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Umbrüche in Heidelberg


Was die unvergleichliche Atmosphäre und den besonderen Reiz Hei-delbergs ausmacht, erahnte Franz, als er sich die folgende, von Thomas Mann aus einem Brief des Jahres 1922 stammende Einschät-zung zu Gemüte führte, in der es heißt: „Ich war bezaubert. Überhaupt hat Heidelberg mir den schönsten Eindruck gemacht. Die romantisch-deutsche Landschaft, die jugendliche Geistigkeit der Atmosphäre thaten es mir an. Ich machte die Bekanntschaft Onckens, sprach mit Alfred Weber, der mich besonders interessiert.“ Tatsächlich scheint das ganze Geheimnis dieser Atmosphäre in ihrer eigentümlichen Mischung aus naturschöner Landschaft, origineller Architektur und romantischer Vergangenheit zu liegen. Kein Wunder, dass sich hier immer wieder herausragende Geistesgrößen niederließen, unter ihnen Hannah Arendt, Hilde Domin, Erich Fromm, Georg Lukács und die Brüder Alfred und Max Weber.

Als „der Vaterlandsstädte ländlichschönste“ hatte schon Hölderlin die Stadt gepriesen und in seiner Oder Heidelberg verewigt. Weniger an-spruchsvoll, aber nicht weniger innig besang Goethe die Stadt mit den Versen: „Ros‘ und Lilie morgenthaulich / Blüht im Garten meiner Nähe; / Hintenan, bebuscht und traulich, / Steigt der Felsen in die Höhe; / Und mit hohem Wald umzogen, / Und mit Ritterschloß gekrönet, / Lenkt sich hin des Gipfels Bogen, / Bis er sich dem Thal versöhnet.“ So als habe er die literhistorisch bedeutsame „Heidel-berger Romantik“ des frühen 19. Jahrhunderts vorausgeahnt, eine Strömung, an der Franz allenfalls die deutschnationalen Anwand-lungen störten, während es ihm ähnlich mit der Tatsache erging, dass Heidelberg eine Hochburg der evangelischen Reformation war, jedoch in ihrer calvinistischen Ausprägung, der Franz eher mit Skepsis begegnete. Wohingegen er voll und ganz einverstanden war mit dem, was sich einst Heinrich Heine gewünscht hatte: „Die alten, bösen Lieder, / Die Träume schlimm und arg, / Die laßt uns jetzt begraben, / Holt einen großen Sarg, / Hinein leg ich gar Manches, / Doch sag ich noch nicht was; / Der Sarg muß sein noch größer / Wies Heidelberger Faß.“ Was Franz als wunderbar empfand, und zwar trotz der darin enthaltenen dichterischen Übertreibung, hatte doch das erste, 1591 entstandene Heidelberger Weinfass ein Fassungsvermögen von mehr als 100.000 Litern, das vierte und letzte aus dem Jahre 1751 von mehr als 200.000 Litern. Was bei Jean Paul (1763-1825) folgenden Nachklang fand: „Ich habe hier Stunden erlebt, wie ich sie unter dem schönsten Himmel meines Lebens gefunden, besonders die Wasserfahrt, das Studentenvivat, und gestrige Gesänge (...) Der



gesellige Ton ist hier Leichtigkeit, Anstand und Freude; vier angetrunkene Punschbowlen bei Voß und 100 ausgetrunkene Weinflaschen auf dem Schiff ließen doch diesen Ton bestehen.“ – All dies war für Franz Ansporn und Motivation genug, seine philologi-schen und philosophischen Studien mit neuem Mut fortzusetzen.

Auch wenn dies nur sehr selten durch Weinseligkeit jäh unterbrochen wurde. Denn es ging ihm darum, ein ganz anderes Fass aufzumachen: Endlich dem auf den Grund zu gehen, was er für eine unabdingbare Voraussetzung, eine conditio sine qua non, jeglicher Philosophie und Philologie hielt: das Verstehen, die Hermeneutik, wie sie Professor H. in Heidelberg lehrte. Die Ergebnisse dieses Bemühens hielt Franz in einer späteren Veröffentlichung folgendermaßen fest:


Materielles und Immaterielles, Materie und Geist, Personen und Sachen


sind das, was wir verstehen wollen. Gäbe es keine Materie, gäbe es keinen (geformten, formhaltigen) Stoff, kein Zusammenspiel, keine Symbiose von Form und Substanz. (Substanz, mit Walter Schulz hier verstanden als ein „Inbegriff von Gesetzen“, bezogen auf ein stoffliches Substrat, z.B. Atome und Moleküle.) Dass Atome so verstanden werden können, ist nicht zu bezweifeln. Also gibt es hinreichend Grund zu der Annahme, dass der Begriff Materie sich nicht nur auf ein Signifikat, einen sprachlichen Inhalt, bezieht, sondern auch auf die tatsächlich vorhandenen Referenzobjekte ‚Wirklichkeit‘ und ‚Realität‘. Es gibt also die Materie.

Gibt es darüber hinaus auch Immaterielles, das was wir Geist nennen ? Geist ist ein zentraler Begriff des Idealismus. Ideen sind „Anschau-ungsformen“ des Denkens, des Bewusstseins. Denken ist eng an Sprache gebunden. Wer das Bewusstsein – auch wie Hegel als „Vorstufe“ des Geistes – erklären will, braucht eine Theorie der Sprachentstehung. Die weitestgehende der mir bekannten diesbezüglichen Theorien ist die von Lothar Wendt (1988) vorgeschlagene. Demnach beruht Sprache auf ursprünglichen, „teleonomischen“ Informationen, die sich bis hin zu den uns bekannten Anfänge der Evolutionsgeschichte zurückverfolgen lassen. Schon im Big Bang („Urknall“) entsteht informationshaltige Materie. Diese enthält Möglichkeiten, Entelechie: Zweck- und Zielgerichtet-heit, die teleologisch wahrscheinlich als Teleonomie (Ziel- und Zweck-Gesetzlichkeit) verstanden werden kann. Evolutionsgeschicht-lich liegt die so verstandene Materie mit ihrer Information auch der


Entstehung der Lebewesen zu Grunde. So dass die Evolution der Sprache von ursprünglichen (sub)atomaren und molekularen Codes zu Tier- und Menschensprachen durchgängig (wenn auch nicht vollständig) analysiert werden kann.

Erst recht kompliziert wird die Sache durch mindestens 2 Faktoren: 1. das Unterbewusstsein, 2. die nicht-sprachlichen Bedeutungen. Bilder, Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen und Vorstellungen haben für uns Bedeutungen, auch wenn diese nicht sprachlich „erfasst“ oder ausgedrückt werden. Die Entstehung und Entwicklung sowohl des Unterbewusstseins als auch der non-verbalen Bedeutungen zu erklären, ist Aufgabe der evolutionären Geistesgeschichte und der Naturwissenschaften.

Aber was ist denn nun der Geist? Anscheinend zunächst einmal eine Verwirklichung von Möglichkeiten der Materie (s.o.). Schelling ging immerhin so weit, auch der Natur Geist zuzusprechen, und zwar als dialektische, „objektive Subjekt-Objekt-Beziehung“, während der Geist des Menschen als subjektive Subjekt-Objekt-Beziehung dialektischer Art zu verstehen sei. Die erstere, auf die Natur bezogene Annahme beruht auf theologischer Spekulation (Pantheismus); die zweite dürfte auch heute noch wissenschaftlich belegbar sein, zumal mentale Objekte auch neurowissenschaftliche Begriffe sind (Jean-Pierre Changeux 1983): Im Gehirn finden tatsächlich nachprüfbare Subjekt-Objekt-Beziehungen statt. Wir beziehen uns anscheinend ständig auf unsere Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen und sprachlich und/oder nicht-sprachlich vermittelten gedanklichen Operationen. Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Verstand und Vernunft lassen sich dadurch – zumindest teilweise – erklären. Hierdurch eröffnen sich Möglichkeiten neuer dialektisch-materialistisch fundierter Erklärungen der Hegelschen Phänomenologie des Geistes, ohne in alte, überwundene Dualismen zurückzufallen.

Auch für Hegel ist der Geist eine dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung. Weitere idealistische Bestimmungen des Geistes, wie sie bei Hegel zu finden sind, lassen sich wissenschaftlich neu erklären. Wahrscheinlich eine Herkules-Aufgabe… Stichwörter (aus Hegels ‚Phänomenologie‘): Triebe, Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Verstand, Vernunft, freier Geist, freier Wille, Sittlichkeit, Moralität, Recht, Staat, Weltgeschichte („Substanz“), Kunst, Religion, Philosophie, Logik, das Absolute – ohne Hegel ergänzbar durch Empfindungen, Gefühle, Emotionen, Empathie, Individuum, Person, Persönlichkeit, Gesellschaft u.a.m.

Fazit: Es erscheint nicht nur möglich, sondern auch notwendig, zwischen Geist und Materie zu unterscheiden, und zwar nicht


dualistisch, sondern durchaus monistisch insofern, als beiden Begriffen das In-Möglichkeiten-Sein der Materie (Ernst Bloch) zu Grunde gelegt werden kann. Beide Begriffe sind notwendig, um die Wirklichkeit – und damit auch das in der Natur Wirkende, das mehr ist als bloße ‚Realität‘ – möglichst adäquat zu verstehen.

Bedeutet dies nun, dass wir das Verstehen als solches erst dann adäquat verstehen können, wenn Hegels Phänomenologie des Geistes umfassend dialektisch-materialistisch neu bedacht und fundiert worden ist? Wohl kaum, und zwar schon deshalb nicht, weil es Verstehenslehren (Hermeneutik) gibt, die zwar teilweise von Hegel ausgehen, aber nicht bei ihm stehen geblieben sind, so dass zwar die Unterscheidung zwischen Geist und Materie hermeneutisch zu begründen ist (s.o.), nicht aber die Hermeneutik selbst, nicht ihre „einschlägigen Ergebnisse“. Was allerdings nicht bedeutet, dass diese Ergebnisse gegenüber jeglicher Kritik immun oder gar kritiklos zu übernehmen sind.

Darüber gibt es massenweise Literatur. Raschen Überblick ermöglichen dennoch immer noch einige wenige Grund-Sätze (Leitsätze) der Verstehenslehre, die samt und sonders, zumindest sinngemäß, in Hans-Georg Gadamers Standardwerk ‚Wahrheit und Methode‘ zu finden sind. Ich meine

Alles Fake oder was?

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