Читать книгу Möglichst dicht an der Wahrheit - Klaus Wickel - Страница 4

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Die Wohnung wirkte verlassen, obwohl Carola dort niemals gewohnt hatte. Frank Nickel fröstelte als sei die Kälte ihrer Leiche im Wasser der Leine durch die Fenster- und Türritzen gedrungen. Noch im Mantel ging er in die Küche und nahm die Whiskyflasche und ein Glas mit ins Wohnzimmer. Es roch muffig. Mit dem Glas in der Hand trat er ans Fenster und öffnete es weit. Das zarte Rascheln der mächtigen Straßenkastanie im lauen Föhnwind vor seinem Fenster beruhigte ihn. Tief atmete er durch, um die aufkeimende Müdigkeit zu verscheuchen. Selbstvergessen schaute er einen Augenblick auf die menschenleere Amalienstraße. Immer nach New York genoss er die dörfliche Idylle Schwabings.

Im Bad warf er Mantel und Jackett über den Badewannenrand, schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete das nasse Spiegelbild. Kopfnickend stellte er deutliche Spuren des langen Fluges fest. Die Dekadenringe der vierundsechzig Jahre zeichneten sich deutlicher als sonst ab. Kein Wunder, nach der Todesnachricht, tröstete er sich. Noch während er das Licht über dem Spiegel ausknipste, notierte er mental, `Hansen anrufen´, seine Friseurin, denn die an den Schläfen deutlich ergrauten Haare drohten das Ohr zu erreichen.

Er seufzt, ging ins Arbeitszimmer und schaute sich um. Die Tatsache, dass alles am selben Platz wie vor acht Tagen stand, wirkte befremdlich, irgendwie unanständig. Die Dinge verrieten nichts von der Tragödie.

Mit dem Glas in der Hand setzte er sich an den Schreibtisch und schaltete den Anrufbeantworter ein. Es waren acht Gespräche während der letzten Tage im Zählwerk aufgelaufen. Das erste war von einer Managervermittlung in Paris mit der Bitte um Rückruf. Das zweite teilte ihm mit fröhlicher Stimme mit, dass Frank Nickel eine Reise durch die Türkei gewonnen hätte, wenn er die nachfolgende Nummer innerhalb von zwei Tagen wählen würde. Er griente: schon wieder verpasst.

Dann die Sekretärin der Firma Plenk, mit der er vor seiner Abreise Kontakt aufgenommen hatte. Nur die Sekretärin. Kein gutes Zeichen.

Das vierte ließ ihn fast an dem Whisky ersticken. Er erstarrte. Seine Hand umklammerte das Glas. Mit der anderen schlug er panisch auf den Wiederholknopf. Erneut drang Carolas aufgeregte Stimme in sein Gehirn: “Frank, stell dir vor, ich weiß, wer Frank Nickel ist. Ich hab´s eilig. Ruf dich wieder an.”

Mit beiden Händen stützte er sich auf den Schreibtisch, um das Ohr näher an das Gerät zu halten. Noch drei Mal ließ er die Botschaft ablaufen.: “Frank, stell dir vor, ich weiß wer Frank Nickel ist. Ich hab´s eilig. Ruf dich wieder an.”

Die Daten- und Zeitansage des Beantworters hatte er nie aktiviert. Erst die nächste Nachricht eines Bekannten, der den Tag seines Anrufs nannte, machte klar, dass Carola einen Tag nach Franks Abreise und zwei Tage vor ihrem Tod angerufen hatte.

Die letzten Anrufe wirkte wie ein Zeitraffer der Tragödie. Zunächst Jan, stotternd, aufgelöst, mit der Mitteilung, Carola sei bei Hannover ermordet. Dann Gabi, seine Frau, die betont gefasst ergänzte, Jan würde versuchen, ihn in New York zu erreichen. Als sie weitersprechen wollte, versank ihr Stimme in Tränen. Sie hängte auf. Dann die Hannoversche Polizei, die durch Franks Münchener Büro von seiner Reise erfahren hatte und einen Rückruf erbat. Schließlich erneut die Polizei, die für Übermorgen ihren Besuch ankündigte.

Frank saß wie betäubt im Schreibtischsessel und starrte blind auf das Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Ein Geschenk Carolas zu seinem Fünfzigsten. Er sah sie als sei es gestern gewesen. In einem seiner weißen Oberhemden und Jeans stand sie strahlend in der Soho Galerie vor dem Pollok nachempfundenem Bild. Er hatte gelächelt, ahnend, dass es ein Geschenk werden würde.

Dass sie ermordet war, wusste er seit Jans verzweifeltem Anruf in New York vor zwei Tagen. Doch dass sie ihm kurz davor diese Ungeheuerlichkeit mitteilen wollte, ließ ihn nach Luft japsen. Sein Körper fühlte sich an wie einzementiert.

Nach wenigen Minuten erwachte er aus der Erstarrung und griff zum Telefon Seine Ankunftszeit in Riem hatte er verheimlicht, um nicht abgeholt zu werden. Zunächst rief er die Hannoversche Polizei unter der angegebenen Nummer an und machte einen späten Termin für den übernächsten Tag aus. Dann rief er Jan an.

Gabi war am Apparat. Er liebte den britisch gefärbten Akzent ihrer heiseren Stimme, wenn sie Deutsch sprach. Es war ein amüsantes Spiel, wenn sie miteinander redeten und zwischen Amerikanisch beziehungsweise Englisch und Deutsch hin und her pendelten. Doch nun war ihre Stimme nur rau, gebrochen, aber gefasst. “Gut, dass du da bist. Ich komm im Augenblick zu Jan nicht durch. Er drückt sich, verkriecht sich in sich.”

“Bitte, versuch ihn zu überzeugen, übermorgen hierher zu kommen. Die Polizei hätte uns gerne zusammen gesprochen. Wohl um Zeit für einen Münchenbummel zu gewinnen. Auch ich muss euch sehen. Oder soll ich Morgen vorbei kommen”

“Nein, lass Jan etwas Zeit. Erwarten die, dass ich mitkomme?”

“Nein, das nicht.”

“Gut, dann fahre ich Jan nur. Bis gleich.”

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Der Ältere stellte sich vor als Kommissar Krassner, war klein mit rundem, freundlichem Gesicht und der Figur eines Judokämpfers. Der Jüngere schlank, blond und arrogant mit vor Neugierde hervorspringenden braunen Augen, nannte zwar seinen Namen, doch Frank vergaß ihn im selben Augenblick.

Frank stellte seinen Sohn Jan vor und bat die Polizisten ins Wohnzimmer.

Der Ältere kondolierte während der Jüngere aufmerksam die Bilder an den Wänden beäugte. “Sind das alles amerikanische Maler?”, fragte er unerwartet.

“Ja, dort kenne ich eine Galeristin, die mich berät. Hier nicht.”

“Wie lange sind Sie in Deutschland?”, nahm der Ältere das Gespräch in die Hand.

“Ziemlich genau sieben Jahre. Mit längeren Unterbrechungen. Die Zentrale meines Geschäfts ist in New York, und ich bin gewöhnlich mehrere Monate im Jahr dort. Mein Partner leitet dort die Geschäfte, während ich für Deutschland und Frankreich zuständig bin. Wir machen Marktforschung für amerikanische Firmen. Inzwischen auch für deutsche Firmen in Amerika“.

“Und vorgestern kamen Sie aus New York?” Die Frage war eher eine Feststellung.

Frank nickte und wartete.

“Sie sprechen akzentfrei Deutsch. Haben Sie es hier gelernt?”

“Nein, darauf kann ich nicht stolz sein. Wir sind 1941 aus Deutschland geflüchtet.”

“Wir?”

“Carola und ich mit Jan. Er war drei. Das ist aber alles lange her.”

Der Polizist nickte. “Und Sie, wandte er sich an Jan. “Wie lange sind Sie in Deutschland?”

Jan antwortete erschöpft. Sein Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen, die geschwollenen grauen Augen übermüdet. Das schwarze, säuberlich gescheitelte Haar wirkte ungewaschen. “Etwas kürzer. Fünf Jahre. Seit 1970. Ich arbeite beim Deutschen Analyse und Beratungsinstitut, dem DABI in Ottobrunn. Das liegt kurz vor München. Wir beraten verschiedene Bonner Ministerien.”

“Welche?”

“Ist das wichtig? Gleichgültig schaute er den Polizisten an. “Nun, unter anderem das Verteidigungsministerium.”

“Als Amerikaner?”, fragte der Jüngere überrascht.

“Ja, als Amerikaner. Wie Sie vielleicht wissen sind wir befreundete Nationen und beide in der NATO“, schoss Jan verärgert zurück.

Der Polizist lächelte und nickte.

Der Ältere wandte sich wieder an Frank. “Wann haben Sie ihre Frau, Ihre Exfrau, zuletzt gesehen?”.

Frank zögerte. “Vor etwa einem halbem Jahr. Ich hatte in Hamburg zu tun und habe Ruth mit ihrem Mann Horst zum Essen eingeladen”

“Kennen Sie Herrn Rothmann gut?”

“Gut ist übertrieben. Seit der Hochzeit haben wir uns einige Male getroffen.”

“Und Sie?”, wandte er sich an Jan. “Wann haben Sie ihre Mutter zuletzt gesehen?”

“Vor ziemlich genau vier Wochen. In Bonn. Carola machte eine lächerliche Recherche für den Spiegel über die Innenausstattung der Ministerbüros. Sie ist Photographin und schreibt auch. Und ich hatte in Bonn zu tun.”

“Trafen Sie Ihre Mutter oft? Nach der Scheidung.”

“Im Vergleich zu meinem Vater, sicherlich.”

Beide Polizisten schauten Frank an, der zustimmend nickte.

“Ihr Sohn nennt sie Carola. Sie nannte sich aber Ruth, Ruth Rothmann“, sagte der Jüngere.

“Ja, sowohl Ruth wie auch Carola,” antwortete Frank. “Nach der Scheidung besann sie sich auf ihren zweiten Vornamen, den sie als Mädchen manchmal verwendete. Sie wollte wohl einfach in eine andere Haut schlüpfen. Als wir auf der Flucht aus Deutschland waren und in Amerika lebten war sie Carola, jetzt wieder in Deutschland wollte sie, vermute ich, einfach an ihre Kindheit anschließen. Ich konnte das verstehen.”

Es trat eine Pause ein im Frage- Antwortspiel. Interessiert blickten die Polizisten sich im Zimmer um.

Der Ältere stellte die protokollarisch erforderlichen Fragen: “Können Sie sich vorstellen, wer sie hätte ermorden wollen? Hatte sie Feinde, Neider, alte Rechnungen?”

Frank und Jan verneinten beide kopfschüttelnd.

“Und wo waren Sie, Herr Nickel, als sie starb?”, fragte er Jan.

“Das kann ich Ihnen sagen, wenn sie mir verraten, wann genau sie starb.”

“Wohl am späten Abend. So zwischen 21 und 24 Uhr am Mittwoch vor fünf Tagen.”

“Bis zum Abend, sicherlich sieben Uhr, war ich im Job in Ottobrunn . Sie können den Pförtner fragen. Dann zu Hause. Meine Frau wird das bestätigen.”

“Und Sie?”, wandte er sich an Frank. “Ich weiß, in New York. Aber gibt es jemanden, der bestätigen kann, dass Sie die ganze Zeit dort waren?”

Frank lächelte nachsichtig und nannte mehrere Personen, mit denen er während seines Aufenthalts zu tun hatte.

“Wir werden das überprüfen.”

“Ja, natürlich. Die Adressen und Telefonnummern kann ich Ihnen geben”

“Nur noch eine Frage“, beendete der Ältere das Gespräch. “Kennen Sie einen Emil Beckmann.?”

“Nein, wer soll das sein?”

“Ein Künstler, den Frau Rothmann kurz vor ihrem Tod in Berlin für den Spiegel interviewt hat. Und Thomas Edelmann?”

Frank stellte die gleiche Frage.

“Ihr nächster geplanter Interviewtermin in Hannover. Davor hat sie ihr Mörder erwischt. Der Name sagt ihnen wirklich nichts?”

“Nein, nicht im geringsten. Sollte er? “

“Nein, nicht unbedingt.”

Wenige Minuten später verabschiedeten sie sich.

Möglichst dicht an der Wahrheit

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