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13 Fragen

Sokrates war zum Wochenende an den Vierwaldstätter See gefahren. Die längst ausgemusterte Seewarte war zwar sündhaft teuer gewesen, aber mit dem Bootsschuppen dabei hatten sich einige Zimmer einrichten lassen. Am Steg dümpelte ein altes Segelboot, dessen Kajüte notfalls vier Personen Platz bot. Er war allein hier. Die Sonne hatte es doch noch geschafft. Auf der Bank mit Blick über den See auf das etwa drei Kilometer entfernte Kehrsiten konnten seine Gedanken frei schweifen.

Die Ereignisse vom letzten Montag mussten verdaut und eingeordnet werden. Was sollten sie sich unter Beta vorstellen? Mit welcher unheimlichen Macht hatten sie zu tun? Wer konnte so starke Gravitationswellen erzeugen? Vor allem: Wie sollte es weitergehen?

Schon ihre eigene Welt, diese Gesellschaft, diese Erde, diese Galaxie waren mehr als ein Rätsel.

‚Wir müssen erst einmal bei uns aufräumen‘, dachte er. ‚Nur wenn wir wissen, wer wir sind, was wir sind, was wir tun sollen - oder auch nicht tun sollen, also genau dann, wenn wir uns im Griff haben, den Dreck vor unserer Haustür weghaben, dann können wir uns um die Nachbarn kümmern.‘

Sokrates lehnte sich zurück und schloss die Augen.

‚Das Fremde wirkt wie ein Spiegel. Wie die Reflexion des Lichtes von einem Spiegel wirft es uns auf uns selbst zurück, auf unsere Probleme. Ich muss in Ruhe malen‘, murmelte er vor sich hin.

Bei sich hatte er ein historisches, hölzernes Klemmbrett mit einer Handvoll leerer Seiten. Die Eckpunkte waren zügig notiert:

1. Da waren sie, ihre Welt Alpha, der Ursprung aus ihrer Sicht.

2. Es gibt eine andere Welt, Arbeitsbezeichnung Beta.

3. Zur Beschreibung dieses Sachverhalts kann die allgemeine, noch sehr unvollständige Theorie der Manifestationen dienen.

4. Es kann ein Tor, eine Brücke, in diese andere Welt konstruiert und benutzt werden.

5. Es kann Energie in Form von elektromagnetischen und gravitationellen Feldern durch dieses Tor unsere Welt verlassen.

6. Beta zeigt keine Reaktion auf EM-Felder, reflektiert und verstärkt G-Felder nach nicht natürlichem Muster.


Dies war das eine.

In welche Elemente und welche Systeme kann die Situation gegliedert werden, wo sind Systemgrenzen? Da waren sie, ihre Welt Alpha, wo endete diese? Dann die Welt oder auch mehrere Welten wie Beta, die Tür als verbindendes Element und vermutlich eine Intelligenz in Beta, von der nichts bekannt war. Über diesem Ensemble stand die Theorie der Manifestationen, ein externes Element, das strukturelle Ordnung schuf.

Sokrates war, wie alle anderen Gruppenmitglieder, internes Element des Systems Alpha. Im egozentrischen Zwiebelschalenmodell vom Ich bis zu den Grenzen der Galaxie war das nicht schwierig zu zeichnen.

Was suchte er eigentlich? Was war denn hier die Frage? Oder gab es gar ein Problem? Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, lautete: Wie sollen wir uns in dieser Situation verhalten?

Gleich kamen ihm wieder die Kantschen Grundfragen in den Sinn:

- Was kann ich wissen ?

- Was soll ich tun ?

- Was darf ich hoffen ?

- Was ist der Mensch?

Hier ging es um die zweite Frage. Aber, und das war das eigentliche Problem: Was auch immer getan wurde, die Konsequenzen waren unbekannt. Da halfen die klassischen Erörterungen wenig.

Bereits die erste Frage setzte ein Können voraus. Leben war Können und Wissen:

- ein Können in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und

- ein Wissen über sich und die Umwelt.

Dieser Unterscheidung zwischen Können und Wissen folgte dann bei Kant das Sollen. In ihrer Situation musste er seiner Meinung nach formulieren:

- Was darf ich tun ?

Das war inhaltlich eine fürchterlich große Frage. Häufig näherte er sich solchen Monsterfragen, indem er zuerst die sprachliche Ebene genauer betrachtete, zum Beispiel: Welche Verben werden benutzt? Das führte meist zu einer Menge von Ansätzen, von denen weiter gedacht werden konnte.

Nochmals notierte er sich die drei Grundfragen und schrieb die Verben heraus:

- Was kann ich wissen ? - - können und wissen

- Was soll ich tun ? - - sollen und tun

- Was darf ich hoffen ? - - dürfen und hoffen

Die Verben seiner Frage – was darf ich tun – waren darin enthalten. Mit der Bauvorschrift ‚was‘ + Verb + ‚ich‘ + Verb konnte er 36 Fragen generieren:

Was kann ich + können / wissen / sollen / tun / dürfen / hoffen ?

Was weiß ich + können / wissen / sollen / tun / dürfen / hoffen ?

Was soll ich + können / wissen / sollen / tun / dürfen / hoffen ?

Was tue ich + können / wissen / sollen / tun / dürfen / hoffen ?

Was darf ich + können / wissen / sollen / tun / dürfen / hoffen ?

Was hoffe ich + können / wissen / sollen / tun / dürfen / hoffen ?

Wenn er weiter führend die Egozentrik über Bord warf, also das ‚ich‘ durch ein ‚der andere‘ oder durch ‚wir‘ ersetzte, gab es noch mehr zu klären. Nicht alles, was sich da zusammenbraute, war sinnvoll, aber es regte an und zeigte Perspektiven auf. Selbst unsinnige Fragen waren als solche zu bedenken, um dann begründet verworfen zu werden. Bisher hatte sich die Menschheit an diesem Komplex die Zähne ausgebissen. Klarheit im System Alpha war de facto nicht gegeben. Dennoch: Wie verfahren wir mit Beta?

Er unternahm einen inhaltlichen Angriff:

‚Gehen wir, solange wir nichts Besseres wissen, davon aus, dass es sich um Welten handelt, in denen ebenfalls Energie, Felder, Materie, Information eine Basis bilden. Ob das alles ist und ob die gleichen Naturgesetze wie hier gelten, ist eine weitere offene Frage.


Das Zwiebelschalenmodell von Beta war wie eine verschlossene Dose. Verbarg sich dort etwas wie eine Büchse der Pandora?47 War sie zerstörbar? Würde Beta angreifen oder sich verteidigen? Könnte mit jener Welt geredet werden?‘

Die letzte Frage verwies ihn auf das altbekannte Kommunikationsmodell. Immer mehr wurde ihm klar, dass er im Grunde nicht weiter kam. Es galten die üblichen Regeln für eine unbekannte Kommunikationssituation wie jede Konfrontation vermeiden und eine gemeinsame Sprache zu finden. Ob das Gravitationswellenexperiment von Beta als Konfrontation aufgefasst worden war oder die Reaktion ein Hinweis auf was auch immer sein sollte, konnte nicht entschieden werden. Vielleicht war es nur eine Reflexion von Wellen wie bei einem Echo. Oder hatten sie einen Schneeball in eine Lawine geworfen?

‚Nein, da hat uns jemand auf die Finger gehauen‘, dachte er, ‚aber das ist auch eine Form der Kommunikation. Mit dieser Hypothese sollten wir beginnen.‘

Als gemeinsame Sprache schien ihm das schwierig. Andererseits: Man konnte nie wissen. Sollten sie den eingeschlagenen Weg weiter gehen?

Selber Denken war notwendig, was blieb einem anders, schon wieder Kant48, registrierte er nebenbei. Hier waren es Fragen wie:

Was kann der andere wissen ?

Wie könnte die Situation von Beta her betrachtet aussehen?

Wie könnte Beta mit Alpha verfahren ?

Sokrates hatte viele Fragen. Der Acker der Unwissenheit war umzingelt, seine Geheimnisse schien er aber nicht preisgeben zu wollen.

Er fand einfach keine klaren Argumente, weder für ein Ja noch für ein Nein.

Rückblickend, mit den Augen die Sonne hinter den Bergen verschwinden sehend, reflektierte er: ‚Wissen ist Macht, nichts wissen, macht auch nichts. Oder: Denken machts, nicht denken macht auch nichts. Nein, Zyniker wollte er auch nicht sein, dann doch lieber verbohrter Kantianer.‘

Er beschloss für sich, einem weiteren Experiment zuzustimmen.

47 Die Büchse der Pandora taucht in einem alten Mythos der Griechen auf und enthält alles vorstellbare Böse. Pandora öffnete entgegen der Anweisung von Zeus die Büchse und gab somit der Macht des Bösen den Zugang zur Welt der Menschen.

48 ‚Selber denken!‘ Aus: Kant, Immanuel: Werke XII, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1800), Theorie-Ausgabe; Frankfurt, 1964, S. 549

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