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Günther feierte seinen Geburtstag im Schützenhaus, und obwohl Hans keine Lust hatte, ging er, weil Siegfried es von ihm erwartete. Das Geburtstagskind hüpfte wie ein Springteufel herum und schlug ihm immer wieder auf die Schulter und sagte, wie er sich freute, dass er dazu gehörte. Plötzlich zog er ihm den Stuhl von hinten weg, so dass sich Hans auf den Hosenboden setzte!

Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er hörte Gejohle und Gegacker, sah über sich feixende Gesichter und schließlich Siegfried, der ihm die Hand reichte und hochzog. „Heb nicht ab! Bleib auf dem Boden!“, sagte er.

Hans schnappte nach Luft wie ein Karpfen und starrte in seine stahlblauen Augen. „Es genügt nicht, dass du schießen kannst. Du musst auch beweisen, dass du ein Kämpfer bist!“

Das wollte Hans gern beweisen, am liebsten gegen Günther. Er ballte schon die Fäuste, um auf ihn loszudreschen.

Siegfried legte ihm den Arm um die Schulter. „Es laufen immer noch zu viele Pollacken herum, die eine dicke Lippe riskieren. Die schlagen wir ihnen blutig, damit sie nicht länger labern!“

Er lachte laut und die anderen lachten mit. „Kennst du einen von der Sorte?“

Sie alle hatten polnische Verwandte, nur Siegfried und Günther nicht, weil sie keine Oberschlesier waren. Er zuckte die Achseln und drehte sich verlegen weg.

Günther sagte, dass Rudi Malcherek Hans piesackte, die ganze Schule wusste es.

„Ist er ein Pollack?“, wollte Siegfried wissen.

Günther zeigte auf Hans: „Frag ihn!“

Hans dachte daran, wie Rudi ihn im Schulklo bedrängt hatte, und murmelte, dass er ein Gruchlik war.

Siegfried zog die Augenbrauen zusammen, weil er nicht wusste, was das war. Da rief Günther: „Ein Schwein!“

Alle lachten und Siegfried sah ihn an: „Also ein Pollack?“

„Ja“, sagte Hans, obwohl Rudi kein Pollack war. Aber er wollte keinen anderen nennen und wusste, dass Siegfried einen Namen erwartete. Der war auch zufrieden und sagte, er sollte den Pollack fertigmachen, er würde ihm helfen.

Am nächsten Morgen kam Siegfried in seine Schule und ließ sich Rudi zeigen, der gar nicht verstand, dass Hans ihn zum Kampf herausforderte. Dann aber schlug er wütend zu und hätte ihn fertiggemacht, wenn Siegfried nicht dazwischen gegangen wäre. Er schickte Rudi mit einem Tritt und einem Fausthieb zu Boden, wo er nicht einmal schreien konnte, weil Siegfried ihm den Mund zuhielt.

Hans ging Rudi aus dem Weg, aber wenn der ihn sah, sprang ein Funke ungläubigen Erstaunens aus seinen Augen, als ob er ahnte, dass Hans gelogen hatte. Er schien so enttäuscht, dass er wegblieb und von Groß Strehlitz wegzog, nach Breslau zu seinem Großvater, der ihn für seine Klempnerei brauchte, hieß es.

Sein Platz blieb leer und Hans sah oft darauf, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Er vermisste ihn nicht, konnte gut ohne sein Piesacken leben, wusste aber auch, dass er gelogen und verleumdet hatte.

Der leere Stuhl erinnerte ihn an Simon Schlesinger von der Volksschule, der unheimlich gut Klavier spielen konnte. In der Hofpause, als sie beide in der Klasse blieben, weil sie Tafeldienst hatten, setzte sich Simon an das Klavier und spielte das Horst-Wessel-Lied. Er spielte es anders, fröhlich und lustig, so dass sie lachen mussten. Bis Hawlitzky kam, der Schulpedell, und den Klavierdeckel zuknallte.

Am nächsten Tag sagte Olesch, der Rektor, dass man bei Simon sehen konnte, dass den Juden nichts heilig war. Er hatte aus dem Horst-Wessel-Lied Negermusik gemacht und gezeigt, dass er nicht verstand, was Volksgemeinschaft war. Simons Familie lag sowieso nicht viel an der Volksgemeinschaft, denn sie hatten schon lange vorgehabt, nach Amerika auszuwandern. Das konnte sich ja Bankdirektor Schlesinger leisten. Sicher würde es ihnen dort viel besser gehen, weil die Juden überall ihre Leute hatten, die ihnen halfen.

Rudi hatte nicht geglaubt, dass Simon nach Amerika ging. Er sagte, die Juden kamen in Lager und kehrten nie zurück.

„Warum nicht?“, fragte Fritz.

„Horch mal, hast du je einmal einen Juden gesehen, der zurückgekommen ist? Sie kommen so wenig zurück wie die Toten.“

„Du meinst, sie kommen im Lager um?“

„Halt die Nase in die Luft! Dann riechst du, wie sie über den Jordan gehen.“

Nicht weit von Groß Strehlitz lag ein Arbeitslager, von wo es häufig genug nach Leichen roch, wenn der Wind aus der Richtung kam. Es hieß, dass man die Toten wegen der Ansteckungsgefahr verbrannte.

Aber Hans konnte nicht glauben, dass Juden dort arbeiteten, nicht die aus Groß Strehlitz, also die Creutzbergers oder Goldsteins, die wie die Schlesingers ihre schönen Häuser am Neuen Ring hatten. Die besaßen doch genug Geld, um nach Amerika auszuwandern! Rudi hatte gegrinst: „Jud ist Jud!“

Es war eigenartig, dass Rudi der einzige war, der über Juden redete. Alle anderen schwiegen. Auch zu Hause wollte man von Juden nichts wissen. Aber man musste vorsichtig sein, wenn Rudi etwas sagte. Er übertrieb gern oder log sogar, um sich wichtig zu machen.

Rudi hatte eine alte Trompete, in die der gern blies, um die Leute zu erschrecken. Als er über die Juden sprach, trompetete er Wir lagen vor Madagaskar. Es war zu laut, sie hielten sich die Ohren zu. Er rief: „Los, singen wir!“, und sie sangen: Wir lagen vor Madagaskar / und hatten die Pest an Bord /In den Kesseln, da faulte das Wasser / und täglich ging einer über Bord.

Es zogen jetzt viele von Groß Strehlitz weg. Viele ältere Männer mussten zur Wehrmacht, darunter mehrere Lehrer, so dass Kretschmar zu seiner Klasse noch eine weitere übernahm. Ein großes Gedränge entstand, als die neuen Schüler zu ihnen kamen, weil sie einen Platz finden mussten. Kretschmar sorgte Hände klatschend für Ruhe und jeder kam nach vorn, nannte seinen Namen und gelobte, nie den Unterricht zu stören.

Dann stand Hans vor der Klasse und sah alle Blicke auf sich gerichtet und fing an zu stottern. Kretschmar fragte, ob er nicht deutlicher sprechen konnte, und die Blicke der Klasse wurden kälter und der Kloß in seiner Kehle größer. Kretschmar kam näher, roch nach Tabak und Kreide und rief mit seinem Holzbein auftretend, dass es immer auf die Haltung ankam. Sie sollte nicht wie ein Fragezeichen wirken, denn das verriet Unsicherheit, sondern, und dabei klopfte er Hans unter dem Gelächter der Klasse zuerst auf die Brust, dann auf den Rücken, wie ein Ausrufezeichen, denn das zeigte Geradheit und Stärke!

Hans schlich zu seinem Platz zurück und wünschte, er könnte wie eine Maus in einem Loch verschwinden. Er fand erst in der Pause den Mut, Jorgusch anzuvertrauen, wie sehr er sich von Kretschmar niedergemacht fühlte. Der sagte ihm, das brauchte er sich nicht gefallen zu lassen. Das wollte Hans nun wirklich nicht, und als auch noch Günther an seine Ehre appellierte, stand für ihn fest, dass er sich an Kretschmar rächen würde, obwohl Günther der letzte war, von dem er sich was sagen ließ. Aber der reichte ihm grinsend ein Gummiband und ein paar Papierkrampen und sagte: „Knall sie Kretschmar in die Fresse! Dann sehen wir, ob er selbst wie ein Fragezeichen oder ein Ausrufezeichen wirkt!“

Er wartete darauf, dass Kretschmar nicht sehen konnte, wie er auf ihn zielte, und nahm sich, als er ihnen den Rücken kehrte, um die Tafel zu bemalen, sein großes, rechtes Ohr vor. Er konzentrierte sich, wartete auf die Leere, die keine Erschütterung zuließ, und zog das Gummiband durch und traf! Kretschmar stand starr wie eine Salzsäule und ließ ihm Zeit, Gummiband und Krampen in der Hosentasche verschwinden zu lassen, bevor er sich mit knallrotem Gesicht umdrehte und gefährlich flüsternd fragte, wer es gewesen war.

Sie standen auf, stellten sich neben die Bänke und hörten seinen Befehl, so lange stehen zu bleiben, bis der Schuldige bekannte oder genannt wurde. Unruhe entstand, Blicke trafen ihn, so dass Hans glaubte, die Klasse würde ihn verraten. Er kannte die Neuen nicht und Günther konnte ihm eine Falle gestellt haben und Rolf, der Streber, stand immer auf der Seite des Lehrers, aber keiner sagte etwas. Sie hörten Kretschmar wie einen Dampfkessel zischen, als er von Schüler zu Schüler ging, und vor Fritz explodieren. Er hob das Klassenbuch und schrie: „Ich schlag dich platt, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst!“

Fritz duckte sich und greinte, dass es nicht auszuhalten war. Kretschmar brüllte: „Hol sofort deine Mutter!“ Fritz hatte Angst vor seiner Mutter und zeigte auf Hans: „Der war's!“

Kretschmar, enttäuscht, fast traurig, blickte ihn an. „Stimmt das?“ Hans konnte nur nicken. „Du hast dich wie ein Feigling verhalten, der nicht zu seinen Taten steht!“

Kretschmar wandte sich an die Klasse: „Jungs, denkt immer an die Folgen eurer Taten! Sonst kommt eines Tages das große Heulen und Zähneklappern über euch!“

Er ließ Hans nach vorn kommen. „Wir werden ein Exempel statuieren, um die Folgen der Tat sichtbar zu machen!“

Rolf, der Streber, brachte die Malsachen aus dem Schrank. Kretschmar fragte: „Wer malt gern ein Ohr an?“

Alle meldeten sich. Günther lachte am lautesten und kam dran. Er durfte unter dem nicht enden wollenden Gewieher der Klasse Hans das rechte Ohr rot anpinseln.

Jeden Morgen erhielt Hans zur Freude der Klasse seinen Rotanstrich. Nach einer Woche erklärte Kretschmar sein Ohr für normal und Hans war nicht länger der Klassenidiot. Aber er vergaß nicht, dass Kretschmar ihn zur Lachnummer gemacht hatte. Er dachte, jedes Lachen hinter seinem Rücken war für ihn. Er würde es Kretschmar heimzahlen, wenn sich die Gelegenheit ergab.

Die ergab sich schneller, als er dachte, denn als Siegfried über Volksfeinde sprach, nannte Hans Kretschmar. Der glaubte nicht an den Sieg, sondern warnte vor dem großen Heulen und Zähneklappern nach dem Krieg. Siegfried wollte von den Kameraden wissen, ob sie es auch gehört hatten, und es wurde mit einem Schlag still.

Hans erschrak. Kretschmar hatte nicht so eindeutig vom Ende des Krieges gesprochen. Er hoffte, die Kameraden würden ihm nicht in den Rücken fallen. „Kretschmar redet wie ein Italiener“, grinste Günther. „Und die reden sich um Kopf und Kragen!“ - „Bei Kretschmar weiß man nie, woran man ist“, meinte Rolf, der Streber. Alle nickten bis auf Jorgusch, der aus dem Fenster guckte. Hans sah gespannt auf Siegfried. Der machte eine Handbewegung über den Tisch und knurrte, dass so was Folgen hatte.

Eine Woche später kam Kretschmar nicht mehr in die Schule. Er musste in den Krieg trotz seines Holzbeins. Aber man munkelte, dass die Gestapo ihn geholt hatte.

Am letzten Tag vor den Sommerferien kam Matysek, ihr neuer Lehrer, der bei jedem Schritt schnaufend und vor sich hin redend die große Langeweile verbreitete. Jeder wünschte sich Kretschmar zurück, auch Hans.

Der Hitlerjunge Hans

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