Читать книгу terrane Manifestationen - Klaus Paschenda - Страница 14
Оглавление8 Sokrates
Doch dann war da noch Sokrates, aber das war nur sein Spitzname. Er arbeitete an einem Buch ‚Die Theorie des Denkens konfrontiert mit praktischen Beispielen‘. Das schien ziemlich langweilig. Mit seinen Vorlesungen und Seminaren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, ehemals nur Zürich, gehörte er zu den Randfiguren des wissenschaftlichen Betriebs. Ihm war es recht, nicht im Zentrum zu stehen.
Zu La Ferme hatte er aufgrund seiner beruflichen Arbeit einen gewissen Abstand und konnte auf diese Art so etwas wie das Gewissen von La Ferme sein. Er war an ihr Netz angeschlossen und verfolgte ihre Tätigkeiten. Einerseits wurde er als Mitglied von allen geschätzt und mit ihm gern und häufig gefeiert, andererseits war die Gruppe für ihn eines der Beispiele, welches er in seinem Buch dokumentierte. Als externer Beobachter und zugleich Mitglied des Systems wechselte er permanent die Rollen. Hier konnte er eine Menge interessanter Beobachtungen machen. In letzter Zeit war das immer schwieriger geworden, da die Arbeiten zunehmend geheimer wurden.
Der Ruf von Pierre, zum Experiment mit dem MF_02 zu kommen, hatte ihn zeitgleich mit den anderen erreicht. Er weilte aber gerade in St. Gallen am dortigen Malik Management Zentrum, um Ansätze von Denktheorien in Business-Modellen zu diskutieren. Es ging um das Erbe von Stafford Beer22 im Dunstkreis des vernetzten Denkens. Sokrates konnte sich nur die Aufzeichnungen des Experimentes anschauen. Marie und Pierre hatten sich sofort nach dem Versuch bei ihm gemeldet.
‚Immer diese Nichtdenker‘, hatte er geseufzt, ‚rennen einfach in der Weltgeschichte los ohne über die Richtung und ihr Handeln auch nur einen Gedanken zu verschwenden.‘
Nach seiner Rückkehr musste er unbedingt mit ihnen reden. Offensichtlich war, dass wieder ein reflexiver Abend angesagt war.
Experimentieren was das Zeug hergab. Er konnte das verstehen. Aber intelligente Menschen sollten zunächst denken und dann handeln. Es war nicht das erste Mal.
Vor einiger Zeit hatte er ihnen eine alte, defekte Uhr geschenkt, um die Temperamente in Spur zu bringen. Die Zeiger waren entfernt und auf das Zifferblatt hatte er vier Worte geschrieben: Erkennen, denken, handeln, lernen. Dann kam die nächste Runde. Es mussten ja nicht zwölf Stunden sein, aber wieder in die Reihenfolge ‚erkennen, denken, handeln, lernen‘.
Sie waren wie Kinder. Manchmal benahmen sie sich dumm wie die meisten Politiker. Erst Denken und dann Handeln waren da recht selten. Lernen kam nicht vor. Unmengen von Energie in was auch immer für ein X-Loch zu schicken! Hoffentlich blieb sie wo auch immer. Ein gegrilltes Fessenheim war nicht sein Geschmack.
„Ist euch eigentlich auch nur annäherungsweise klar, welchen Weg ihr eingeschlagen habt?“ begann Sokrates das Thema.
Sie saßen gemütlich um den offen Kamin, in dem trockenes Buchenholz alles für eine warm leuchtende Flamme gab. Draußen war es heute viel zu kalt. Die Klimaveränderung hatte zu absurden Wetterumschlägen im Vergleich zu fünfzig oder mehr Jahren geführt. Ja, da war es wieder: Denkt erst über die (möglichen) Zusammenhänge nach. Sie nannten Sokrates nicht umsonst Sokrates. Er war derjenige, der an einfachen Beispielen das aktuelle Handeln mit vielen Fragezeichen versah. So auch jetzt.
„Wenn das, was Marie und Pierre mir berichtet haben, was das letzte Experiment andeutet, auch nur in Teilen wahr ist, wird das Grundgefüge der Physik erschüttert. Einstein, Hawking und viele andere haben Pflöcke in die Geschichte der Wissenschaft gerammt. Ihr geht darüber hinaus. Ihr brecht die Tür zu neuen Wirklichkeiten auf. Oder soll ich sagen, ihr habt die Tür eingetreten?
Wir wissen nicht, was uns erwartet. Das kann für Systeme, auch für unseres, im Extremfall tödlich sein. Ihr habt alle in eurer Jugend Vesters23 kybernetische und andere Simulationen gespielt. Wie war denn eure Erfolgsquote bei einer primitiven Welt?
Schaut doch mal, wie primitiv unsere Welt ist! Und die andere Welt? Was ist mit der Welt hinter der Tür? Kann die mit uns umgehen, können wir mit ihr umgehen oder gibt es für eine von uns oder beide eine tödliche Katastrophe?
Allgemeiner gefragt: Woher nehmt ihr eigentlich das Recht, neue Dinge zu erforschen? Auch diese Tradition kann hinterfragt werden!
Seit über hundert Jahren gibt es Nobelpreise für Entdeckungen, das heißt Expeditionen in unbekannte Welten. Aber was ist, wenn wir in eine Welt gelangen, die uns umbringt? Die Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und andere, für die es 1944 einen Nobelpreis gab, zeigt, dass neue Erkenntnisse mehr Schatten als Licht bringen können. Lest die Geschichtsbücher: Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl, Fukushima, Teheran, Korea. Klassische Entdecker haben Millionen von Menschen auf dem Gewissen: Denkt an die Seuchen, die die Spanier den Azteken gebracht haben. Weiter: Das ursprüngliche, ökologische System Australiens wurde durch ein paar Kaninchen zerstört. Und Ihr? Wollt Ihr als die ersten Vernichter fremder Welten in die Wissenschaftsgeschichte eingehen?“
Obwohl Sokrates eher ein ruhiger Schweizer war, zeigte er, wenn es ernst wurde, Temperament. Lautes Gemurmel ließ ihn innehalten.
„Habe ich euch so weit, dass wir reden können?“
„Wir haben doch dich!“ meinte spitz Geneviève.
„Ok, Geniè, aber nur wenn du all die Fragen, die ich gerade gestellt habe, nach wissenschaftlichen Verfahrensstand von heute mir schriftlich beantwortest.“
„Krämerseele“, war ihr Kommentar, auch wenn sie eigentlich nicht wusste, was hinter diesem Wort stand.
Sokrates ließ sich nicht beirren: „Jeder von uns könnte das, was ich jetzt sage, vortragen. Gelegentlich muss man sich nochmals die Grundlagen in den Kopf holen.
Zur Erinnerung: Wie ihr alle wisst, sollte man beim Denken mit Systemen beginnen. Systeme sind eine Konstruktion der abstrakten Wissenschaften. Wie komme ich zu einem System? Ein System existiert in einer Umgebung, das heißt, wir ziehen eine Grenze um etwas, dass wir in Zukunft System nennen. Die Grenze eines Systems kann diverse Eigenschaften aufweisen. Ihr wisst ja, offene Systeme, geschlossene Systeme und so weiter.
Anders gesagt: Die Definition von System und Umwelt wird vom Beobachter vorgenommen. Es ist eine Betrachtungsweise. Das System Mensch ist bildlich leicht abzugrenzen. Für unser IT-System sind die Grenzen überlebenswichtig, aber wo sie überall hergehen, können wir uns nicht so einfach vorstellen. Da ist viel zu tun, bis auch beim letzten vernetzten Kühlschrank die Grenzen klar formuliert sind. Wenn wir das nicht im Griff haben, ist es um die Abgeschlossenheit unserer Daten schlecht gestellt. Und ihr habt Gigawatts durch eine uns unbekannte Systemgrenze geschickt!
Unsere gesamte bekannte vierdimensionale Welt, die höheren Theorien lasse ich außen vor, bildet für uns ein System. Was hinter der Grenze dieses Systems ist, wissen wir nicht. Unser System befindet sich in einer unbekannten Systemumwelt. Jemand, der dort sitzt, wird aus seiner Perspektive unsere vierdimensionale Welt als Teil seines Heimatsystems sehen. Daher die Frage:
Was haben wir in einem System? Viele Dinge, die aus einer anderen Sichtweise betrachtet, ebenfalls Systeme sein können. Ein System ist eine Menge von Elementen, die untereinander in einer Beziehung stehen. Die Beziehung kann auch darin bestehen, dass keine Beziehung besteht, quasi die Null der Beziehungen.
Jedes Element eines Systems kann selber ein System sein. Umgekehrt ist jedes System ein Element innerhalb seiner Umgebung, innerhalb eines größeren Systems. Die Begriffe System und Element sind zueinander komplementär24. Ihnen wohnt eine Rekursivität25 inne. Das Ganze hängt wie gewöhnlich von Ort und Zeit ab, so auch die Systemgrenze, die wir durch unsere Betrachtung in der Wirklichkeit ziehen.
Was bedeutet das für unser Experiment?
Aus Sicht auf die Systemgrenze ist damit nachgewiesen, dass unser bekanntes Universum kein abgeschlossenes System ist. Grundsätzlich ist damit ein Verlassen unserer Welt möglich. Herzlichen Glückwunsch! Oder vielleicht auch nicht!
Aus Sicht der Elemente unseres Systems: Ihr habt ein Element in unserem System gefunden, welches zugleich Element in einem anderen System ist. Dieses andere System ist uns im Moment absolut unbekannt. Da es Energie aufnehmen kann, muss es eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Welt haben.
Ihr habt Unmengen an Energie in die fremde Welt transferiert. Welche Systemänderungen habt ihr angestoßen? Stellt euch vor, hier in unserer Mitte würden plötzlich einige Gigawatt auftauchen. Wir wollen doch lieber an unserem kuscheligen Feuer sitzen.
Keiner hier kennt die Konsequenzen, die sich aus eurem Handeln ergeben werden. Unsere primäre Aufgabe ist zu klären, dass wir nichts Böses oder Schädliches anstellen.“
Betroffenheit machte die Runde. Was Sokrates gesagt hatte, war ihnen ja bekannt. Diese Standpauke erdete sie wieder. Dabei war es so schön gewesen, ungehemmt neue Dinge zu entdecken.
„Gut“, meinte Lodo, „dieser Rücksturz zur Erde war notwendig. Das war eine Alpha-Order unseres alten Griechen. In der Sache haben wir eine ernste Situation. Also: Tragen wir alles zusammen, was wir über dieses Element, durch das die Energie verschwunden ist, wissen. Wir sollten es Brücke nennen. Zumindest unseren Brückenkopf kennen wir. Das ist der MF_02 im Moment.
Zweitens benötigen wir vorläufige Theorien für die Konstruktion des Durchgangs, Übergangs in das fremde System. Anschaulich gesprochen: Wie geht man über diese Brücke? Was darf man mitnehmen? Und was sollte man tunlichst lassen? Wenn ich für unser System Alpha und das andere System Beta einsetze, heißt das, wie geht man in Beta hinein, was darf und kann ich dort tun? Und gibt es noch ein Gamma oder auch ein Omega?
Und drittens: Was machen eigentlich Watsons Kinder, unsere KI, sind sie eingebunden, wenn ja, wie? Ich schlage vor, dass wir unsere Vermutungen inklusive ihrer Begründungen bezüglich der anderen Welt zentral in die KI einspeisen. Die Schwarzwälder sollen dann alles, was an Software zum Theoretisieren zu haben ist, damit beschäftigen. Auch ein Weg. Wir haben hier die Chance, die Entwicklung einer Theorie und die damit verbunden Technik gleichzeitig zu erfassen. Das in ein evolutionäres Softwaremodell zu übertragen, könnte helfen.“
Geniè war mit den Gedanken schon in der Zukunft: „Weiter ist zu klären, ob mit Beta kommuniziert werden kann.“
Das war Lodo zu viel: „Stopp! Wir haben null Ahnung, was dahinter ist. Wissen nicht, wie wir schreiben müssen, geschweige denn, dass wir einen Brief über die Brücke bringen können.“
Pierre ergriff das Wort: „Wo wir bei der Generaldebatte sind. Lodo und ich haben die Box gebaut, Stand MF_02 im Moment, die unser Brückenkopf nach Beta ist. Dahinter steckt die Theorie, die im Wesentlichen von Marie und Maxim mathematisch formuliert wurde. Im Grunde ist es einfach. Man nehme einen Satz von Regeln, wende diese Informationsstruktur auf ausgewählte Materie an und erhält ein zeitlich stabiles Raumgebiet in der Box. Bisher wissen wir, dass alles, was wir hinein stecken, spurlos aus unserer Welt verschwindet.“
Maxim meldete sich zu Wort: „Pierre und Lodo haben lediglich einen Teil der Theorie in die Praxis umgesetzt. Allgemeiner geht das so: Man wähle ein paar Gesetze, wende sie auf ein X an und erhält das, was ich als Manifestation definiere. Es ist wie beim Kochen. Man nehme die Regeln des Rezepts, wende sie auf die Zutaten an und es manifestiert sich hoffentlich was Essbares. So gesehen sind auch Menschen Manifestationen, nämlich die Anwendung der Naturgesetze, die hier gelten, auf das hier vorhandene, vornehmlich energetische, materielle X.
Eine Theorie ist ebenfalls eine Manifestation, nämlich die Konstruktionsregeln zum Bau einer Theorie angewandt auf ein anderes X, das hier aus unserer Sicht eher informationelle Dimensionen hat. Da es für alles und jedes Regeln gibt, die man auf ein X anwenden kann, ist folglich alles und jedes so gesehen eine Manifestation. Weiter gedacht: Die erste Metatheorie26 besagt dann, dass ein Manifestationsprozess ebenfalls eine Manifestation ist. Vermutlich ist diese Rekursivität im Sinne der klassischen Mathematik unendlich. Das hat im Moment keine Bedeutung für uns, obwohl ich da Hypothesen habe.“
„Bleiben wir auf dem Teppich; jetzt ist ja allen klar, worum es geht“, schaltete sich Geniè ein. „Für die Box, den MF_02, kennen wir X und die Regeln zumindest in dem Sinne, dass wir sie konstruieren können. Da die Box von Beta aus betrachtet auch existiert, ist Beta ebenfalls eine Manifestation, die zumindest in Teilen auf energetischer Basis beruht. Hat Sokrates ja schon vorhin aus Systemsicht begründet. Solange wir nichts Besseres wissen, sollten wir annehmen, dass unsere Gesetze bezüglich der Quantengravitation auch dort gelten.“
Sie fuhr fort: „Ich habe einen Kommunikationsversuch dorthin vorgeschlagen. Wir sollten verschränkte, modulierte Photonen einsetzen. Das sollte gehen, oder könnt ihr das nicht?“
„Langsam, ganz langsam“, meinte Sokrates, „die Verschränkung verknüpft Beta direkt mit uns. Das könnte ein Risiko sein!“
Unsichere Blicke gingen durch die Runde. Aber sie waren schon wieder auf dem Trip.
„Wir sollten die notwendigen Modifikationen an der Box hinkriegen. Was meinst du Lodo?“ meinte Pierre.
„Ja, müssen es aber mit einer zweiten Box testen, da ist vorher Nachdenken angesagt“, antwortete Lodo.
Es wurde ruhig. Jeder schien für sich Gedanken über eine neue Zukunft zu haben.
Sokrates unterbrach die Stille: „Nochmals: Rücksturz zur Erde. Dies ist eine Alpha-Order.“
Geniè sah, dass sie nicht weiter kamen. Sie nahm die Alpha-Order an:
„Wisst ihr was? Lassen wir das in den Köpfen sacken. Ich bin jetzt für einen Apéritiv dînatoire.27 Und nach dem leckeren Essen von Marie spendiert Lodo einen guten Barolo,28 auch wenn wir den vielleicht nicht verdient haben, oder es unser letzter ist, ok?“
Zustimmung kam von allen Seiten.
20 Der Lounge Chair von Charles und Ray Eames ist eine besondere Form des englischen Clubsessels im Design von 1956.
21 EDF = Électricité de France SA (EDF) marktbeherrschende französische Elektrizitätsgesellschaft, vornehmlich in Staatsbesitz.
22 Stafford Beer, 1926-2002, Wirtschaftswissenschaftler, Begründer der Managementkybernetik entwickelte durch interdisziplinäre Forschungen Verfahren zu einem ganzheitlichen Management.
23 www.frederic-vester.de/deu/ecopolicy/ (2.1.2019)
24 Komplementarität ist ein Begriff der Erkenntnistheorie für zwei (scheinbar) widersprüchliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen, die aber in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind. Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Komplementarität (15.2.2018)
25 Rekursivität liegt vor, wenn eine Aussage, eine Regel immer wieder auf sich selbst angewandt werden kann. Beispiel: Ein System enthält Elemente, die Systeme sind, die Elemente enthalten, die Systeme sind, die Elemente halten, die Systeme sind, die …
26 Eine Metatheorie dient der Beschreibung und Analyse von Theorien. Zum Beispiel formuliert und begründet die Ethik die Regeln des Handelns, während die Metaethik diskutiert, ob das Verfahren der Begründung überhaupt zulässig ist.
27 Apéritiv dînatoire ist kleines Büffet am späten Nachmittag mit Schaumwein und einigen Snacks.
28 Barolo ist ein hochwertiger, trockener Rotwein aus dem Westen Norditaliens.