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6 Gesetze

Daphne Konstantineopulos war in ihre Kanzlei zurückgekehrt, die genau genommen ein Institut für gegenwärtige und zukünftige Rechtsfragen war. Diese jungen Wilden aus dem Elsass, sie war zwar auch nicht älter, musste man genauer ins Visier nehmen. Die schienen mehr zu wissen und zu können. Das, was vorgeführt worden war, stellte vermutlich nur die Spitze eines Eisberges dar.

Und dann die Sache mit dem Tisch. Sie hatte notiert:

Der Tisch existiert - unbestritten, Rechtslage einfacher Realismus. Wie der Tisch existiert - sehr umstritten, Rechtslage völlig unklar !?

Sie hatte die angegebene Quelle gelesen. Das Büchlein von Russell stellte sich leider eher als eine interessante Sammlung von Fragen heraus. Die Zeichenkombination ‚!?‘ blieb. Es war ihre Art zu notieren, dass ein absolutes To-Do vorlag. Wissenslücken ertrug sie nicht. Das war die Basis für ihren beruflichen Erfolg.

Irgendwie hörte es sich nach Auflösung der klassischen Physik an. Eine Masse kann man anschauen, wiegen, vermessen, zerlegen oder was auch immer, aber im Grunde nicht erkennen. Was steckte dahinter? Physik war prinzipiell simpel. Es gab Gesetze, die konnten nicht gebrochen werden und danach richtete sich die Wirklichkeit. Besser formuliert, die Wirklichkeit wurde durch die vom Menschen formulierten Gesetze beschrieben. Und wenn dann ein Gesetz in irgendeinem Experiment oder einer Beobachtung die Wirklichkeit nicht korrekt darstellte, also gebrochen wurde, begann großes und langes Lamentieren, Forschen und Diskutieren mit dem Ergebnis, dass das alte Gesetz abgeschafft und ein neues eingeführt wurde.

Das war eine echt alternative Form zur Juristerei. Man stelle sich das einmal im täglichen Leben vor: Die Gesetze werden an die Wirklichkeit angepasst! Beispielsweise, es bricht jemand ein. Da das ein Gesetzesbruch ist, wird in Folge das Gesetz geändert. In Zukunft sind Einbrüche erlaubt. Was wer auch immer macht, wird Gesetz. In Ansätzen hat es das in der Geschichte der Menschheit bereits gegeben: Vom Wilden Westen bis zur Diktatur. Die letzte, umfassende, erschreckende Umsetzung dieses Verfahrens hatte vor einigen Jahren stattgefunden. In vielen Staaten war der Einbruch von Überwachungsdiensten in Datenverbindungen und Datenbestände legalisiert worden, wie es nett hieß. Und das nur, um den klassischen, gesetzlichen Staat zu retten. ‚Welche Ironie?‘ ging es ihr durch den Kopf.

‚Ich bin das Gesetz‘ war der Leitspruch eines jeden Diktators. Aber, und dieses aber gab zu denken. Auch ein Diktator hatte für seine Untertanen ein gesellschaftliches Gesetzeswesen zu erzwingen. Nur so konnte er regieren. Sie erinnerte sich an Montesquieu:

Die politische Freiheit des Bürgers ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muß die Regierung so eingerichtet sein, daß ein Bürger den anderen nicht zu fürchten braucht.

Wenn in derselben Person oder in der gleichen obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt es keine Freiheit; denn es steht zu befürchten, daß derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu vollziehen.

Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben.

Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft der Großen, des Adels oder des Volkes die drei Gewalten ausüben würden: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder die Streitsachen der Einzelnen zu richten.17

Leider setzten sich die Ansätze zu langsam auf der Erde durch. Die Freiheit des Einzelnen, eingeschränkt durch die notwendigen Grenzen eines Lebens in einer Gruppe, war nur gesichert, wenn eine unabhängige Instanz, die sogenannte richterliche Gewalt, darüber wachte. Gesetze und ihre Umsetzungen durften nicht zu unangemessenen Einschränkungen der Freiheit genutzt werden. Nur so war die individuelle Freiheit, die sie kannte, möglich. Leider gab es dennoch zu viele Freiheiten in der Gesellschaft.

In den klassischen Naturwissenschaften gab es keine Freiheit. Naturgesetze tyrannisierten Energie und Materie. In der Quantengravitation18 war noch etwas anderes. Da gab es Ungeheuer wie Schrödingers Katze.19 Was Daphne überhaupt nicht verstand: Wie konnte es einen freien Willen geben, wo doch die Tyrannei der Naturgesetze allgegenwärtig war.

Damit war sie wieder bei einem ihrer Lieblingsthemen. Was gab es für Typen von Gesetzen? In ihrem Büro hing dazu eine Grafik. Diese zeigte den Versuch, Gesetzestypen mit Komplexität in Beziehung zu bringen.

Am Anfang standen die Naturgesetze wie zum Beispiel: Alle Äpfel fallen nach unten, gestern, heute, morgen und in jeder Zukunft, ja bis in alle Ewigkeit. Sie hatte schon gehört, dass diese Naturgesetze vielleicht doch nicht konstant seien, aber das war vom Alltagsleben weit entfernt. Die Gesetze der Evolution, auch Naturgesetze, hatte sie extra abgesetzt, da diese sich auf den lebenden Zustand von Materie bezogen. Die Entwicklung hatte zum Menschen geführt, womit die Gesetze der Erkennens und Denkens auftauchten. Obwohl diese letztlich aus den physikalischen Gesetzen heraus entstanden waren, gab es umgekehrt kein Gesetz, das besagte, was ein Tisch ist. Es war nur eine Übereinkunft: Es gibt kein Gesetz, das besagt, was ein Tisch ist oder was Wirklichkeit ist.


Wurde eine Gruppe von Menschen betrachtet, konnte diese sich darauf verständigen, was ein Tisch sei, was unter Wirklichkeit zu verstehen sei. Mehr war nicht möglich. Für eine sinnvolle Kommunikation genügte das. Eine solche Verständigung war kein Gesetz sondern eine Übereinkunft. Erst wenn es um die Handlungen innerhalb der Gemeinschaft ging, tauchte der Begriff Gesetz auf.

Neue Gesetzestypen wurden mit zunehmender Komplexität von Materie, Energie, Information beobachtbar. Zwar galten die vorab aufgetretenen Gesetze weiterhin, doch je enger oder komplexer die Gültigkeitsbereiche wurden, desto weniger hart waren die dazugehörigen Gesetze. Vom Menschen für Menschen gemachte Gesetze waren ziemlich weich.

Eine denkbare Erweiterung dieses Schema hatte Daphne oft angedacht. Links oben bot sich an, allgemein von Intelligenzen zu sprechen. Vermutlich wären die Gesetze der Intelligenzen noch weicher als die der menschlichen Gesellschaften. Stände nach weiteren Schritten am Ende der Kette Gott, würde für diesen kein Gesetz mehr gelten. Nach klassischer Lehrmeinung war Gott allmächtig. Er wäre das Unendlich der vertikalen Achse.

Daphne stand nachdenklich vor ihrer Grafik: ‚Mein Kopf ist zu klein. Ist das ein sinnvoller Ansatz? Und der Tisch? Wie existierte der Tisch? Da nutzt mir auch der eingezeichnete Pfeil nichts.‘

Das Problem wollte sich nicht lösen lassen.

‚Wo ist hier das Unbekannte, die neue Theorie? Was wussten diese jungen Wilden, was der Rest der Physiker dieser Welt nicht wusste? Welche neuen Gesetze oder Lücken in alten Gesetzen waren gefunden worden?‘

Im Grunde kam sie nicht weiter. Ihre Anfrage bei den hausinternen Experten zur Vorbereitung der Verhandlungen hatte seinerzeit keinerlei Hinweise ergeben. Wenn ihr nichts einfiel, blieb noch der Versuch von Beschattung und Spionage, was sie grundsätzlich ablehnte.

‚Aber einfach direkt fragen, was ein Tisch ist, war einen Versuch wert.‘

17 Montesquieu, Charles de Secondat: Vom Geist der Gesetze, hrsg. von Forsthoff, Ernst: Tübingen, 1951, 1. Bd. S. 212-215 gekürzt

18 Die sogenannte Quantengravitation ist eine physikalische Theorie, in der die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenphysik verbunden wird. Damit wären alle Naturkräfte mit einer Theorie dargestellt. Bisher existiert sie nur in Ansätzen.

19 Schrödingers Katze bezeichnet ein Gedankenexperiment, welches sich auf Elementarteilchen bezieht. Erst durch Nachmessen wird feststellbar, in welchem Zustand das Teilchen ist. Vorher kann es formal gleichzeitig mehrere Zustände haben. Übertragen auf die Katze könnte diese gleichzeitig tot und lebendig sein, solange niemand hinschaut.

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