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Kapitel 2 Meine Kindheit

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Der Schrei meiner Tante, „nehmt die Kinder vom Fenster“, hat mich mein ganzes Leben lang begleitet.

1948, ich etwa 4 Jahre alt, beobachtete ich mit meiner Cousine aus dem Fenster, wie eine große Maschine von unserem Hof auf einem Tieflader abtransportiert wurde.

Unser Opa, später mein bester Freund und Vertrauter, lief neben diesem Transport her, als die Maschine plötzlich ins Rutschen kommt und unseren Opa begräbt. Er überlebte, wurde jedoch so schwer verletzt, dass die Ärzte beide Beine amputieren wollten.

Mein Opa war ein Kämpfer dem nie der Humor ausging, immer zuversichtlich und gutgläubig anderen gegenüber.

Ich frage mich, ist alles im Leben vorbestimmt? Der einzige Arzt, der die geplante Amputation in diesem Krankenhaus hätte durchführen können, wurde einen Tag vor der geplanten Operation von der Russischen Militärpolizei verhaftet.

Etwa 3 bis 4 Tage später trat ein anderer Arzt seinen Dienst in diesem Krankenhaus an. Dieser äußerte sich während seiner ersten Visite sinngemäß, „wir warten noch ab, es hat ein Heilungsprozess begonnen, vielleicht können wir die Beine retten, amputieren können wir ja immer noch“.

Weitere Tage vergingen, die Wunden infizierten sich, vereiterten total, sodass lebende Maden angelegt wurden. Diese Maden fraßen den Eiter und das absterbende Gewebe. Der Heilungsprozess entwickelte sich zur Freude aller bestens und nach etwa einem Jahr konnte der Opa das Krankenhaus verlassen.

Anfangs konnte er sich nur mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Nach Monaten war es ihm dann zum ersten Mal wieder möglich, allein mit zwei Gehilfen auf den Beinen zu gehen. Über drei weitere Jahre dauerte es noch, bis er das Laufen vollständig wiedererlernt konnte.

Er gab niemals auf, trat der Zukunft stets optimistisch entgegen und bezeichnete die Vergangenheit als Geschichte, aus der man nur lernen konnte.


Eine seiner Weisheiten, „Junge lass die Vergangenheit hinter Dir, lerne aus den Fehlern, lebe im Heute und schaue in die Zukunft“.

Eine weitere Weisheit, „Junge wenn Du den Menschen Gutes tust, bekommst Du es hundertmal zurück! Tust Du ihnen Schlechtes an, bekommst Du es tausendmal zurück“.

Wenn ich das jedoch aus heutiger Sicht betrachte, muss ich mich fragen-Hatte der Großvater recht mit dieser zweiten Weisheit? Was bloß habe ich in meinem Leben falsch gemacht, wem habe ich Schlechtes angetan, dass ich mich heute so einsam und verlassen fühlen muss?

Bin ich denn überhaupt einsam und verlassen oder bilde ich es mir nur ein? Hatte sich in den vergangenen Jahren die Menschheit in ihrem Denken, Handeln und Fühlen, in ihrem Wesen so sehr verschlechtert, ist da möglich?


Trotz des schweren Neubeginns nach dem Krieg kann ich heute sagen, wir hatten eine sehr schöne Kindheit!

Es heißt, dass man nur an das Gute denkt und schlechte Erlebnisse verdrängt. Wir sind auch ohne Gameboy, Handy, PC und allem was den heutigen Kindern und Jugendlichen als wichtig und lebensnotwendig erscheint erwachsen geworden. Erwachsene, die mit beiden Beinen im Leben stehen und ihre täglichen Aufgaben für das Wohl ihrer Familie mit Hingabe erfüllen.

Zugegeben, eine „Leuchte“ in der Schule war ich nicht. Erschwerend kam noch hinzu, dass meine Mutter plötzlich mit 39Jahren verstarb. Ich wurde nun Vollwaise. Mein Vater war in meinem Geburtsjahr 1944 im Krieg gefallen.

Was sollte nun also werden? Auch hier war der Opa meine Rettung, denn er brachte mir bei zu kämpfen, komme was wolle!

Trotz meiner Faulheit und dem daraus resultierenden mittelmäßigen Schulabschluss, konnte ich eine Berufsausbildung bei der Deutschen Reichsbahn in der DDR beginnen.

Meine Familie war sehr gläubig. Zweifel an allem Religiösen kamen in mir auf und ich frage mich: „Warum hat dieser Gott, zu dem jeden Tag in unserer Familie gebetet wird, der vor jedem Essen im Gebet an unseren Tisch als Gast eingeladen wird, seine Hände nicht schützend über meine Familie gehalten?

Ein Gedanke keimte in mir auf. Den Vater hast Du verloren, die Mutter wird Dir auch noch genommen! Gibt es diesen Gott überhaupt? Warum hat er zugelassen, dass ein Krieg so viel Elend über die Menschheit bringt“?

Mein Schwager und meine sechs Jahre ältere Schwester übernahmen nach dem Tod meiner Mutter die Vormundschaft für mich.

Wir kamen ganz prima miteinander aus, doch mein Großvater wurde in dieser Zeit zur wichtigsten Person in meinem weiteren Leben.

Unser Opa, 1890 geboren, hatte den ersten Weltkrieg schwer verwundet überlebt und war während des zweiten Weltkrieges in der Rüstungsindustrie tätig. Nach dem Krieg, uneigennützig und unter schweren Bedingungen für das Wohl der Familie sorgend, wurde er ein Vorbild für mich, ein Ansprechpartner in allen Lebenslagen und zu allen Lebensfragen. Ich sah ihn mehr als einen Freund, nicht als Opa oder Großvater.

In den 50iger Jahren fehlte es den Menschen an vitaminreicher Kost, wobei wir die Möglichkeit hatten zwei Kleingärten zu bewirtschaften. Obst und Gemüse wurde angebaut. Karnickel, Hühner und Gänse, sogar Schafe und eine Ziege, die uns Milch gaben, wurden gehalten.

Meine Mutter sponn aus der Wolle unserer Schafe Garn, aus dem die Oma Strümpfe, Mützen, Strickjacken, Handschuhe und allerhand Anderes (Zeug) strickte.

Wir hatten Federbetten, gefüllt mit den Federn unserer Gänse, hatten Fleisch und Eier zu essen, mussten nicht hungern und im Winter auch nicht frieren.

Dennoch ließ sich unsere Tante, eine der Schwestern meiner Mutter, eines nicht nehmen. Sie schickte uns aus Hamburg regelmäßig Pakete, in denen unter anderem Lebertran war.

Auf diese „Geschenke“ konnte ich mich nie freuen. Lebertran war nämlich eines der Hauptgeschenke, den wir regelmäßig einnehmen mussten. Angeblich weil er so gesund sei und wichtig für unsere körperliche Entwicklung. Er war das Allerletzte was ich jemals zu mir genommen habe, oder mit Zwang zu mir nehmen musste.

Noch heute erinnere ich mich sehr genau welches Gefühl in mir aufkam, wenn ich von meiner Mutter oder der Oma einen Löffel mit diesem schlierigen, tranigen Zeug zwischen die Zähne geschoben bekam.

Ausnahmslos musste ich mich übergeben, noch bevor auch nur ein Tropfen dieses ekligen Zeugs meine Speiseröhre erreichte. Es gab kein Pardon dieser beiden Damen.

Der Opa aber, ich vergesse es ihm nie, stand mir bei, erkannte die Situation und mein Leiden. Er setzte diesen Qualen folgendermaßen ein Ende:

Meine Mutter und die Oma konnten nicht damit umgehen wenn ich mich übergab.

Ich bin mir heute ziemlich sicher, sie mussten sich wohl sehr zusammenreißen um nicht mit mir gemeinsam ihren Mageninhalt ans Tageslicht zu bringen.




Mein Opa sah darin die Chance dem ein Ende zu setzen, denn er hatte keine Probleme mit von mir „Erbrochenem“ umzugehen.

Er übernahm die „Kontrolle“ bei der Einnahme dieses so „wichtigen Saftes“ und siehe da, der Junge wuchs heran und war gesund. Dem Opa machte es nichts aus Lebertran einzunehmen, auch er war gesund. Alles hatte also ein gutes Ende genommen, dank des Opas. Ich habe es ihm nie vergessen!

Immer dann, wenn ich nach Meinung meiner Mutter und der Oma Dummheiten gemacht hatte, und das kam schon mal vor, wie zum Beispiel beim Rauchen erwischt zu werden, mal eine Stunde in der Schule gebummelt zu haben, oder mal eine schlechte Note zu bekommen, war der Opa mein erster Ansprechpartner, meine Vertrauensperson, der dann all diese „leidigen“ Angelegenheiten wieder ins rechte Licht rückte, wodurch ich meine Ruhe und Zufriedenheit hatte!

Allerdings, habe ich noch heute die Worte meiner Mutter und der Oma im Ohr: „Junge, was soll denn nur mal aus dir werden“?

Die Frage beschäftigt mich heute in letzter Zeit sehr häufig, was ist aus mir geworden?

Dabei habe ich immer wieder die Worte des Opas im Gedächtnis „ Junge, wenn du Menschen Gutes tust bekommst du es hundertmal zurück, tust du Ihnen Schlechtes an bekommst Du es tausendmal zurück“!

Auf ihn, mit seinem langen Leben, traf das durchaus zu. Er dachte sozial, war sehr hilfsbereit und gab das Letzte, wenn jemand in Not war. Er opferte sich für andere Menschen auf, ohne dabei an sich zu denken, ohne sich finanzielle Vorteile zu erhoffen, er war ein Samariter.

Somit hatte er ein begnadetes Leben hinter sich und ist schlussendlich mit 89 Jahren friedlich eingeschlafen. Die Hand konnte ich ihm dabei nicht halten, es macht mich heute noch traurig!

Ich hatte einen Freund verloren, einen Menschen der das aus mir gemacht hat was ich heute bin.

Bin ich dem gerecht geworden? Tja, es ist nicht immer leicht sich selbst einzuschätzen, ich will zumindest hoffen, dass es so ist.

Jeder Mensch bildet sich eine eigene Meinung über andere Menschen mit denen er zu tun hat, die in seinem Leben stehen oder seine Wege kreuzen.

Den Opa betrachte ich im Nachhinein, nach allem was ich mit und durch ihn erleben durfte, uneingeschränkt, als einen sozial denkenden und handelnden Menschen- Er war und ist heute noch mein Vorbild!



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