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Kindheit und Jugend in der Schreiner-Familie.

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Das war nicht immer eitel Freude und Zufriedenheit gewesen, nicht immer ein Zuckerschlecken. Oh nein! Schon früh hatte es mächtig gekracht: Bombenhagel auf die rheinische Kleinstadt, in der Franz aufgewachsen war, dreimal flog dem Elternhaus förmlich das Dach


um die Ohren, flog einfach davon, krachte minutenlang auf der nahe gelegenen Überlandstraße nieder. Die „verdammten Tommies“ mit ihren Luftminen, Terror gegen die Zivilbevölkerung, Kriegsverbre-chen? Oder einfach nur Rache für deutsche Terror-Angriffe auf Städte wie Coventry, das Hitler, des Wahnsinns fette Beute, bekanntlich „ausradieren“ wollte? Blühende Groß- und Kleinstädte fielen damals in Schutt und Asche, einfach so, weil Hitler und seine Bande, Mussolini und sein Verbrecher-Club, Faschisten wie Franco und andere glaubten, man könne die Politik übers Knie brechen und an die Stelle des Kopfes den Arsch setzen. Mit unsäglichen Folgen. Mehr als 54 Millionen mussten dran glauben, wurden im Namen der national-faschistischen „Vernunft“ ins Jenseits befördert.

Wie Franz vom Hörensagen erfuhr, waren seine ersten Worte: „Kutti, Auto, Bombe“ gewesen, wobei er mit Kutti den Vornamen seines um 10 Jahre älteren Bruders Kurt, mit Auto den Lieferwagen der Schreinerei und mit Bombe die gefürchteten alliierten Luftminen meinte. – Im Keller des großzügig angelegten Vaterhauses hatte man einen eigenen Luftschutzraum eingerichtet, in dem sich zuweilen die gesamte Nachbarschaft dicht gedrängt zusammenfand. Bis auf einen Nachbarn, der es besonders „gut“ mit seiner leider reichlich korpu-lenten Ehefrau meinte, die er bei Luftalarm stets bis zum Luftschutz- Keller der Schreinersfamilie begleitete, um sodann zu einer ca. 3 km entfernt liegenden Höhle zu rennen, wo er sich sicher fühlte. Der Clou: Kam er nach der Entwarnung zurück, fragte er regelmäßig zunächst: „Lebt meine Frau noch?“ Auch dies wusste Franz nur vom Hörensagen, während er selbst sich natürlich fast gar nicht mehr an die Kriegszeit erinnerte. Ausnahme: Es sah noch genau vor seinem geistigen Auge, wie sein Vater ihn eines Morgens mit strahlendem Gesicht aus dem Kinderbett hob. Später, so mit 4 bis 5 Jahren – und daran erinnerte Franz sich sehr genau – verabreichte ihm der ziemlich strenge Vater mehrmals eine Tracht Prügel auf das Hinterteil, und zwar mit seinem breiten Ledergürtel, den der Vater zuvor von seiner Arbeitshose gelöst hatte.

Oft streng war er, der Vater, doch nur wenig Zeit erübrigte er für die Erziehung seiner Kinder, was er später mehrfach ausdrücklich bedauerte. Als Franz ca. 12 Jahre alt war, empfahl ihm sein Vater, sich fortan selbst zu erziehen, verriet aber nicht, wie er sich dieses vorstellte. Im Übrigen hieß des Vaters Maxime: „Ich habe hier meine Pflicht zu tun.“ Was ihm allerdings während einiger Jahre, in denen er gelegentlich zu sehr dem Alkohol frönte, weniger gut gelang. Außerdem stand seine Pflicht-Maxime in merkwürdigem Gegensatz zu seiner durchgängig stark gefühlsbetonten Gemütsverfassung. Er war ein musischer Mensch, mittelgroß, von kräftiger Statur, bären-


stark, dabei durchaus humorvoll, ein stimmgewaltiger Sänger vor dem Herrn, lange Zeit auch im Männergesangverein, den er den „Rhein-becker Blädderbund“ nannte. (‚Bläddern‘ bedeutet im Ruhrpott-Deutsch so viel wie ‚heulen, weinen‘. Franz‘ Vater stammte aus dem Kohlenpott.). Eines seiner weiteren Hobbies war das Portrait-Zeichnen: Häupter aller Art, in emsiger Kleinarbeit auf irgendwelchen Zetteln zu Papier gebracht.

Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre litt die Familie, im Unterschied zu vielen anderen, nicht unter Ernährungsmangel. Vielmehr sorgten gut gefüllte eigene Schweine- und Hühnerställe dafür, dass alle stets satt wurden. Unvergesslich blieb Franz das laut-starke Grunzen und Röcheln der Schweine, als sie die Kellertreppe hinauf ins Freie stürmten, um sich auf der großen Hühnerwiese auszutoben. Unvergessen auch der Anblick, der sich ihm eines Tages in der Waschküche bot, als ein Metzgermeister ein Schwein per Bolzenschuss erledigte...

Auch Hunde und Katzen waren ständige Begleiter der Familie. Makaber allerdings: Übergroßen Katzen-Nachwuchs beseitigte Franz‘ Vater, indem er die Winzlinge eigenhändig gegen die Hauswand klatschte oder in einem hochgefüllten Wassereimer ertränkte. Makaber auch der manchmal total vollgekotete Hundezwinger, den Franz dann mit einem Gartenschlauch zu säubern hatte. Was den braven Schäferhund nicht daran hinderte, sich nachts aus seinem Zwinger herauszuzwängen, um sich in der nahe gelegenen Wald- und Wiesengegend zu verlustieren, was merkwürdigerweise nie dazu führte, dass das – weibliche – Hundetier mit dem schönen Namen Berta trächtig wurde.

In der Schreinerei musste Franz schon früh, d.h. schon im Kinder-garten-Alter, mithelfen. In den Kindergarten kam er erst mit 5 Jahren, fuhr immer ganz selbstständig mit dem Bus zu dem ca. 5 km entfernt liegenden Hort, nachdem ihn seine um 13 Jahre ältere Schwester Trine nur ganz am Anfang ein einziges Mal begleitet hatte. – In der Schreinerei oblag es ihm an freien Nachmittagen, größere Holzleisten und kleine Fensterrahmen fein säuberlich in Versand- und Liefer-kartons zu stapeln; später durfte er auch diverse Hobel- und Schleifmaschinen säubern und beim Parkett-Verlegen helfen, was er mit mehr oder weniger großer Begeisterung tat. Es störte ihn jedenfalls nicht; dies im Unterschied zu gewissen Hänseleien, die ihm einige Spiel- und Klassenkameraden zuteil werden ließen, z.B. mit Äußerungen wie: „Na, bist du Jesus? Der war doch auch Zimmer-mannssohn!“ Oder: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne, nä? Und wie viele davon durftest du heute zählen?“ Und: „Bedenke gut: Die Axt im Haus erspart den Zimmermann!“ Sprüche dieser Art waren noch


halbwegs erträglich, nicht jedoch wenn er, z.B. in der Fußball-mannschaft, der er schon mit sechs Jahren angehörte, Parolen vernehmen musste wie: „Na, Spanferkel, heute schon gehobelt?“ Oder: „Nimm endlich mal das Brett vom Kopf! Hier wird gebolzt, nicht geholzt!“ Das ging entschieden zu weit, da konnte Franz fuchsteufelswild und gelegentlich sogar handgreiflich und faustschnell werden. Bis ihn eines Tages ein Lehrer dieserhalb dringend ermahnte, mit solchen Tätlichkeiten aufzuhören, nachdem er einem Klassen-kameraden, wenn auch in Gegenwehr, ein Auge blau geschlagen hatte.

In der Fußballmannschaft und erst recht bei den Schneidergesellen, mit denen Franz sich stets solidarisch fühlte, kam er leider schon früh mit allerlei derben Witzen, Zoten und Anzüglichkeiten in Kontakt. Von der eher harmlosen Sorte waren dabei Sprüche wie: „Die Vögelein, die Vögelein vom Titicaca-See, die heben, wenn sie lustig sind, die Schwänzchen in die Höh‘. Ach, Mädelein, wenn ich dich so vor meinen Augen seh‘, dann geht’s mir wie den Vögelein vom Titicaca-See!“ Oder auch: „Banane, Zitrone, an der Ecke steht ein Mann. Banane, Zitrone, er lockt die Weiber an. Banane, Zitrone ...“ Erst sehr viel später, während seines Hochschulstudiums, wurde Franz klar, dass solche Sprüche sogar einen tieferen Sinn haben können. Der Renaissance-Dichter Pietro Aretino verfasste ‚Sonetti lussuriosi‘, aus-schweifende Sonette, in denen in fast jeder Zeile das F-Wort auftaucht, z.B. „fottiamci subito“ (‚lasst uns sofort ficken‘). Tieferer Sinn? Das Irrationale, Unwägbar-Bedrohliche am Sex durch Verbali-sierung bewältigen, besser damit fertig werden. Wobei man natürlich bezweifeln kann, dass dies immer und überall möglich ist. Jedenfalls ein hübsches Beispiel dafür, dass Fiktionales auch dem Ficktionalen dienen kann ... Andererseits erfuhr Franz recht bald auch, dass man solchen Neigungen zum Obszönen nicht einfach nachgeben darf, dass es eine Sprach-Ethik gibt, verbale Anzüglichkeit nur selten gesell-schaftsfähig ist. Was ja zu einem Dilemma führt: Kann Dichtung zur Bewältigung des Irrationalen beitragen, ohne in den Niederungen der „schmutzigen Phantasie“ zu versinken? Darüber nachzudenken, dürfte wohl der Mühe wert sein.

Die Grundschule hieß damals noch ‚Volksschule‘. In dieser Schule, überdies einer ‚evangelischen‘, machte Franz schnell gute Fortschritte. In einem seiner ersten Zeugnisse hieß es: „Franzens Leistungen liegen weit über dem Durchschnitt!“ Mit vorbereitet hatte diesen Schulerfolg seine große Schwester Trine, selbst Gymnasiastin, die sich stets rührend um ihn gekümmert und ihm sprachlich viel Sicherheit und Ausdrucksvermögen vermittelt hatte.– Es wäre eine rundum glück-liche Kindheit gewesen, wenn nicht das Unglück zugeschlagen hätte, als nämlich seine innig geliebte Mama früh, allzu früh an Krebs


erkrankte und verstarb, als sie kaum 50 und Franz noch keine 12 Jahre alt war. Das erschütterte den Kleinen zutiefst, und auch die Stief-mutter, die er wenige Jahre später bekam, vermochte nicht, ihm darüber hinwegzuhelfen. Im Gegenteil, zwischen ihr und Franz entwickelte sich keine harmonische Beziehung, und als er 16 Jahre alt war, nannte er sie nicht mehr ‚Mutter‘, sondern nur noch ‚Selma‘ oder ‚Tante Selma‘.

Franzens schulische Leistungen, auch auf dem Gymnasium, der „Penne“, wie man sie seinerzeit noch nannte, ließen erstaunlicher-weise kaum zu wünschen übrig. Das Gymnasium schloss er erfolg-reich und mit guten Abitur-Noten ab. Von seinem Elternhaus aber hatte er sich entfremdet – mit einigen schwerwiegenden Konsequen-zen. Mit 17 Jahren hatte er unter seinen Schulkameraden eine neue Freundes-Clique gefunden, mit ihnen eine Old-time-Jazzband gegrün-det und rauschende Wochenend-Parties (‚Feten‘) gefeiert – und dann auch seine große Jugendliebe Melanie kennengelernt. Ein lustiges, sehr gesprächiges dunkelhaariges Mädchen, immer adrett, immer gut gelaunt. Eine Beziehung, die sich schon zu Beginn sehr intensiv entwickelte, mit langen, ergiebigen Gesprächen, einmal von fast 8stündiger Dauer, und schließlich, d.h. nach ca. einem Jahr, mit allem, was zu einer echten Liebesbeziehung dazugehört, wenn auch oft unter widrigen Umständen, sie waren ja nicht verheiratet, hatten keine eigene Wohnung, so dass sie ihre Liebe zueinander zuweilen mit der Liebe zur freien Natur verbanden, wohl oder übel verbinden mussten.

Einmal hatte Franz sich allerdings dumm verschätzt, als er mit Melanie irgendwo in der Eifel fernab des Wanderwegs ein geeignetes Lagerplätzchen suchte. Ringsum gab es nur Gestrüpp und steinharten Boden, dazu trübes Wetter in der Dämmerung. „Was suchst du hier eigentlich?“, fragte Melanie, darauf Franz: „Gute Frage, weiß ich auch nicht, anscheinend haben wir hier gar nichts zu suchen.“ Machten kehrt und gingen durch das unwirtliche Gestrüpp zurück zum Weg.

Unbestrittenes Idol und geistige Leitfigur des Freundeskreises war Ruven, der Schöngeist, dem es ziemlich rasch gelang, eine muntere Schar weiblicher und männlicher Bewunderer um sich zu versam-meln, eine Clique mit betont nonkonformistischem, anti-bürgerlichem Anspruch. Das Wort „Bürger“ galt als Schimpfwort. – Von der äußeren Gestalt her wirkte Ruven eher unscheinbar, war von mittlerer Statur, schlank und rank, aber wenig sportlich. Auffällig sein langes dunkles Haar, das mit dem Aufkommen der Beatles-Mode noch länger wurde, dazu dunkle Augen, ein feines längliches Gesicht mit hellem Teint und leicht hebräischem Einschlag, auf den Ruven immer besonders stolz war. Sein Prestige beruhte nicht nur auf seinem



gewandten Auftreten und seiner Eloquenz, sondern vor allem auf der Tatsache, dass er sich schon im zarten Alter von 15 Jahren mit anspruchsvollen philosophischen und musiktheoretischen Texten beschäftigt hatte, darunter von Adorno, Horkheimer und Herbert Marcuse, so dass er imstande war, sowohl dem gesellschafts-kritischen Anspruch als auch der libidinösen Freizügigkeit der Clique die hochwillkommene theoretische Fundierung zu vermitteln. Kein Wunder, dass sich in der Clique schon bald eine echte Streitkultur entwickelte, die nicht selten auch auf den Feten zum Tragen kam. Die Diskussionen entzündeten sich an Themen wie repressiv-bürgerliche Moral, Klerikalismus, Gesellschafts- und Verhaltenstheorien usw. Eine der Diskussionen zwischen Ruven und seinen Freunden Franz, Armin, Dirk und Helge verlief folgendermaßen:

Armin: Hei, Jönkes, was haltet ihr davon ..., eh, was haltet ihr davon, wenn wir uns mal darüber unterhalten, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben?

Ruven: Eigentlich? Was heißt denn hier ‚eigentlich‘?

Armin: Nur so, nur so ‘ne Redensart, sagt man doch so, oder nit?

Ruven: Sagt man so, sagt man so, ja, aber trotzdem bitte Vorsicht mit der sogenannten Eigentlichkeit! Daran hat sich schon mancher den Mund verbrannt. Namen nenne ich nicht.

Franz: Bringt ja auch nichts. Armins Frage war aber gar nicht schlecht. Mein Vorschlag: Wir könnten uns auch fragen, in welcher Gesellschaft wir überhaupt leben wollen!

Helge: Oder auch: in welcher wir überhaupt leben können!

Ruven: Schön und gut. Aber wovon reden wir denn? Was ist das denn: die Gesellschaft? Gibt es das überhaupt?

Dirk: Und ob es das gibt! Der Mensch ist doch ein geselliges Wesen, wie man schon lange weiß. Gleich und gleich gesellt sich gern – und zack! Schon haben wir die Gesellschaft!

(Lautstarkes Gelächter der anderen, dann:)

Ruven: Ja, kolossaler Witz: „gleich und gleich“! Sind denn alle Menschen gleich? Doch bestimmt nicht! Und trotzdem redet man von der Gesellschaft. Woraus besteht sie denn, die Gesellschaft? Doch zweifellos aus einzelnen Individuen. Was aber ist das Individuum? Bei Marx das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn man also die Gesellschaft verstehen will, muss man erst mal die Verhältnisse beleuchten, die in ihr herrschen.



Helge: Beleuchten ist gut, bei so viel Armleuchtern!

Ruven: Ja o.k., aber so kommen wir doch nicht weiter. Witze machen, Possen reißen, das kann jeder. Aber nicht jeder hat den Durchblick, den z.B. Marx hatte oder heute Adorno und Marcuse haben. Nur: Das alles hier zu erzählen, würde bestimmt zu weit führen.

Franz: Und warum, lieber Ruven, gibst du hier mit den großen Namen an?

Ruven: Angeben? Hab‘ ich nich nötig! Aber wenn man keine Ahnung hat, kann man nich mitreden, nä? Frust, nä? Aber lassen wir das mal! Adorno sagt: Es gibt kein wahres Leben im falschen. Und dass wir hier im falschen Film sind, steht fest, solange ringsum die Ungleichheiten, die Ausbeutung und die Ungerechtigkeit fortbestehen und immer mehr zunehmen.

Dirk: Du sprichst ein großes Wort gelassen aus, Ruven.

Ruven: Mag sein. Klar ist jedenfalls: Der ganze bürgerliche Schlam- massel stinkt zum Himmel! Und solange wir alle nicht über eine kritische Theorie der Gesellschaft verfügen, kommen wir nicht ‘raus aus dem Schlammassel. Es gibt eben kein wahres Leben im falschen.

(Woraufhin die anderen nur noch mit dem Kopf nicken, bis Dirk vorschlägt, lieber mal das Thema zu wechseln.) –

Eines Tages kam man auf das Thema Nr. 1, die Liebe, zu sprechen. Anwesend waren die gleichen Teilnehmer wie bei dem zuvor aufgezeichneten Gespräch; hinzu kamen allerdings die jungen Damen Silke, Jennifer, Gertrud und Melanie. Den Anfang machte

Jennifer: So, liebe Leute, jetz wollen wir mal über das Thema Nr. 1 sprechen, ja?

Armin: Und was meinst du damit: Liebe oder Sex?

Jennifer: Weder noch, eh, bzw. sowohl als auch, aber nich nur. Liebe ist doch allumfassend; sie kann Agape, Caritas, Eros und Sexus sein.

Franz: Donnerwetter! Woher nimmst du denn plötzlich all die Fremd-wörter? Und was bedeuten sie?

Jennifer: Ganz einfach: Agape, das ist die uneingeschränkte Nächsten-liebe, die sogar bereit ist, sich selbst zu verleugnen und aufzuopfern. Caritas ist Nächstenliebe, Zuwendung, Fürsorge. Eros dürfte bekannt sein, Sexus auch, ne wahr?



Dirk: Mehr oder weniger bekannt, nä? Und was soll das hier, im Zusammenhang mit unseren Beziehungen?

Gertrud: Je nun, das betrifft uns doch alle gleichermaßen. Sex ohne Eros bleibt rein körperlich. Sex und Eros ohne Caritas versagen, wenn Probleme kommen, Schwierigkeiten, Krankheit, Not, was weiß ich?

Helge: Und dann auch noch Agape, die bedingungslose Aufopferung?

Jennifer: Im Notfall geht es jedenfalls nicht ohne die Bereitschaft dazu, und zwar schon wegen der Tatsache, dass bei der Liebe natürlich auch immer Egoismus im Spiel ist.

Melanie: Egoismus? Wieso das denn?

Ruven: Is doch klar wie dicke Tinte, in uns kämpft doch immer das Lustprinzip mit dem Realitätsprinzip. Das Realitätsprinzip sagt Ich, Du und Wir, das Lustprinzip immer nur: Ich. Wenn sich der Sex, also die Lust verselbständigt, versinkt man total im Egoismus.

Jennifer: Das glaube ich nicht. Sex verbindet immer. Außerdem ist es für uns ja gar nicht so einfach, überhaupt Sex zu haben. Das gilt in der bürgerlichen Gesellschaft, ich meine: in der Welt der Verheirateten, als anstößig.

Ruven: Anstößig? Dass ich nich lache! (Prustet heftig los, dann:) Viel-leicht sogar mit zwei Bindestrichen, nä: an-stoß-ich, ha-ha-ha-ha-ha! In Wirklichkeit hat das Bürgertum auch dafür seine feingesponnene Ideologie. Sex ja, aber nur in der Freizeit! Ansonsten herrscht stets das Realitätsprinzip. Wer nicht spurt, kein Zaster!

Melanie: Sex nur in der Freizeit? Ja wann denn sonst? Soll denn etwa auch bei der Arbeit gevögelt werden? Und von wem ist das, was du da erzählst, von Freud oder von Marcuse?

Ruven: Oha! Bitte Vorsicht! Da liegt eben der Hase im Pfeffer, sozusagen der springende Unterschied. Freud will das Lustprinzip ganz und gar dem Realitätsprinzip unterwerfen. Er sagt sogar: „Wo Es war, soll Ich werden.“ Als ob man die Triebe einfach so kontrollieren und nach Belieben unterdrücken könnte!

Silke: Aha! Und was sagt der Mabuse, eh ... der Marcuse dazu?

Ruven: Nicht so leicht zu erklären. Wo das Lustprinzip massiv unterdrückt wird, besteht immer die Gefahr, dass die Chose in Gewalt, Mord und Totschlag und sogar in Massenmord umschlägt. Kann ich aber hier und jetzt nicht näher ausführen.




Gertrud: Is‘ ja furchtbar! Und wie kann man das verhindern?

Ruven: Nur, wenn man Lust, Phantasie, Eros und Kunst endlich auf-wertet. Durch die Automation können wir dem näherkommen. Schwerstarbeit und Plackerei werden bald nicht mehr nötig sein, die Entfremdung auch nicht. Dann kann das Reich der Freiheit, von dem schon Marx geträumt hat, allmählich anbrechen. Und wir können mit unserer Rebellion gegen das Bürgertum, gegen die Bürgerlichkeit, aktiv dazu beitragen.

Jennifer: Ja, alles wunderbar, ganz toll! Aber unsere Probleme sind doch viel simpler. Was passiert denn zum Beispiel, wenn wir un-gewollt schwanger werden? Dann können wir doch Schule, Studium und Karriere an den Nagel hängen!

Armin: Aber gibt es denn etwa keine Verhütung, Kondome und-soweiter?

Jennifer: Kondome sind auch nicht immer sicher, das andere auch nicht.

Gertrud: Ja, da bleibt ein Restrisiko, das müssen wir wohl auf uns nehmen.

Alle Damen zusammen: Ja, man muss das Risiko eingehen!

Leider erwies sich in späteren Jahren keine der scheinbar so glück-lichen Paar-Beziehungen der jungen Leute als haltbar. Alle brachen auseinander, teilweise unter tragischen Umständen und mit schlimmen Folgen.

Denkwürdig und somit erwähnenswert war auch ein Gespräch über Romantik, das während einer der zahlreichen Wochend-Feten statt-fand, und zwar auf Anregung von

Ruven: Liebe, Gesellschaft, gut und schön, aber nichts geht über die Romantik!

Franz: Romantik? Aha, die mondbeglänzte Zaubernacht!

Silke: Zauber? Ja natürlich! Waren das, eh ... die, waren die nicht alle die reinsten Zauberlehrlinge?

Ruven: Immer langsam! Du verwechselst da vielleicht was, nämlich Klassik und Romantik.

Helge: Eben, eben, wie sagte doch Goethe: „Alles Klassische ist gesund, alles Romantische ist krank!“



Armin: Als wenn das so einfach wäre! Schwarz-Weiß-Malerei hilft da bestimmt nicht weiter. Schließlich gibt es fließende Übergänge. Schon in der ‚Sturm-und-Drang‘-Zeit war jede Menge Romantik im Schwange. Hölderlin und Schiller waren Klassiker und Romantiker zugleich. Goethe hat seine Meinung in puncto Romantik mehrfach geändert.

Jennifer: Klassiker und Romantiker zugleich? Das versteh‘ ich nich! Wie soll das denn gehen?

Armin: Aber klar doch! Nur, um das zu verstehen, müsste man genau erklären, was Romantik ist und was Klassik.

Melanie: Sehr schlau, sozusagen geistreich! Aber wozu soll das gut sein? Sind wir hier in der Schule, bei Dr. Erdmann, oder wie? Oder wie oder was?

Ruven: Schule hin, Schule her, ganz egal, Fakt ist, ohne Romantik und Klassik kann man weder Kunst noch Religion noch Politik und Philo-sophie verstehen.

Helge (laut rülpsend, leicht benebelt): Sorry, sorry, sorry, eh ... das ist mir zu hoch! Geht’s auch ne Nummer kleiner?

Franz: Nummer is‘ gut, eih! Aber Thema Nr. 1 hatten wir eigentlich schon, ne wahr?

Gertrud: O.k., ja. Aber Liebe und Romantik gehören doch zusammen wie der Wind und das Meer, oder nich?

Melanie: Warum das denn nun schon wieder?

Armin: Ganz einfach beziehungsweise nicht ganz so einfach. In der Liebe geht’s ums Ganze, in der Romantik auch. Außerdem findet beides meistens nachts statt, nä?

(Allgemeines Gelächter.)

Ruven: Lustig, lustig! Es wird immer besser! Aber was heißt denn: „Es geht ums Ganze“?

Silke: Das Ganze, das Ganze! Wer will denn das noch überblicken? Das Wissen vermehrt sich mit rasender Geschwindigkeit, nicht linear, sondern exponentiell! Da blickt keiner mehr ganz durch, nicht durch das Ganze.

Ruven: Das außerdem noch mehr ist als die Summe seiner Teile!



Helge: So sprach Zarathustra, ich bin begeistert. Was Romantik ist, weiß ich aber immer noch nicht.

Franz: O.k., nich so schlimm. Die Romantiker glaubten jedenfalls noch an das Ganze, zum Beispiel mit ihrer Universalpoesie.

Helge: Un watt äss datt? Univer ..., eh, hopp: Univalpoesie?

Franz: Universal, Mensch, nich unival! Die Romantiker forderten, dass alle Poesie, die es überhaupt geben kann, romantisch sein muss. Dabei waren sie keineswegs kosmopolitisch eingestellt, nee ..., sie waren national gesonnen, echte Deutschtümler, kritisierten heftig Napoleon, den sie als Verkörperung des französischen Rationalismus empfanden, und feierten daher überschwänglich die deutsche Befrei-ung von Napoleon im frühen 19. Jahrhundet.

Dirk: Und was kam dabei heraus? Aufstieg Preußens, Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Hitler usw.

Gertrud: Wie, und so weiter?

Dirk: So wie Hitler natürlich nich, obwohl nach dem zweiten Weltkrieg viele alte Nazis wieder zu hohen Ämtern und Ehren kamen in der sogenannten BRD.

Silke: Und was soll das alles noch mit Romantik zu tun haben? War Hitler etwa ein Romantiker?

Armin: Wie man’s nimmt. So oder so. Immerhin hat ein ungarischer Philosoph – Lulatsch oder Lukas oder so ähnlich heißt der – der hat behauptet, die Romantik sei mit schuld an der Nazi-Katastrophe!

Franz: Hör‘ ich recht? Wie soll das denn angehen?

Armin: Ja, wie man’s eben angeht. Romantik: das ist die Verklärung des Irrationalen, der Unvernunft.

Ruven: Nun aber mal langsam, Leute. Es waren die Romantiker, die das Unbewusste, den Traum, die geheimnisvollen Seelenregungen erst für Kunst, Religion und Philosophie erschlossen haben, lange vor Sig-mund Freud. Auch Nietzsche ist zwar durch und durch Romantiker, aber nachweislich nicht für den Hitler verantwortlich zu machen.Melanie: Und wie steht’s mit der romantischen Innerlichkeit? Ist die etwa nationalsozialistisch?

Franz: Natürlich nicht. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“, sagte Novalis und meinte damit was ganz anderes als die Nazis.

Dirk: Ja, gut! Aber bitte trotzdem mit Vorsicht zu genießen!



Jennifer: Und warum, wenn ich fragen darf?

Dirk: Nu pass‘ mal gut auf! Ins innere Geheimnis eindringen, das wollten schon viele, z.B. die mittelalterlichen Mystiker, dann Jakob Böhme und andere – das waren die besonderen Spezis der Romantiker – aber lange davor auch schon der Kirchenvater Augustinus. Der hat empfohlen, überhaupt nich mehr nach draußen zu gehen, weil angeblich nur im Inneren, im tiefsten eigenen Selbst, die Wahrheit wohnt.

Silke: So, so, nich mehr rausgehen, starkes Stück! Ich lach‘ mich tot!

Dirk: Ist aber nicht zum Totlachen, sondern ne sehr wichtige Schote. Verbinde nur mal Augustinus und die Mystiker mit Novalis. Was er-gibt sich dann?

Silke: Watt weiß ich!

Dirk: Dann ergibt sich klipp und klar, dass Novalis mit dem geheim-nisvollen Weg nach innen nichts anderes meinte als den Katholizis-mus, den er restaurieren wollte, um Europa zu vereinigen. Das Geheimnis, von dem er spricht, ist nichts anderes als das sogenannte „Geheimnis der Wandlung“, auf das sich die Katholiken bei ihrer Auf-fassung vom Abendmahl so viel zugute halten.

Armin: Oh je! Nur gut, dass Novalis damit keinen Erfolg hatte. Wo wären wir denn ohne die Reformation? Weiterhin, immer noch in der geistigen Unmündigkeit. Wenn ich wie Novalis aufs Ich zurückgehe, muss ich mit Kant dem Ich zugestehen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und der Unmündigkeit zu entfliehen.

Franz: Das schlägt dem Fass den Boden ins Gesicht! Novalis, den großartigen Sprachkünstler, den Seelen-Erforscher, den Autor wunderbarer Dichtungen wie Hymnen an die Nacht und Heinrich von Ofterdingen, einfach zu einem Pfaffenbüttel herabzuwürdigen, nee, nee, dat geht gar nich! Ich lass‘ mir jedenfalls meinen Novalis nicht nehmen.

Melanie: Und auch nicht die zahllosen anderen Romantiker! Schließlich gab es Romantik auch in Frankreich, England, Skandinavien, Russland und anderswo!Ruven: Ja Leute, wenn das so ist, dann wünsche ich noch viel Spaß bei der Suche nach der Blauen Blume, nach dem Geheimnis des Univer-sums, des Seins und alledem. Wie soll man sonst dahinter kommen, wenn nicht durch Dichtung, Philosophie und Religion, die allesamt aufs Ganze gehen, auch wenn man das Ganze nicht mehr überschauen kann. Also lassen wir’s mal gut sein, ja? Okay, dann also bis zum nächsten Verzell, unserm nächsten Wunschkonzert, ne wahr?



Zu solchen „Wunschkonzerten“ gehörte auch das Album Jazz und Lyrik, darin insbesondere Gottfried Benns Gedicht: Fürst Kraft, rezi-tiert von Gerd Westphal, musikalisch unterlegt mit Motiven aus Old Man River:

„Fürst Kraft ist – liest man – gestorben / Latifundien weit / ererbte, hat er erworben, / eine Nachrufpersönlichkeit / »übte unerschrocken Kon-trolle, / ob jeder rechtens tat, / Aktiengesellschaft Wolle / Aufsichts-rat.«

So starb er in den Sielen. Doch wandt‘ er in Stunden der Ruh / höchsten sportlichen Zielen / sein Interesse zu; / immer wird man ihn nennen, / den delikaten Greis, / Schöpfer des Stutenrennen: / Kisca-zonypreis. /

Und niemals müde zu reisen! / Genug ist nicht genug! / Oft hörte man ihn preisen / den Rast-ich-so-rost-ich-Zug, / er stieg mit festen Schritten / in seinen sleeping-car / und schon war er inmitten / von Rom und Sansibar.

So schuf er für das Ganze / und hat noch hochbetagt / im Bergrevier der Tatra / die flinke Gemse gejagt! / Drum ruft ihm über die Bahre, neben der Industrie / alles Schöne, Gute, Wahre / ein letztes Halali!“


Nun wird es ernst. Franz beim Militär.

Das waren noch Zeiten, dachte Franz, der Rekrut, bei sich, während sein Zug sich allmählich dem Zielort im Breisgau näherte. So viele Er-innerungen! Und was für welche! Wie sollte er das alles je verarbeiten können? Fragte er sich wehmütig in einer Anwandlung von Nostalgie, die durch die schmerzliche, wenn auch vorübergehende Trennung von seiner geliebten Melanie noch verstärkt wurde. – Kaum in Schlettin-gen angekommen, machte er sich schon auf den Weg zu der Kaserne, die nur wenige 100 Meter vom Bahnhof entfernt lag. In der Kaserne nahm man ihn sehr freundlich auf und unterrichtete ihn über alles Notwendige und einiges Wissenswertes: Verhalten im Gebäude und auf dem Kasernengelände, Vorgesetzte, Stubenkameraden, Tages-ablauf, Appelle, Ausgang usw. Ziemlich viel auf einmal. Aber Franz gelang es trotzdem, sich rasch zurechtzufinden, auch wenn, wie sich bald herausstellte, in der sogenannten Grundausbildung nicht alles Gold war, was zu glänzen schien.

Besonders auf die Nerven gingen ihm penible Stuben-Feldwebel, die sich abends einen Spaß daraus machten, die Rekruten zu schurigeln,



indem sie beispielsweise hinter den Heizkörper griffen, um dabei regelmäßig eine kleine Staubwolke zu erzeugen, aus der jedesmal ein kleines Staubklümpchen, oder auch nur ein paar Staubkörner, zum Vorschein kamen. „Und was ist das?“ meckerte dann der Vorgesetzte und hielt den Stubenkameraden das Staubklümpchen unter die Nasen. „Das nennen Sie gereinigt und gelüftet?“ – Uralte Unteroffiziers-Maschen, nicht kleinzukriegen... Und auch die Offiziere hielten es zuweilen für nötig, sich zusätzlich zu profilieren. Einer von ihnen machte sich frühmorgens, wenn die ganze Kompanie vor der Kaserne angetreten war, um zum Frühstück abzumarschieren, einen Spaß daraus, Kommandos zu verballhornen; da schallte es dann über den weiten Platz: „Im Gleichschritt ... Arsch!!!“ Wohl um zu illustrieren, was er, der Offizier, in Wirklichkeit von seinen Untergebenen hielt.

Dafür pflegten die Mannschaftsgrade, die Rekruten, sich gelegentlich zu revanchieren. So einmal, als es darum ging, ein traditionelles Marschlied anzustimmen: „Blutrot sank die Sonn‘ am Himmelszelt“, wobei dann aus dem Himmelszelt ein „Arsch der Welt“ wurde, sehr zum Missvergnügen des begleitenden Feldwebels, der vergeblich ver-suchte, den Frechling ausfindig zu machen, der das schöne Lied in den Dreck gezogen hatte. – Und überhaupt die Marschlieder, von denen einige unüberhörbar aus der NS-Zeit stammten, z.B. wenn wie üblich lauthals angekündigt wurde: „Auf Kreta!“ Mit der Anfangszeile: „Auf Kreta in Sturmwind und Regen, da steht ein Fallschirmjäger auf der Wacht...“ Wogegen sich erstaunlicherweise bei den jungen Soldaten anscheinend keinerlei Widerwille oder gar Widerstand regte, solche Nazi-Lieder mitzusingen. Man fragt sich, ob das Kreta-Lied bei der Bundeswehr weiterhin Karriere gemacht hat oder inzwischen aus dem Verkehr gezogen wurde.

Nicht wenige Ausbildungsinhalte des dreimonatigen Grundwehr-dienstes empfand Franz als ausgesprochen öde. Dazu gehörte die un-vermeidliche Putz- und Flickstunde ebenso wie das stundenlange Exerzieren, die sogenannte Formalausbildung, bei der jeder Rekrut, dem ein Fehler unterlief, sogleich zehn Liegestütze auszuführen hatte. („Zehn Kalte fürs Vaterland!“) In schlechter Erinnerung blieben dem Franz außerdem weitere Putz- und Küchendienste, wobei mal endlos lange Flure mit Steinböden zu putzen oder einen ganzen Tag lang Kartoffel-Schälmaschinen zu bedienen waren.

Aber drei Monate gehen dennoch schnell vorbei. Franz hatte danach das fragwürdige Glück, in einen Büro-Dienst der besonderen Art ver-setzt zu werden, und zwar in einem Integrierten NATO-Stab in einer am linken Niederrhein unweit der holländischen Grenze gelegenen Kleinstadt; Franz – wohl wegen seines Abiturs und seiner guten



Englisch-Kenntnisse – sogar in der Service-Einheit ‚Feindnachrichten und Sicherheit‘ (‚Intelligence-Service‘), wo er hauptsächlich Kataloge einer NATO-Luftflotte mit Zielen in der damaligen DDR up-to-date zu halten hatte. War dort irgendwo ein Militär-Flughafen um 10 oder 20 Meter verlängert worden, musste dies fein säuberlich vermerkt werden. Hinzu kamen gelegentliche „Trockenübungen“, auf Target Boards („Zielbrettern“) simulierte Manöver-Einsätze im Operations-Room („Ops-Room“), der vorwiegend von hochrangigen Militärs belegten Einsatzzentrale. Wobei neben Tiefflieger-Attacken (,Fighter Ground Attacks‘) auch ‚Special Strike Missions’, d.h. Atomschläge, manövermäßig geübt wurden. – Die simplen Tätigkeiten, die Franz dabei auszuführen hatte, wurden ihm bald zur Routine, über die er nicht weiter nachdachte, obwohl die Zeiten damals keineswegs ruhig waren. Die Berliner Mauer gab es erst seit gut einem Jahr, und im Oktober 1962 stand die Welt in der Kuba-Krise am Abgrund. Worüber man sich im NATO-Stab, so jedenfalls in Franzens Dienststube, mit teils zynischen Witzen hinweghalf: „Kuck‘ da, schon wieder ein Fighter Ground Attack!“ (in Wirklichkeit ein eher harm-loser Übungsflug), was den Stubenchef, einen englischen Sergeanten, dennoch heftig zusammenzucken ließ. Im Übrigen vertrieb man sich nicht selten die Zeit mit Scrabble- und anderen Spielchen. Unvergesslich blieben Franz die Witze englischer Soldaten, wie z.B.: „You know the trouble about the Germans? Too many Germans!“ Oder auch: „When do the fucking German soldiers get up in the morning? At fucking six o’clock in the fucking morning!” (Was nicht zutraf, tatsächlich schliefen auch die Deutschen in der Kaserne durchweg länger.) – Unvergesslich auch das Zusammentreffen eines holländischen Offiziers mit einem einfachen Soldaten auf dem Kasernengelände. Der Offizier: „Hackjes!“ (Der Soldat sollte strammstehen, die Hacken zusammenschlagen.) Antwort des Soldaten: „Niet noodig!“ (‚nicht nötig‘). Hätte ein deutscher Soldat so etwas gewagt? Wer weiß?

Neben den alltäglichen Widrigkeiten und Ödnissen hatte Franz hin und wieder, d.h. eher selten, Streitereien mit rücksichtslosen Stuben-kameraden auszuhalten. All dies verblasste jedoch in seiner Bedeu-tung angesichts der deprimierenden Erfahrung, die er eines Tages während eines Briefings im Ops-Room machte. Besprochen wurde die Lage, die sich im Laufe eines militärischen Konfliktes mit den Truppen des Ostblocks in Deutschland ergeben würde. Dieser Streit-macht war man hinsichtlich der herkömmlichen, nicht-atomaren Be-waffnung und der Truppenstärke vollkommen unterlegen. Die militä-rische Führung der NATO-Einheiten ging daher davon aus, dass man einen Angriff aus dem Osten frühestens an der Rhein-Linie aufhalten, aber nicht würde zurückschlagen können, so dass dann ein Einsatz


von Atomwaffen unvermeidlich werden würde. Und als Folge davon ganz Deutschland sich in eine ausgebrannte, nuklear verseuchte Wüste verwandeln würde. – Was bei Franz und seinen Kameraden einen hef-tigen Schock auslöste, der sogar noch nachwirkte, als bekannt wurde, dass die NATO-Einsatzzentrale vom linken Niederrhein in eine weit-läufige, angeblich atombombensichere Höhle in Holland verlegt werden sollte, was auch verwirklicht wurde, und zwar schon kurz nachdem Franz im Sommer 1963 seine Dienstzeit in der NATO-Zentrale beendet hatte. – Unverständlich und eher befremdlich wirkt bei alldem die Tatsache, dass Franz sich trotz der erwähnten deprimie-renden Erfahrungen bereitfand, zunächst an einem Unteroffiziers-Kurs und später sogar an einem dreimonatigen Offizierskurs teilzunehmen, und zwar so erfolgreich, dass er seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr als Offiziersanwärter abschloss. Es war wohl die pure Neugier, die ihn dazu motiviert hatte. Für Abwechslung und neue, vielleicht interessante Erfahrungen war Franz immer zu haben, jeden-falls damals noch. Woran sich wieder zeigt: Sinn schließt Unsinn nicht aus. Beides kann erzeugt werden. Was nicht bedeutet, dass beides immer und ausschließlich auf solche Art und Weise entsteht.

Nachzutragen bleibt, dass Franz sich, zusammen mit seiner Melanie, noch während der Bundeswehr-Zeit einen 10tägigen Urlaub in Venedig gönnte, der allerdings nicht immer harmonisch verlief, zumal die beiden für so viel körperliche Nähe seelisch wohl noch nicht reif waren. Geradezu kindisch kam Franz sich vor, wenn er später darüber nachdachte, wie er sich eines Morgens früh im Bett mit dem Kopf ans Fußende legte, so dass seine Füße gleich neben Melanies Kopf zu liegen kamen. Ein wahrlich sonderbares Gebaren! Das zum Glück die beiden Verliebten nicht daran hinderte, die unvergleichliche Atmosphäre der Lagunen-Stadt in vollen Zügen zu genießen. Wo sonst auf der Welt gab es denn eine altehrwürdige Großstadt ohne Autos, ohne den Lärm und Gestank des Straßenverkehrs? Wo sonst gab es einen Dogen-Palast mit Casanovas Verließ und Fluchtweg über den Dächern, die herrlichen Plätze, San Marco und die zahllosen Kanäle, Brücken, Trottoirs und überdachten Wandelgänge direkt am Wasser? Die wunderbaren Museen und Gemälde-Galerien! Die prachtvollen Paläste, von denen einer die beiden besonders be-eindruckte: der Palazzo Vendramin-Calergi, in dem Richard Wagner seine letzten Lebensjahre verbracht hat. Dass der Großmeister des Ge-samtkunstwerks eines der bedeutendsten Musik-Genies gewesen war, darüber hegten Franz und Melanie nicht den geringsten Zweifel.

Erst später, viel später, lange nach Beendigung seines Studiums, bekam Franz Gelegenheit, seine Meinung über Wagner zu rela-tivieren, und zwar durch seine Beschäftigung mit Kritikern wie


Nietzsche, Baudelaire und Adorno. Atemberaubend fand er Nietzsches Wandlung vom Freund und Bewunderer zum erbitterten Gegner Wagners – hervorgerufen durch dessen Parsifal, erschienen im Jahre 1878, woraufhin Nietzsche erklärte, Wagner sei nunmehr unter dem Kreuz zusammengebrochen... Das Musikgenie wurde für ihn, den Philosophen, zum „Fall Wagner“, Anlass für eine überaus polemische Generalabrechnung im Jahre 1888. Er nennt ihn eine „kluge Klapperschlange“, einen Demagogen, einen Verführer, der es verstanden habe, sein Publikum mit raffinierten Bühnen-Effekten irre- zuleiten. Wodurch? Z.B. dadurch, dass er immer wieder „die Erlösung“ thematisiert: „Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgend-wer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein – dies ist sein Problem.“ Und am Parsifal sei Wagner regel-recht „erstickt“, wie Goethe es im Blick auf die Romantiker trefflich ausgedrückt habe, wonach das „Romantiker-Verhängnis“ darin beste-he, „am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken“. Erst recht verhängnisvoll durch dass, was Nietzsche Wagners „Dekadenz“ nennt, eine Krankheit, dem alles zum Opfer falle, vor allem aber die Musik. Und nicht nur die leichtgläubigen, nicht-psychologischen Deutschen, nein, auch Franzosen, Russen und andere seien dem Verführer auf den Leim gegangen, der nichts als „Hysteriker-Probleme“ auf die Bühne gebracht habe und seinen ganzen Ruhm überhaupt nicht der Musik, sondern nur der Schau-spielerei verdanke, einer notorisch neurotischen obendrein: „In seiner Kunst ist auf die verführerischste Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat – die drei großen Stimulantia der Erschöpften: das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).“ In der Kunst habe Wagner jedoch nichts Besonderes geleistet, zumal er Stil und Gesetzlichkeit stets missachtet habe. Musikalisch halte dieser ‚dé-cadent‘ sich doch nur an das schlicht Elementare, aber sinnlich Effek-tive. Was dabei herauskommt, sei nichts anderes als „die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik: ein kapitales Ereignis, das zu denken, das vielleicht auch zu fürchten gibt“. Denn jeglicher musikalischer Geschmack werde durch Ausdruck („expressivo“) um jeden Preis er-setzt. Erforderlich seien nunmehr „weder Geschmack, noch Stimme noch Begabung“, sondern nur „Germanen“ (!), für die insbesondere „Gehorsam und lange Beine“ charakteristisch seien, so dass keines-wegs zufällig „die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des >Reichs<“ zusammenfalle. Was mithin Wagner und das Zweite deutsche Kaiserreich verbinde: „Nie ist besser gehorcht, nie besser be-fohlen worden.“Auf seine Art und Weise habe Wagner es geschafft, alles und jedes und sogar sich selbst „groß“ zu machen – Letzteres in Anspielung auf Wagners geringe Körpergröße.


Aber: Mit solcher Kritik, solch beißendem Spott steht Nietzsche ziemlich allein da. Andere große Geister seiner Zeit äußerten sich völlig anders, ja diametral entgegengesetzt. Charles Baudelaire (1821-67), der Begründer der modernen Lyrik, bekundete dem deut-schen Opern-Genie höchste Anerkennung und Verehrung, und zwar auch und gerade hinsichtlich dessen musikalischer Leistungen. In einem persönlichen Brief des Jahres 1860 versichert er Wagner, er verdanke ihm „den größten musikalischen Genuss“, den er je empfun-den habe. Ausdrücklich lobt er die evokative Kraft seiner Musik, deren „Größe“ alles bisher Dagewesene in den Schatten stelle. Und er erklärt auch, was er mit der Größe meint, nämlich „die Feierlichkeit der großen Geräusche („grands bruits“), der großen Aspekte der Natur und die Feierlichkeit der großen Leidenschaften des Menschen“. Diese Empfindungen hätten ihn, Baudelaire, sofort mitgerissen und total ergriffen, wobei sonderbarerweise auch religiöse Gefühle mitge-spielt hätten. Wagners Musik vermittle eine Ahnung von höherem Leben („d’une vie plus large que la nôtre“) in anderen, besseren Welten. Ihm sei es vorgekommen, als werde er in die Luft empor-gehoben oder über das Meer hinweggerollt. Der ganze Stolz des Lebens und des Verstehens und eine „wahrhaft sinnliche Wollust“ habe von ihm Besitz ergriffen, kurzum: der höchste überhaupt vor-stellbare Seelen-Aufschwung. ...

Oh je, dachte Franz nach dieser Lektüre bei sich, Baudelaire mag ja Recht haben, aber hat nicht auch Nietzsche irgendwo und irgendwie Recht? Gibt es da nicht sogar Parallelen zu mir selbst? Bin ich nicht auch so eine neurotische Wagner-Figur, mit meinen rotblonden Haaren, den blauen Augen, den 1,93 Metern: ein echter Germane mit langen Beinen, vielleicht im Innersten immer noch typisch „Befehl und Gehorsam“? Bin ich vielleicht sogar auch Parsifal, immer unaus-gefüllt, immer auf der Suche wenn nicht nach dem Heiligen Gral, so doch nach ähnlich Großem, unruhig-unzufrieden, auch mal exzen-trisch, theatralisch, dann wieder völlig indifferent, antriebslos, apa-thisch bis zur Depression, zuweilen auch von wüsten Vorstellungen und bösen Träumen gepeinigt? Und daher wohl weniger Parsifal als eine trübe Mischung aus Faust und Oblomov, Tatendrang und Apathie, himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt, manisch-depressiv? Der Gedanke ließ ihn nicht ruhen, ließ ihn nicht mehr los. Mit wem hätte er sie teilen können, diese furchtbaren Gedanken?

Er hatte allerdings solche Gedanken noch gar nicht, als er seinerzeit mit Melanie in Venedig weilte. Zu wenig fundiert, wenn auch im Palazzo Vendramin emotional aufwühlend, waren seine und ihre Beschäftigung mit dem Meister, den ein Hitler so mühelos für sich und seine Zwecke vereinnahmen konnte. Immerhin, und das stieß


Franz später besonders übel auf, war Wagner ja Antisemit gewesen, dazu noch mit einer hanebüchenen Begründung: Als überzeugter Sozialist lehnte er den Kapitalismus entschieden ab. Wer aber waren die glühendsten, konsequentesten Kapitalisten? Natürlich die Juden! Also musste man, wie Wagner vermeinte, als aufrechter Sozialist unbedingt auch Antisemit sein! Aber so einfach – und hieraus schöpfte Franz seinen wichtigsten Einwand – war die Sache nun wirklich nicht. Der Kapitalismus war doch nicht nur eine Angelegenheit von Juden, sondern hatte sich schon zu Wagners Zeiten weltweit bis tief in die Mittelschichten hinein ausgebreitet, und zwar auch und gerade weltanschaulich. Und: Nicht nur Juden hatten Geld, nicht nur sie träumten vom großen Geld. Jahrhundertelang waren die Juden nicht Täter, sondern Opfer gewesen, geächtet, ausgeschlossen von gesellschaftlicher Integration, so dass viele nur im Geldgeschäft über-haupt tätig sein konnten. Darüber hinaus: Gehörten nicht auch Juden zu den überzeugten Sozialisten, herausragenden Marxisten? Man denke nur an Karl Marx selbst, an Trotzki, Ernst Bloch, Adorno, Horkheimer, Marcuse und viele andere! Nein, so lautete Franzens Fazit, man musste nicht Antisemit sein, um Sozialist sein zu können!


Alles Fake oder was?

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