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Polly

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Wenn Vater gefallen war, konnte auch Josel fallen! Man hatte seit seinem letzten Besuch nichts mehr von ihm gehört. Man sprach lieber nicht von ihm, denn wenn sein Name fiel, starrte einem der Schrecken ins Gesicht: Seine Großmutter bekreuzigte sich, seine Mutter wurde totenblass und Marie ließ eine Tasse fallen, und keiner sagte, dass Scherben Glück brachten.

Hans vermisste Josel, weil er seinen Rat brauchte, denn er hatte zu nichts mehr Lust, weder zu den HJ-Nachmittagen am Mittwoch und am Sonnabend, wo Ernst Scheißkerl ihn triezte, noch zu der Schule, wo man ihn ebenfalls schikanierte, nur dass sein Peiniger nicht Harald Kaluza hieß, sondern Rudi Malcherek.

Er hatte ein Spiel erfunden, das „Alle Mann hinlegen!“ hieß. Er machte einen Bomber mit aufheulendem Motor nach und sie warfen sich auf den Boden, immer klatschend aufeinander, und Hans lag jedes Mal so, dass Rudi über ihm Schweinisches ins Ohr flüsterte. Er lauerte ihm auf dem Schulklo auf und nutzte seine Angst vor Entdeckung aus, so dass Hans sich nicht richtig wehren konnte, wenn Rudi zwischen seinen Beinen fummelte. Bis Hans wieder hustete und nach Luft rang und seine Mutter ihn für krank erklärte und Entschuldigungen an die Schule und die HJ schrieb.

Endlich hatte er seine Ruhe und die Zeit für einen Plan, und der war, nach Stubendorf zu fahren. Wenn Josel nicht da war, hoffte er, einen zu finden, der etwas von ihm wusste.

Am übernächsten Tag, als er allein zu Hause war, weil seine Mutter und Großmutter in die Munitionsfabrik mussten, flüchtete er über die Hintergärten und schlüpfte durch einen Zaun zum toten Hof, einem früher von Polen bewohnten, jetzt ausgebrannten Bauernhaus. Mit seinen schwarzen Mauern und Fensterlöchern wirkte es so düster, dass man lieber einen Bogen darum machte. Hier fühlte er sich sicher, denn keiner durfte ihn sehen, er war ja krank geschrieben. Von hier wollte er unauffällig nach Stubendorf.

Da wurde er von einem Anblick überrascht, mit dem er nicht gerechnet hatte. Marie lehnte an der schwarzen Mauer. Sie sang zu ihrer Klampfe das Lied vom Rosmarienbaum: Ich hab die Nacht geträumet wohl einen schweren Traum.

Das Lied war traurig, weil es von Grab, Tränen und dem Tod des Liebsten handelte. Aber warum sang sie es? Da musste man doch an Josels Tod denken!

Er stürzte auf sie zu. „Nein!“ schrie er. „Hör auf!“

Sie hörte auf. „Horch mal Hans! Wenn ich traurig bin, spiel ich von meiner Trauer. Dann quält sie mich nicht mehr. Verstehst du das?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das, was in dir tief drinnen ist, musst du nach draußen kriegen!“

Das verstand er noch weniger.

„Komm, hör einfach zu!“

Sie zog ihn zu sich, er schloss die Augen und hörte zu. Das Lied war schön, es machte ihn traurig. Aber gerade das gefiel ihm. Er konnte von der Traurigkeit nicht genug haben.

Als er die Augen öffnete, sah er die Mücken im Sonnenlicht tanzen, von den hohlen Fenstern die Tauben gurren und auf der höchsten Treppenstufe einen zusammengerollten Hund den Schwanz bewegen und leise winseln. Marie war seinem Blick gefolgt und pfiff und sogleich streckte sich der Hund, schlich schwanzwedelnd zu ihr, warf seine traurigen Augen auf sie und senkte den Kopf.

Dieser Hund war ihr zugelaufen und suchte einen Herrn. Sie dachte, das wäre etwas für ihn. Er erschrak, denn er hatte selten einen so hässlichen Hund gesehen. Er war sehr jung, ein Mischmasch von Rassen, hatte die kurzen Beine eines Dackels, die Schnauze eines Terriers, die festen Ohren eines Schäferhunds und ein glattes schwarz-weißes Fell und Augen, die zu sagen schienen, dass es ihm leid tat, die Menschen mit seinem Anblick zu beleidigen.

Es war eine Hündin, erklärte Marie, und er sollte sie Polly nennen, weil sie von diesem Polenhof kam. Er schüttelte den Kopf, er hätte keine Zeit. Sie nahm seine Hand und schaute ihn mit ihren großen, grünen Augen an und bat ihn, es ihretwegen zu tun. Sie griff sie nach einem Stock, der neben ihr lag, und warf ihn weg und sofort sprang die junge Hündin hinterher und legte ihn schwanzwedelnd zu ihren Füßen.

Marie hatte es jetzt sehr eilig, umarmte ihn rasch und war nach einem kurzen Winken fort. Er beugte sich zu der Hündin, versuchte sie zu streicheln, als sie hoch schnellte, ihre feuchte Zunge ausfuhr und sein Gesicht ableckte. Er stieß sie zurück, sie winselte, lag platt vor ihm mit traurigem Dackelblick und war bereit, alles für ihn zu tun. Sie wollte nicht länger herrenlos durch die Straßen streichen, das merkte er sehr deutlich.

Er dachte: Ich muss versuchen, Muttel und Omi zu überreden, die Hündin aufzunehmen. Es wird nicht einfach sein, weil sie keinen Hund brauchen, schon gar nicht einen so hässlichen!

Und so ging er zurück, vergaß Stubendorf und schloss die Haustür auf, als sie schon durchsprang und im Entree ganz still mit gesenktem Kopf wartete. Im nächsten Moment schlüpfte sie schon wieder durch, diesmal durch die Beine seiner Großmutter, die von ihrer Arbeit früher zurückgekommen war.

Sie rief „Jesusmaria!“ und beugte sich über Polly, die leise winselnde Geräusche von sich gab, und sagte, dass sie Hunger hatte. Er sollte den alten Suppenknochen, den sie noch hatte, draußen weit fortschleudern und dann die Tür zuschlagen, denn sie wollte die Hündin nicht im Haus sehen.

Er ließ sie am Knochen nagen und kehrte zu seiner Großmutter zurück.

„Ist der Räudel fort?“, fragte sie.

„Sie heißt Polly!“

Er erzählte, was passiert war, und sie wurde nachdenklich, als sie hörte, Marie hatte ihm die Hündin geschenkt.

Aber sie sah ihn streng an. „Ich verstehe nicht, wie du hier herum hopst, wenn du krank geschrieben bist!“

Er wollte nach Stubendorf, zu Josel, sagte er leise.

Sie seufzte. „Muttel wird dir den Kopf waschen! Wir alle haben keine Zeit für einen Hund, auch du nicht!“

Seine Mutter wusch ihm nicht den Kopf. Sie verbot ihm selten was, weil sie nur an Josel dachte und sich manchmal zu wundern schien, dass er auch noch da war. Sie runzelte nur die Stirn, als sie ihn mit der Hündin sah, die sich prompt vor ihr auf den Bauch warf und mit dem Schwanz wedelte.

„Ich fühle mich oft so einsam“, sagte er, „da kann mir Polly helfen.“

Sie verstand, dass ihm sein Vater und Josel fehlten, und blickte milder auf Polly, streichelte sie sogar.

„Was machst du mit ihr, wenn du in der Schule bist?“

Er wollte Wollny fragen. Er verkaufte in seinem Laden auf dem Hindenburgplatz Kleintiere und das Futter dazu.

„Strapaziere nicht Omis Geduld!“, bat sie.

Er stand am nächsten Morgen früher auf, wurde allerdings auch früh von Polly geweckt, die vor seinem Bett winselte. Er ging auf seinem Schulweg über den Hindenburgplatz, wo Wollny gerade sein Geschäft geöffnet hatte und so fröhlich war wie der schöne Tag, an dem die Vögel um die Wette zwitscherten. Er warf einen Blick auf Polly, hielt sie für gesund und auch nicht für dumm, weil sie sich sein Abtasten ohne Geknurre gefallen ließ.

„Frag mal bei Piontek nach. Für ein paar gute Worte füttert er dir Polly durch. Fleischabfälle und Knochen hat er genug.“

Die paar guten Worte kritzelte er auf einen Zettel, verschloss ihn in einem Umschlag. „Den gibst du Piontek, damit Polly etwas von seinen Knochen abbekommt. Nicht die von ihm selbst, aber ein alter Knochen ist er schon!“

Piontek war so hager, dass sein Zeug an ihm flatterte. Er sagte grinsend, während er die Zeilen überflog, dass Wollny wieder mal sein Herz für Tiere entdeckt hatte. Er strich über Pollys deutlich hervorstehende Rippen und Hans wusste, dass er jetzt etwas sagen musste, damit Polly bei Piontek bleiben durfte.

Er stand stramm. „Ich bin Hitlerjungen Hans Baran und Josef Baran ist mein Bruder!“

Pionteks Gesicht entspannte sich, und er war er bereit, Polly übriggebliebene Knochen vorzuwerfen, wofür Hans aber, darauf bestand er, Ordnung in seinen von Gerümpel und Unkraut bedeckten Hof bringen sollte. Dann holte er ein paar Knochen aus seinem Fleischerladen, füllte einen Napf mit Wasser, und während sich Polly darüber her machte, beeilte sich Hans zur Schule zu kommen.

Er kam zu spät, aber zu seinem Glück war Kretschmar nicht da. Der Vertretungslehrer, der einarmige Öhler, machte sich nicht die Mühe, ihre Anwesenheit zu überprüfen, sondern schichte sie auf den Sportplatz. Rudi schlug Faustball vor, also spielten sie Faustball. Er und Emil suchten sich ihre Mannschaften zusammen und übersahen ihn und ließen ihn als Ersatzmann übrig.

Als er zurückkam, freute er sich auf Polly und hoffte, dass sie ihm bellend entgegenlief, aber sie roch, hörte und sah ihn nicht. Sie war auf Piontek fixiert, der mit einem Knochen über den Hof schritt, weil für sie nur das Fressen zählte, sonst nichts und er am allerwenigsten! Sie hatte vergessen, dass er ihr Herr war!

Er übersah sie genau so, als sie mit ihrem Fressen fertig war, und fing an, Pionteks Hof zu säubern. Aber als sie am Abend um ihn herum sprang und seine Hand zu lecken suchte, zog er sie zurück und versetzte ihr links und rechts ein paar Ohrfeigen, dass sie aufheulte. Er zwang sie mit dem Hundekeks, den er bei Wollny gekauft hatte, so lange zu seinen Füßen zu kauern, bis er ihr das Zeichen zum Fressen gab. Sie musste lernen, dass für sie das Wichtigste war, ihm zu gehorchen.

Der Hitlerjunge Hans

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