ist nahe! – Hendrik erschauerte, ließ sein Gesicht zur undurchdringlich hochmütigen Maske erstarren, und ging grußlos vorbei.

Seine überragende Stellung anzuzweifeln war niemandem möglich: Er regierte im H.K., im Büro, auf der Bühne. Seine Gage wurde auf fünfzehnhundert Mark erhöht: Hendrik machte sich keineswegs mehr die Mühe, wie ein nervöser Sturmwind in Direktor Schmitzens Büro zu fahren und erst lange neckisch zu tun, um dies zu erreichen; vielmehr verlangte er es mit knappen Worten. Kroge und die Herzfeld wurden von ihm fast wie Untergebene behandelt, die kleine Siebert schien er völlig zu übersehen, und in den kameradschaftlichen Ton, den er Otto Ulrichs gegenüber beibehielt, mischte sich eine gönnerhafte, beinah etwas verächtliche Note.

Nur einen Menschen gab es in seinem Umkreis, den zu überzeugen, zu gewinnen, zu verführen ihm übrig blieb. Das Mißtrauen, mit dem Barbara auf Hendrik schaute, hatte sich seit der Miklas-Affäre noch vertieft und verschärft. Er aber ertrug es nicht, auf die Dauer jemanden in seiner Nähe zu haben, der ihn nicht bewunderte und nicht an ihn glaubte. – Die Entfremdung zwischen ihm und Barbara war fortgeschritten während dieses Winters. Nun nahm Hendrik einen frischen Anlauf, um sie gänzlich zu überwinden. Zwang ihn nur die Eitelkeit zu diesem neuen Energieaufwand des Werbens? Oder nötigte ihn auch ein anderes Gefühl, seine verführerischen Kräfte für Barbara noch einmal spielen zu lassen? Er hatte sie seinen »guten Engel« genannt. Aus seinem guten Engel war sein schlechtes Gewissen geworden. Barbaras stille Mißbilligung warf einen Schatten über seine Triumphe. Der Schatten mußte weggewischt werden, damit er ungestört die Triumphe genießen konnte. – Hendrik bemühte sich um Barbara fast ebenso eifrig wie in den ersten Wochen ihrer Beziehung. Er ließ sich nicht mehr gehen in ihrer Gegenwart; vielmehr hatte er nun wieder Scherze und bedeutende Gespräche für sie bereit.

Damit sie ihn in den Augenblicken seiner intensivsten Kraftentfaltung, seiner blendendsten Wirksamkeit sähe, forderte er sie nun häufiger auf, zu großen Proben ins Theater zu kommen. »Du kannst mir gewiß wertvolle Ratschläge geben«, sagte er mit der vor Bescheidenheit klagenden Stimme und senkte die Lider über einem schillernden Blick.

Als Hendrik die erste Kostümprobe zu seiner Neubearbeitung einer Offenbach-Operette leitete, betrat Barbara leise den Zuschauerraum; leise ließ sie sich nieder, in der letzten Reihe des finsteren Parketts. Auf der Bühne standen die Girls, warfen die Beine und schrien den Refrain eines Chansons. Vor ihrer tadellos ausgerichteten Front hüpfte die kleine Siebert, die als Amor zurechtgemacht war: mit lächerlichen Flügelchen an den nackten Schultern, Pfeil und Bogen um den Hals gehängt, und einem rot geschminkten Näschen im bleichen, angstvollen und hübschen kleinen Gesicht. ›Was für eine unvorteilhafte Maske Hendrik ihr zumutet!‹ dachte Barbara. ›Ein melancholischer Amor.‹ Und sie empfand, in ihrem dunklen Versteck, etwas wie eine gerührte Sympathie für die arme Angelika, die da vorne zappelte und sprang: vielleicht begriff Barbara in diesem Augenblick, daß um Hendriks willen Angelikas Gesicht den klagenden und angstvollen Ausdruck hatte.

Höfgen stand, tyrannisch gereckt und mit gebreiteten Armen, auf der rechten Seite der Bühne und beherrschte alles. Er stampfte nach dem Rhythmus der Orchestermusik, sein fahles Antlitz faszinierte durch den Ausdruck äußerster Entschlossenheit. »Schluß! Schluß! Schluß!!« tobte er, und während das Orchester plötzlich zu spielen aufhörte, erschrak Barbara fast ebensosehr wie die Chorgirls, die ratlos dastanden, und wie die kleine Angelika: Amor, mit erfrorenem Näschen, gegen die Tränen kämpfend.

Der Regisseur aber war nach vorne gesprungen, in die Mitte der Bühne. »Ihr habt Blei in den Beinen!« schrie er die Girls an, die traurig die Köpfe senkten, wie Blumen, über die ein eisiger Wind weht. »Keinen Trauermarsch sollt ihr tanzen, sondern Offenbach.« Herrisch winkte er dem Orchester, und da es wieder zu spielen begann, tanzte er selbst. Man vergaß, daß es ein fast schon kahler Herr im grauen, etwas abgetragenen Straßenanzug war, den man da vor sich hatte. Höchst schamlose, höchst erregende Verwandlung am hellen Vormittag! Schien er nicht Dionysos, der Gott der Trunkenheiten zu sein, wie er nun ekstatisch die Glieder warf? Barbara beobachtete ihn nicht ohne Erschütterung. Eben noch war Hendrik Höfgen der Feldherr gewesen, der – gereizt, hochmütig, unerbittlich – vor seinen Truppen, den Chorgirls, stand. Ohne Übergang war er nun verfallen in bacchantische Raserei. Verzerrungen liefen über sein weißes Gesicht, die Edelsteinaugen verdrehten sich vor Verzücktheit, und von den geöffneten Lippen kamen heisere Laute der Wollust. Übrigens tanzte er glänzend, die Chorgirls schauten respektvoll auf ihren mit großer Technik taumelnden Regisseur, Prinzessin Tebab hätte ihre Freude an ihm gehabt.

›Woher kann er das?‹ dachte Barbara. ›Und was fühlt er denn jetzt? Fühlt er jetzt irgend etwas? Er macht den Girls vor, wie sie die Beine werfen sollen. Das sind seine Ekstasen …‹

In diesem Augenblick unterbrach Hendrik die frenetische Übung. Ein junger Mann aus dem Büro war vorsichtig durch das Parkett gegangen und auf die Bühne gestiegen. Nun berührte er zart die Schultern des verzückten Regisseurs und flüsterte: Herr Höfgen möge die Störung entschuldigen, Direktor Schmitz lasse ihn bitten, diesen Plakatentwurf für die Operettenpremiere, der sofort in die Druckerei zurückgeschickt werden müsse, zu begutachten. Hendrik winkte der Musik ab, stand in gelassener Haltung und klemmte sich das Monokel vors Auge: Niemand hätte dem Mann, der jetzt mit kritischer Miene ein Papier beschaute, angesehen, daß er noch vor zwei Minuten in dionysischer Trance die Glieder geschüttelt hatte. Nun zerknüllte er das Papier in der Hand und rief mit einer mißzufrieden knarrenden Stimme:

»Das ganze Zeug muß nochmal gesetzt werden! Ist doch unerhört! Mein Name ist schon wieder falsch geschrieben! Kann ich denn nicht einmal hier im Hause durchsetzen, daß man mir meinen richtigen Namen gibt? Ich heiße nicht Henrik!« Dabei warf er zornig das Papier zu Boden. »Ich heiße Hendrik – merkt es euch doch endlich: Hendrik Höfgen!«

Der junge Mann aus dem Büro duckte den Kopf und murmelte etwas über einen neuen Setzer, dessen Ahnungslosigkeit den unverzeihlichen Fehler verschuldet habe. Von den Girls kam ein leises Kichern, das silbrig klang, als bewegte man vorsichtig mehrere Glöckchen. Hendrik reckte sich und brachte das zarte Läuten mit einem fürchterlichen Blick zum Verstummen.

Klaus Mann - Das literarische Werk

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