Читать книгу Möglichst dicht an der Wahrheit - Klaus Wickel - Страница 5
II
ОглавлениеNach Ruths Beerdigung auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf gingen sie zu viert schweigend den langen Weg durch die Friedhofanlage zum Ausgang. Gabi hatte sich bei Horst eingehakt.
Verstohlen hatte Frank sie während der Beisetzung am Grab beobachtet. Obwohl Jan mit schmerzverzerrtem Gesicht am Grab seiner Mutter stand, hatte sie sich schützend fest an Horst geschmiegt, der wie betäubt der Zeremonie beiwohnte. Die Spuren ihres eigenen Kummers zeigten sich deutlich in ihrem Gesicht. Wie Frank verbarg sie die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille. Frank wusste, dass Gabi nach ihrer Rückkehr aus England 1972 und der Anstellung beim Spiegel in Ruth eine enge Freundin gefunden hatte.
Langsam ließ er seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden streichen. Außer Horst kannte Frank fast niemanden. Nur Johanna, seine Sekretärin, die sich mit Carola befreundet hatte. Und einen deutschen Geschäftspartner, mit dem er einige Male in München ein Bier getrunken hatte, als er noch mit Carola verheiratet war. Frank hatte keine Traueranzeigen verschickt; er musste die Anzeige in der Zeitung gesehen haben. Innerlich notierte Frank, sich bei ihm zu bedanken. Die anderen Trauergäste waren wohl Ruths Kollegen vom Spiegel oder Freunde und Verwandte von Horst.
Der vertraute Todesreflex stellte sich ein, in jeder Gruppe Grauhaariger ehemalige Nazis, SS, Gestapo zu suchen. Hier kamen jedoch nur der Redner des Beerdigungsinstituts, Horst und drei ältere Herren aus dessen Verwandtschaft in Frage. Frank schämte sich. Carolas Mörder, das wusste er, war nicht dabei.
Als sich Frank am Ausgang von Horst verabschiedete, sagte der schlicht: “Ich habe Ruth nie gekannt.”
Frank schaute ihn einen Augenblick an als suche er eine passende Antwort “Nein, Ruth habe auch ich nicht ganz gekannt.”
“Wieso du? Ihr wart doch seit frühster Jugend zusammen. War es so schwer, sie zu verstehen, deine Carola, meine Ruth?”
Frank zögerte verunsichert. “Carola nicht, Ruth ja.”
Horst traurige, etwas hervorstehenden Augen verengten sich. Verletzt fragte er “Was soll das heißen?” Dann hielt er inne. Nachdenklich sprach er weiter: “Vielleicht war es so. Mit dem Namenswechsel hat sie sich gehäutet, ihre Vergangenheit abgelegt. Den harmlosesten Fragen wich sie aus als fürchte sie sich. Ich bin sicher, sie wollte etwas vergessen. Etwas aus ihrem Leben mit dir vielleicht?” Er schaute Frank prüfend an “Von dir werde ich wohl nie erfahren, was sie mir verschwiegen hat. Obwohl ich sicher bin, dass es etwas mit ihrem Tod zu tun hat. Mein Gott, vier Jahre liebe ich eine Frau und lebe mit ihr zusammen, und doch weiß ich nur die banalsten Fakten.” Fast flehentlich schaute er Frank in die Augen: “Warum hat sie dich denn verlassen? Nach mehr als einem halben Leben geht man doch nicht so einfach auseinander.”
Es dauerte eine Ewigkeit bis Frank antwortete: “Es stimmt Horst. Sie hat viel Gepäck aus der Vergangenheit mit sich rumgeschleppt. Ich gehörte auch dazu. Deshalb hat sie mich verlassen. In der Hoffnung, Ballast abzuwerfen. Leider hat sie es wohl nie ganz geschafft. Ich glaube aber, sie war glücklich bei dir. Ich wünsche es ihr. Und dir. Ihr Tod hat vermutlich etwas mit ihrer Arbeit als Journalistin zu tun. Die Polizei wird es herausfinden.”
Frank schaute an Horst vorbei zu den beiden Männern in Lederjacken. “Im Augenblick scheint sich die Polizei hauptsächlich für uns zu interessieren. Der eine hat uns in München aufgesucht.”
Horst schaute sich desinteressiert um. “ Ja, gehört wohl zur Routine. Sie waren schon zwei Mal bei mir. Ich glaube, sie tappen noch vollkommen im Dunkeln. Wie ich.”
Beide sahen sich schweigend an. Gabi unterbrach die Stille und flüsterte, während sie Horst fest umarmte: “Es tut mir unendlich Leid. Ruth war ein wunderbarer Mensch.” Dann drehte sie sich entschlossen um und ging zum Ausgang.
Befremdet sah Jan, wie sein Vater fast zärtlich beide Hände auf Horst Schultern legte: “Wir kennen uns leider kaum, aber Ruth war glücklich bei dir. Das freut mich. Meine Carola bei mir weniger. Wir müssen jetzt gehen, aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, bitte, ruf mich an. Es ist nicht weit von Hamburg nach München.”
Jan, der daneben stand, nahm Horst Hand kurz in seine beiden und ging ohne ein Wort.
Als Frank sich umschaute standen mehrere Angehörige an Horst Seite.
----------
“Was sollte das Theater?”, fragte Jan auf dem Rückflug nach München. Gabi saß zwei Reihen hinter ihnen. Sie wollte weder bei Frank noch bei Jan sitzen. “Beerdigungsgerechte Empathiedemo?
“Wieso?”
“Dein herablassendes Getue. Ich weiß, dass du nicht zusammengebrochen bist, als Carola uns verließ. OK, so innig wart ihr nicht, das habe ich natürlich lange gewusst. Aber verdammt, ihr wart ein Leben lang zusammen. Und vor allem, sie war meine Mutter, das hast du wohl ganz vergessen. Und nun ist sie tot, ermordet und du spielst den gütigen Weisen.”
“Wie meinst du das? Kannst du dich bitte etwas präziser ausdrücken?”
“Ich rede von den sphinxischen Sätzen, die du dem armen Kerl zum Knabbern hingeworfen hast. `Carola kannte ich, Ruth nicht´ Ich fand`s ziemlich schäbig. Du hast ihm zu verstehen gegeben, dass nur du sie wirklich kanntest. Er muss sich wie ein armseliger Trottel vorkommen, der eine Frau verloren hat, die ihr wahres Leben nur mit seinem Vorgänger geteilt hat.”
Frank, der am Fensterplatz vor sich hingestarrt hatte, dreht sich seinem Sohn zu. “Hast du das so empfunden? Sicherlich hast du Recht. Verletzen wollte ich ihn bestimmt nicht. Du hast recht: Er konnte es nicht verstehen. Du auch nicht. Es war dumm von mir. Immer denkt man bei solchen Anlässen, etwas sagen zu müssen. Und immer ist es banal, sogar verletzend.”
“Das scheint deinem Naturell zu entspringen.”
Betroffen schaute Frank ihn an: “Wieso? Was meinst du?”.
“Ach Frank, so geht es doch seit ich denken kann: Banal oder verletzend. Bestenfalls missverständlich. Entweder antwortest du auf persönliche Fragen mit inhaltsleeren Trivialitäten oder du fegst sie als unreif oder verfrüht beiseite.”
Ärger, Verletztheit und Sorge huschten über Franks Gesichtszüge. Jan kannte die rasche Abfolge von Gefühlen, die sich in Franks Gesicht spiegelten wenn er sich unerwartet einer Attacke ausgesetzt sah. Oft hatte er sich gefragt, wie es sein Vater schaffte, als Geschäftsmann erfolgreich zu sein. Als er mit Gabi darüber sprach, stellte sie nachdenklich fest: “Zu viele Ängste hat er reingefressen die dann unkontrolliert an die Oberfläche drängen.”
“Ich bin überrascht wie du mich siehst. Welchen Fragen zum Beispiel weiche ich aus?. Ich habe doch immer versucht, dir offen zu antworten.”
Jan schnaufte verächtlich. “Immer versucht, offen zu antworten. Das hast du nie, wenn es um mehr ging als um nüchterne Fakten: Daten, Schauplätze, Situationen, alles Äußerlichkeiten. Alles scheinbar offen und durchsichtig wie in einem curiculum vitae. Sogar was du verdienst und deine kleinen Steuergeheimnisse hast du mir anvertraut. Aber wenn du mit Mom nachts im Wohnzimmer erregt geredet und gestritten hast über Ereignisse und Menschen von früher, dann beschlich mich das Gefühl, unerwünscht und ausgeschlossen zu sein. Ich hatte Fragen, die ich nicht formulieren konnte. Ängste, die ich nicht wahrhaben wollte. Wie wohl auch Horst mit seiner Ruth.”
Frank richtete seinen Blick kurz aus dem Fenster auf die langsam vorbeigleitenden Wolken tief unten. “Was für Fragen, zum Beispiel?”, wiederholte er ohne sich Jan zuzuwenden.
“Zum Beispiel die Frage: Ist Carola meine Mutter?”
Schon lange hatte Frank diese Frage befürchtet.
--------------------------
Es war Carola, die vor vielen Jahren in New York die ersten Anzeichen registriert hatte. Sie war abends mit offenem schwarzen Haar über dem gelben Kimono zu Frank ins Arbeitszimmer getreten mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Erstaunen und Sorge changierte. “Stell dir vor, Jan ist wieder aufgestanden und hat sich leise hinter mich gestellt, als ich mich abschminkte. Als ich fragte, ob er nicht schlafen könne, hat er nicht geantwortet und sich einfach neben mich auf den Stuhl gequetscht.”
“Ihm fehlten wohl seine nächtlichen Streicheleinheiten. Eigentlich ist er noch zu jung um mich eifersüchtig zu machen“, hatte Frank gescherzt.
“Blödsinn“, erwiderte sie mit gespielter Strenge. „Nein, er hat nur sein Gesicht dicht an meines gedrückt, Wange an Wange.”
“Sagte ich doch.”
“Das war kein Zärtlichkeitsbedürfnis. Sein Gesicht war ganz ernst und ruhig. Nein, er wollte unsere Gesichter im Schminkspiegel vergleichen.”
“Und?”
“Und gar nichts. Er hat unsere Spiegelbilder lange aufmerksam und nachdenklich studiert, hat dann geseufzt und ist wortlos aus dem Zimmer gegangen.”
“Und du glaubst.....?”
“Ich weiß nicht. Er wollte eindeutig etwas feststellen. Wir waren uns, obwohl so dicht, sehr fern.”
Sie einigten sich auf den Satz: “Es war sicherlich nur der Wunsch nach Nähe durch Ähnlichkeit.“. Doch zwischen zehn und zwölf häuften sich die Fälle, in denen Jan nachdenklich Carola mit prüfenden Blicken eines Erwachsenen beobachtete oder alte Familienfotos auf seinem Bett ausbreitete. “Wieso gibt es keine älteren Fotos?”, fragte er Frank einmal aus heiterem Himmel.
“Du weißt doch, wir haben alle auf der Flucht zurückgelassen oder verloren. Es ist traurig, weil Carola auch als junges Mädchen schon sehr sehr schön war.”
“Nur das aus Lissabon?”
“Ja, leider. Da hatten wir das Schlimmste hinter uns. Es hat ein alter Fotograf mit einer uralten riesigen Kamera ein paar Stunden vor unserer Abfahrt am Pier aufgenommen. Immer wieder hat er uns aufgefordert, dich zum Lachen zu bringen doch du konntest mit seinen Rufen “Smile, smile boy, your gong to America” nichts anfangen. Aber für uns war es natürlich der schönste Augenblick seit Jahren.”
Mit 12 trat Jan den Pfadfindern bei, und es wurde eine Blutgruppenbestimmung vorgenommen für alle Fälle. Dazu hatte er zuvor eine Unterschrift von Carola eingeholt, so dass sie vorgewarnt war. “Was für eine Blutgruppe hast du?”, kam prompt eine Woche später die Frage. Jan kannte sich genau aus in der Vererbungslehre, die sie ausführlich in der Schule durchgenommen hatten. “Ich habe keine Ahnung, aber natürlich deine“, konnte sie ausweichend antworten.
Und nun war die so lange erwartete Frage ausgesprochen. Trotz der Vorwarnzeit hatte Frank keine vorbereitete Antwort. Spontan erwiderte er: “Ja, Carola ist deine Mutter. Ich habe sie niemals betrogen”
Jan schaute seinen Vater einen Augenblick skeptisch an. Dann nickte er und wandte sich wieder der Zeitung zu.
In Riem trennten sie sich fast wortlos. Frank schlug vor, sie nach Hause zu fahren, doch sie bestanden darauf, ein Taxi zu nehmen. Während der Fahrt auf der kurzen Autobahnstrecke nach München schoss Carolas letzter Satz auf dem Anrufbeantworter wie Störfeuer durch die Erinnerungen an den Tag: `Ich weiß wer Frank Nickel ist.´
Er musste mit Jan reden, entschied Frank. Bald. Sehr bald. Sobald er Gewissheit hatte.