Читать книгу terrane Manifestationen - Klaus Paschenda - Страница 16
Оглавление10 Die Höhle
Der Grieche Platon berichtet von einem Gleichnis seines Lehrers Sokrates.33 Hier ein Auszug aus einem Gespräch des Sokrates mit einem Herrn namens Glaukon. Betrachten Sie die übliche Übersetzung aus dem Altgriechischen in einem aktuelleren Vergleich. Dies wird benötigt, um den weiteren Bericht zu verstehen. Yukan Q. Theben
Sokrates: Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. | Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem der neuen XD-Kinos. Um die verschiedenen Dimensionen, Wahrnehmungen zu vermitteln, sind die Sitze so gebaut, dass Ihr Blick nur nach vorne gerichtet ist. Im Bereich Ihres Halses und der Hände sind mehrere Düsen für Wind, Wetter und Düfte eingebaut. Die dreidimensionale Aufhängung des Sessels lässt Sie Bewegungen spüren.Sie haben in einer der mittleren Reihen Platz genommen. Die aktuelle Show beginnt mit einem Rückblick in die Geschichte des Kinos. Dazu wurde der alte Filmprojektor in der Vorführkammer aktiviert. Sein Licht fällt auf den großen Vorführschirm, der heute die früher übliche weiße Leinwand ersetzt hat. |
Glaukon: Ich sehe, sagte er. |
Sokrates: Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüber ragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. | Hinter Ihnen, weiter oben, werden durch das Licht des alten Projektors verschiedene Gegenstände getragen. Die Schatten, die vorne auf dem Schirm erscheinen, sind alles, was Sie von den Gegenständen erkennen können. Einige Dinge wie eine Kanne sind einfach, aber bei Tieren müssen Sie raten. |
Glaukon: Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. | |
Sokrates: Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? | Nehmen wir an, Sie hätten ihr gesamtes bisheriges Leben in einem solchen XD-Sessel eines Kinos verbracht. |
Glaukon: Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! | |
Sokrates: Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? | |
Glaukon: Was sonst? | |
Sokrates: Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? | |
Glaukon: Notwendig. |
Sokrates: Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? | Jetzt stellen Sie sich vor, die Träger der Gegenstände unterhielten sich. Würden Sie nicht annehmen, dass die Schatten miteinander sprechen würden? |
Glaukon: Nein, beim Zeus, sagte er. | |
Sokrates: Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? | Anders ausgedrückt: Wenn Sie immer in einem solchen Sessel leben würden, wären die Schatten Ihre Wirklichkeit, Ihre reale Welt. |
Glaukon: Ganz unmöglich. | |
Sokrates: Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: Was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, | Verändern wir die Situation: Sie dürfen aufstehen und im Kino herumlaufen. Natürlich blendet Sie das Licht des Projektors und Sie können die Dinge, die die Schatten erzeugt haben, nicht richtig erkennen. Und da Sie noch nie in einem Raum gelaufen sind, wird Sie die Erfahrung der für sie großen Dreidimensionalität zusätzlich gründlich verwirren. |
sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? | |
Glaukon: Bei weitem, antwortete er. | |
Sokrates: Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? | Der Blick in das Licht des Projektors schmerzt in Ihren Augen, so dass Sie sich freiwillig wieder setzen und in Ihre vertraute Welt zurückkehren. Diese ist für Sie deutlicher und verständlicher. |
Glaukon: Allerdings. | |
Sokrates: Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. | Leider kommt es noch schlimmer. Sie werden aus dem Sitz nach draußen geschleppt und stehen um Mitternacht auf dem Strip, der zentralen Hauptstraße von Las Vegas.Zunächst sehen Sie nichts. Ihre Augen kommen mit der Helligkeit nicht klar. |
Glaukon: Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich. |
Sokrates: Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mondund Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. | Sie müssen sich an die neue Situation gewöhnen. Erst betrachten Sie Schatten, dann Spiegelbilder, dann Gegenstände, dann Leuchten, schließlich blinkende Werbung und letztlich sehen sie vielleicht den Nachthimmel. |
Glaukon: Wie sollte er nicht! | |
Sokrates: Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. | Irgendwann können Sie auch einen Blick in den Himmel am Tag wagen. |
Glaukon: Notwendig, sagte er. | |
Sokrates: Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. | Wenn Sie sich ein wenig mit der Welt beschäftigen, werden Sie feststellen, dass es diese Welt, diese Menschen nicht gäbe, wenn die Sonne nicht scheinen würde. |
Glaukon: Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. |
Maxim und Sokrates, der der Sokrates war, dessen Spitzname Sokrates war nach dem echten Sokrates, der hier als Erzähler dem Glaukon berichtet, hatten manchen Abend mit der Diskussion von Platons Gleichnissen verbracht. Ihre Bedeutungen für aktuelle Wahrnehmungstheorien waren kaum zu unterschätzen. Wahrnehmung, ob direkt mit dem Auge oder indirekt mit irgendwelchen Messgeräten, war der Ausgangspunkt jeglicher physikalischen Theorie. Hier trafen sich der Physiker Maxim und der an den Grundgesetzen des Denkens interessierte Sokrates.
Im diesem Höhlengleichnis34 bot der Weg aus der Höhle ans Licht die Möglichkeit, Verschiedenes zu sehen, aber auch gleiche Dinge unterschiedlich zu sehen. Letzteres Detail fand Maxim besonders interessant. Wieder und wieder stellte sich die Wirklichkeit anders dar. Obwohl die Wirklichkeit - was auch immer sie war, er nannte es X – als immer gleich angenommen wurde, erschien sie auf viele verschiedene Sichtweisen.
Wurde eine Vase hochgehalten und deren Schatten wahrgenommen, war dies das eine. Die Vase an sich zu sehen, war das andere. Zwei Sichtweisen der selben Vase, nur gesehen unter unterschiedlichen Bedingungen. Wahrgenommene Wirklichkeit war eine Funktion von Ort und Zeit!
Eines Abends hatten die Freunde begonnen, das formal, mathematisch zu schreiben. Maxim stand am Screen:
„Zu einem Raumzeitpunkt35 i, statt einer Nummer nehmen wir hier ersatzweise den Buchstaben i, haben wir ein X, das in irgendeiner Sichtweise vom Beobachter B wahrgenommen wird.
Damit aus dem X eine Wahrnehmung, eine Sicht wird, muss mit dem X etwas gemacht werden. Solche Macher werden in der Fachsprache Operatoren genannt. Ein Operator V wirkt auf X, das Ergebnis sieht der Beobachter B.“
Er schrieb:
V[X] = > B
„So weit einfach“, meinte Sokrates und ergänzte: „Wenn wir mehrere Beobachter an unterschiedlichen Stellen haben, sehen sie alle jeweils die Sache anders. Der Operator V hängt vom Ort x,y,z des Beobachters und von der Zeit t ab.“
Maxim erweiterte auf dem Screen:
V(x,y,z,t) [X] = > B
Er fuhr fort: „Der Operator hängt natürlich auch vom Beobachter ab, stell dir vor, der hat eine Sonnenbrille auf.“
Die Formel wurde ergänzt:
V(x,y,z,t,B) [X] = > B
„Du hast den Raumzeitpunkt vergessen. Das X ist an einem bestimmten Raumzeitpunkt.“ Sokrates wies auf dieses wichtige Detail hin.
„Danke“, antwortete Maxim. Auf dem Schirm stand jetzt:
V(x,y,z,t,B) [X(i)] = > B
„Wann hier wo welcher Punkt im Raum und welche Zeit einzusetzen ist, klären wir noch. Die Sache ist diffizil, weil der Operator V für seine Arbeit ja ebenfalls Zeit benötigt. Lass uns das zunächst an einem Beispiel veranschaulichen. Im Moment sind wir weit weg vom Höhlengleichnis.“
„Was hast du im Kopf?“ fragte Sokrates.
Maxim antwortete:
„Nehmen wir einen Stuhl. Erster Fall: Du siehst den Stuhl in Form eines Schattens, der Operator Vi ist im physikalischen Sinn das Verfahren, mit einer Lichtquelle einen Schatten zu bilden.
Vi(x,y,z,t,B) [X(i)] = > B: Schattenbild
Zweiter Fall: Du siehst den Stuhl in Form einer dreidimensionalen, farbigen Gestalt, der Operator V2 ist deutlich komplizierter.
V2(x,y,z,t,B) [X(i)] = > B: dreidimensionales, farbiges Bild
Üblicherweise bezeichnen wir den zweiten Fall als die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das Höhlengleichnis lehrt uns, dass wir ja nicht wissen, wo wir sind. Gefesselt oder im Kino laufend oder auf dem Strip? Was die Wirklichkeit eigentlich ist, wissen und sehen wir nicht. Deswegen habe ich sie ja X genannt. Bist du soweit einverstanden?“
Das war eher eine rhetorische Frage an Sokrates. Maxim fuhr fort:
„Ich schlage zur Terminologie vor, dass wir statt Abbildung das Wort Manifestation benutzen, es scheint mir allgemeiner und besser passend zu sein. Eine Manifestation ist das, was wir wahrnehmen. Sie ergibt sich durch Anwendung eines Operators V auf das X.
Damit können wir zum Beispiel eine Videokamera beschreiben. Sie erzeugt von einer Wirklichkeit X nach gewissen technischen Verfahren V ein Bild B, eine Manifestation MF.“
„War das der Grund, warum du den Buchstaben V als Symbol für den Operator gewählt hast? Damit man sich V = Verfahren oder Beispiel Videokamera merken kann?“ wollte Sokrates wissen.
„Eigentlich nicht“, antwortete Maxim. „Das kam aus meinem Kopf, vermutlich war mir der Buchstabe f für Funktion nicht passend, und da bin ich auf v verfallen.“
„Interessant“, murmelte Sokrates, „was im Unbewussten parallel abläuft. Zurück zu unserer ersten Formel!
V [X] = > MF
MFs, also Manifestationen können in biologischen Wesen, in technischen Geräten und mehr auftauchen. Wenn Frank davon hört, wird er seine Kybernetik umschreiben.“
„Ja“, meinte Maxim, „Pierre würde sagen: Jeder Fühler, der etwas registriert oder misst, erzeugt eine Manifestation. Für die Raumtemperaturreglung manifestiert der Temperaturfühler die aktuelle Temperatur.“
„Das scheint ein umfassendes Konzept zu sein. Diese neue Sichtweise wird uns sicherlich Überraschungen bereiten“, stellte Sokrates fest.
Maxim ergänzte: „Noch mal die Videokamera. Die Optik, das Objektiv, erzeugt ein Bild auf dem Sensor, eine Manifestation. Der Sensor wandelt das in elektrische Signale um, aus einer Manifestation wird eine andere. Diese Manifestation kann gespeichert und wieder abgerufen werden. Irgendwann haben wir den Film auf dem Screen, wieder eine andere Manifestation. Lange Rede, kurzer Sinn: Auch eine Manifestation kann die Quelle einer Manifestation sein.
Umgekehrt: Ob die vermutete Wirklichkeit X also wirklich ist oder nur eine Manifestation von etwas anderem, kann nicht entschieden werden. Vielleicht gilt ‚Alles ist eine Manifestation‘. Das bleibt nach diesem Ansatz eine rein spekulative Frage. Eventuell gibt es aber auch eine Art Ursuppe als Basis für alle Manifestationen. Wenn wir die manipulieren könnten, das wäre was!“
„Stopp, bleib auf dem Teppich“, meinte Sokrates, „wir schlafen erst einmal darüber. Das ist nicht nur ein theoretischer Ansatz, sondern auch ein in der Praxis anwendbares Verfahren. Wenn es eine ordentliche Theorie wird, müssen sich bisher unbekannte Formen der Anwendung voraussagen lassen. Das wird spannend.“
In seinem Kopf tauchte ein anderer Satz auf: ‚Wirklichkeit ist das, was eine Spur in deinem Kopf hinterläßt.‘
Sokrates überlegte kurz. ‚War die Spur eine Manifestation? Ja, das ging, aber der Begriff Wirklichkeit war hier vermutlich falsch. Sollte es nicht heißen: Manifestationen sind das, was eine Spur, eine andere Manifestation, in deinem Kopf hinterläßt? Das hört sich im ersten Moment besser an, hier muß ich noch nachdenken.‘
33 Platon, um 400 v.Chr., hat mehrfach Gleichnisse benutzt, um seine Ansichten zu verdeutlichen.
34 Platon: Politeia, Siebentes Buch 106. a) und 106. b); Übersetzer: Friedrich Schleiermacher, gekürzt aus: http://gutenberg.spiegel.de/buch/politeia-4885/1 (30.8.2017)
35 Mit einem Raumzeitpunkt ist ein Ort in einem Raum zu einer genau angegeben Zeit gemeint. Physikalisch grundsätzlich vorhandene Unschärfen werden vernachlässigt.