Читать книгу Möglichst dicht an der Wahrheit - Klaus Wickel - Страница 7
IV
Оглавление„Wie war´s in Paris?“, fragte Jan zwei Tage später während er Frank ins Wohnzimmer folgte.
„Gut, sehr gut sogar. Ich glaube jemanden gefunden zu haben, der den Grundstein einer Niederlassung legen kann. Jung, Wirtschaftler mit einigen Jahren Erfahrung bei einer kleinen Marktforschungsfirma und perfekt in Deutsch, Englisch und natürlich Französisch. Ich glaube, genau der richtige Mann.“
„Schön. Wirst du dir dort auch ein Apartement nehmen bis alles läuft?“
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich. Aber das hat Zeit.“
Jan ließ sich in seinem gewohnten Sessel fallen.
„Nein, steh auf„, befahl Frank. „Du hast bestimmt noch nichts gegessen. Ich hab in der Küche ein Paar Snacks bereitgestellt.“
Jan nahm die Aufforderung gerne an. Er war direkt von der Arbeit gekommen und hatte nicht einmal Mittag gegessen. „Im Augeblick geht es bei uns hoch her. Das Verteidigungsministerium stellt gerade die Daten für den nächsten Fünfjahresplan zusammen. Schieben, stecken, streichen bei Beschaffungen, Unrüstungen, Kampfwertsteigerung bei vorhandenen Systemen und Reorganisation sind - wieder einmal - die Schlagwörter. Jeder ist dafür, doch bitte sehr, nur bei der anderen Teilstreitkraft. Dadurch entsteht jede Menge Arbeit für uns zu bewerten und optimieren zwischen den Parteien. Irgendwie muss am Ende alles zusammenpassen und bezahlbar bleiben.“
Frank nickte ermunternd. Obwohl er schon in New York nicht viel von Jans Arbeit für das Pentagon verstand und jetzt noch weniger von seiner Beratertätigkeit für das Bonner Verteidigungsministeriums, billigte er sie. Er war kein Pazifist. Einen Hitler konnte man nicht mit Wahlen oder Protesten verhindern. Auch nicht mit intelligenten und kämpferischen Artikeln. Das hatte Frank als junger Mensch zur Genüge erfolglos versucht. Mit friedensstiftenden Verhandlungen ließen sich die Hitlers und Stalins dieser Welt nicht eindämmen, sondern nur mit militärischer Stärke. Insbesondere die Sowjets schreckten vor nichts zurück außer der Stärke.
Als Frank von deutschen Freunden - streng vertraulich - erfuhr, dass das deutsche Verteidigungsministerium etwas Chices wie McNamaras US-Think Tank bei München aufbauen wollte und händeringend nach Experten suchte, hatte er sofort Jan informiert. Und das Pentagon war mehr als erfreut , durch ihn frühzeitige Einblicke in die deutsche Verteidigungs- und Rüstungsplanung zu gewinnen. Jan wurde von seiner Firma sofort freigestellt. Und Frank hatte seinen Sohn wieder in seiner Nähe
Lachsbrötchen in der Hand, blockte Jan am Küchentisch Franks höfliche Frage nach Gabis Befinden ab.
„Halt, halt, Frank. Ich habe einen langen Tag hinter mir und wäre heute nicht gekommen, wenn du es nicht so dringlich gemacht hättest. Also, um es kurz zu machen: Gabi und dem Kleinen geht es gut. Also?“
Frank seufzte. „Du hast Recht. Ich schwatze, weil ich mich drücken möchte. Komm, nimm noch ein Brötchen und dein Glas mit ins Arbeitszimmer. Ich muss dir etwas vorspielen.“
Jan setzte sich mit seinem Teller auf die Ledercouch gegenüber von Franks Schreibtisch.
„Einen Augenblick, ich muss das Band wechseln“ Frank öffnete den Anrufbeantworter, nahm das Band heraus und ersetzte es durch eines aus seinem Schreibtischfach.
„OK, Jan, was jetzt los geht wird uns noch viele Tage beschäftigen und dir sicherlich schwer zu schaffen machen. Von mir will ich gar nicht reden. Es sind Carolas letzten Sätze an mich.“
Er schaltet den Beantworter ein: „Frank, stell dir vor, ich weiß wer Frank Nickel ist. Ich hab´s eilig. Ruf dich wieder an”
Jan sprang mit aufgerissenen Augen auf. Der kleine Glastisch vor ihm krachte um, sein Weinglas zersplitterte auf dem Parkett. „Was war denn das?“, schrie er unkontrolliert. „Was soll das? Was machst du? Was ist das?“
„Setz dich„, befahl Frank streng. „Setz dich und hör´s noch einmal an.“ Er drückte auf die Wiederholtaste. `Frank, stell dir vor, ich weiß, wer Frank Nickel ist. Ich hab´s eilig. Ruf dich wieder an´
Jan war zurückgefallen auf die Couch und starrte Frank sprachlos an. Er flüsterte: „Seid ihr Verrückte, seid ihr meschugge. Was soll dieser Wahnsinn?“
Statt zu antworten richtete Frank betont ruhig den Tisch wieder auf und schob die Glasscherben mit dem Fuß beiseite.
Jan saß wie betäubt und schaute ihm zu. Als Frank mit neuen Gläsern und einer Rotweinflasche wieder in den Raum trat, hatte sich Jan nicht bewegt. Erstarrt beobachtete er Franks Handhabungen mit den Gläsern und der Flasche. Franks Aufforderung: „Trink was„, folgte er automatisch.
Plötzlich schüttelte er sich wie ein Hund und schaute Frank mit wachen feindseligen Blicken an: “OK, sie weiß, wer Frank Nickel ist. Das hatte auch ich bis soeben geglaubt.“ Er lachte hart auf: „Ich gratuliere. Ein wirklich gelungenes Ratespiel: Es kann bedeuten, dass du Frank Nickel nicht bist, sondern ein anderer. Oder, dass der andere der wahre Frank Nickel ist und du ein Doppelgänger. Oder, dass er ein Doppelgänger ist und du der leibhaftige Frank Nickel bist. Oder, und das ist das Naheliegendste, dass ihr beide, Carola und du, vollkommen verrückt seid.“
“Gut analysiert„, erwiderte Frank nüchtern. “Nur die vierte Alternative, dass wir verrückt sind, stimmt. Die stimmt auf jeden Fall. Verrückt, weil wir die Toten nicht tot sein lassen. „
Jan hatte sich inzwischen gefangen. Er nahm einen Schluck Rotwein, blickte an die Zimmerdecke und erklärte dann: “Gut inszeniert. Die Ouvertüre war perfekt. Also, wie geht’s weiter?„
“Mit einer langen Geschichte. Eine, die du von uns bisher nur an der geglätteten Oberfläche kennst. Die aber viele verkeilte und gebrochene Schichten darunter verbirgt.„
“Gut, es ist deine Show. Also Meister: Warum sagt meine Mutter, sie wüsste wer Frank Nickel ist? Und vor allem: Was hat das mit ihrem Mord zu tun?”
Die Sätze, die Frank sich auf dem Rückflug aus Paris zurecht gelegt hatte verstummten, zugeschüttet unter einer Gerölllawine aus Erinnerungen, Empfindungen und Ängsten. Sein Herz raste beim Gedanken an sein Vorhaben. Wie, und vor allem, warum, sollte er die Geröllhalde umladen auf Jans Schultern? Die Frage hatte er sich oft in den letzten Jahren gestellt und längst als rhetorisch entlarvt. Die Antwort war eindeutig: Weil es um Jans Existenz und um die Wahrheit ging. Weil sich bei Jan zu viele Ungereimtheiten und Widersprüche im Leben seiner Eltern angehäuft hatten. Und nun weil es um Mord, Vergeltung, Gerechtigkeit ging.
Jan stand auf und stellte sich vor seinen Vater. Einen halben Kopf größer und breitschultrig schaute er ihn forschend an: “Es waren die letzten Sätze, die sie an dich richtete. Und sie klingen nicht sehr erfreut . Nicht wie die Ankündigung eines glücklichen Klassentreffen mit einem Namensvetter. Was zum Teufel steckt dahinter?”
Frank rang um Zeit: “Ich werde dir alles erzählen. Alles. Glaubst du, ich hätte sonst das Band aufgehoben?. Setz dich wieder, gib mir einen Augenblick Zeit, bevor ich anfange. Es fällt mir nicht leicht. Und stell dich darauf ein, dass wir heute nicht weit kommen. Ich bin müde. Sehr müde.” Er schaute auf den kleinen Glastisch. “Zuhause, in New York, würde ich einen Whisky vorschlagen zur Einstimmung. Hier passt das irgendwie nicht. Bleiben wir beim Roten. Er passt besser zu Europa. Bleiben wir beim Wein..“
Jan warf seinen Kopf mit einem winzigen Ruck zu Seite wie gewöhnlich, wenn er verärgert war, ohne sich äußern zu wollen. Wortlos ließ er sich wieder auf die Couch fallen.
“Ich verschinde mal,” sagte Frank und verschwand im Bad.
Als er wieder ins Zimmer trat hatte sich Jans Wut aufgeladen: “Verdammt Frank, du hast diese Mitteilung die ganze Zeit aufbewahrt, um sie jetzt wie ein Zauberer aus dem Hut zu ziehen.? Was bedeutet dieser Spruch, den sie dir eilig und aufgeregt zurief? Warum hast du ihn nicht einfach gelöscht, wenn es die Polizei nicht erfahren soll? Kann er helfen, Carloas Mörder zu finden? Verdammt, warum das große Geheimnis?”
Unbeteiligt schaute Frank seinen aufgebrachten Sohn an. Wie amerikanisch er doch war, dieser aus Washington importierte kalte Krieger mit seinem BMW, seinem Haus in Ottobrunn, seinem Labrador Hund, seinem dicklichen dreijährigen Sohn David und seiner schönen, intelligenten englischen Frau mit ihrem glänzendem dunklen Haar und kritischem Blick. Frank fühlte sich alt. Alt, weil er den Morast der Vergangenheit aufwühlen musste. Alt, weil er sich nie hatte aus ihm befreien können. Alt weil er nun als Fossil allein mit der Wahrheit übrig geblieben war und alt, weil er seine letzte offene Rechnung noch nicht beglichen hatte. Nicht einmal die, Jan alles zu berichten.
“Hab bitte etwas Geduld mit mir“, begann Frank betont ruhig. “Du wirst alles erfahren und, so hoffe ich, manches verzeihen. Aber dazu muss ich ein wenig ausholen. Du weißt, dass ich Carola seit meinem Abi- Abschlussball kenne. Aber du weißt nichts von Felix, meinem besten Schulfreund, der für die weitere Geschichte wichtig ist. Also hör deinem alten Vater einfach zu.”
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Felix, Felix Mannheim, war in den beiden letzten Klassen vor dem Abitur mein bester Freund. Das war 1928-30 in Berlin. Eine Zeit im Umbruch, aber das weißt du zur Genüge. Doch für Politik und dem Alttag der Menschen interessierten wir uns wenig. Für uns gab es nur zwei Themen: Abitur und Mädchen. Genauer gesagt: Mädchen und Abitur, in der Reihenfolge. Wir waren privilegiert. Mein Vater war, wie du weißt, Anwalt und meine Mutter erfolglose aber leidenschaftliche Malerin. Felix Vater war Herrenausstatter in Charlottenburg mit einem Laden über drei Etagen. Seine Mutter Opernliebhaberin und Mutter. Wagner. Felix war ein Jahr älter als ich, da er irgendwann sitzen geblieben war, was er allerdings niemals eingestand. Und größer als ich. Und verfügte über mehr Taschengeld als es mir mein strenger preußischer Vater zugestand. Doch, um ehrlich zu sein, hatten wir beide mehr als die meisten Schulkameraden. Genug um das zu tun, was jeder in dem Alter, der es sich leisten konnte, tat: Vor den Mädchen-Berufsschulen den schönsten nachjagen, sich immer wieder verlieben, Ausgehen mit Schönen mit und ohne Anstand, Ausgehen ohne Mädchen und saufen, ins Bordell gehen, die neuesten Film anschauen, Jazz Platten kaufen und fachmännisch kritisieren. Wir waren gute Freunde, haben uns nur zweimal geprügelt und gehasst, um Mädchen natürlich. Kurz, ein schönes Abiturientenleben
Der Tag des Abschlussballs läutete den Anfang vom Ende unserer Freundschaft ein. Buchstäblich. Der Ball fand in der Aula der Schule statt. Es war eine Jungenschule, wie damals üblich, und so musste jeder, wollte er teilnehmen, ein vorzeigbares Mädchen als Tanzdame auftreiben. Wohl als letzte Machtdemonstration des Rektors ließ er uns, dicht gedrängt, verlegen vor der verschlossenen Seitentür der Aula stehen bis einige Minuten vor dem offiziellen Beginn der Festlichkeit. Unsere Eltern hatte er schon zuvor mit Handkuss für die Damen am Haupteingang zur Halle empfangen. Und dann, als abschließende Erinnerung an die Reglementierung der vergangenen Jahre, wurde die Tür geöffnet unter dem Geläut der verhassten Pausenglocke. Erregt drängten wir herein. Erst dann bemerkte ich, nervös an Susis Seite, meiner Dame des Abends, dass Felix fehlte.
Als der Rektor seine Ansprache an die verehrten Eltern und erfolgreichen Jungmannen begonnen hatte, trat er, ruhigen Schrittes und erhobenen Hauptes, ein. An seinem Arm hing ein bezauberndes schwarzhaariges Wesen mit kurzem Rock und modernem Bubikopf. Ich hatte sie noch nie gesehen. Mein Gesichtsausdruck muss mich verraten haben, denn Susi gab mir einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienenbein.
Felix war von uns als eloquentester und weltmännischster auserkoren worden, die Antwortrede auf die verbalen Ergüsse des Rektors zu halten. Und so trat er, nach dem artigen Beifall auf seinen Vorredner, an den Rednerpult. Wir saßen gebannt und erwarteten von unserem Sprecher charmant verpackten bissigen Spott, unterschwellige Sticheleien, ironische Anspielungen auf die Schwächen und Gemeinheiten der Lehrer. Doch was folgte, waren scheinheilige Lobhudeleinen, verlogene Dankesworte und lächerliche Treuebekenntnisse zur Schule aus seinem Munde. Es war unerträglich. Peinlich. Einige meiner Kommilitonen schauten mich verwundert an, als sei ich mitschuldig an diesem Verrat.
“Das war wohl nicht, was ihr erwartet habt?” fragte mich Felix Dame als ich sie, ohne mehr als ein höfliches Nicken für Felix, um einen Tanz gebeten hatte.
“Es ist Ihnen aufgefallen?”
“Ja, natürlich. Bei meinen Brüdern fielen die Reden scharf und pfeffrig aus. Felix hat wohl Kreide gefressen. Ihr seid ganz schön sauer auf ihn, nicht wahr?”
Es stimmte. Alle mieden ihn während des Abends und beschränkten sich auf die Bitte um einen Tanz mit seiner Dame. Wie ich. “Sauer ist leicht untertrieben“ antwortete ich der Schönen. “Wir waren alle so gespannt auf die Gelegenheit, dem Schwein die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Ich verstehe Felix nicht. Verstehen Sie ihn?”, fragte ich und nutzte hastig die Vertrautheit der augenblicklichen Empörung um zu fragen: “Wie heißen Sie?”
Carola Salomon antwortete sie mit einem bezaubernden Lächeln als sei die Preisgabe ihres Namens ein Geschenk. Was es für mich tatsächlich war. Ich war verzaubert, berauscht von ihren schwarzen Augen im blassen Gesicht, dem knallrot geschminkten sinnlichen Mund mit den angedeutet spöttischen Mundwinkeln. “Er sagt, Sie sind sein bester Freund. Stimmt das?”
“Ja, aber nach heute...... Er ist sonst nie ein solcher Konformist und Kriecher.”
Sie schaute mich nachdenklich an, während sie sich zu einem Slow Fox führen ließ. Dann sagte sie nur: “Ich glaube, er ist ehrgeizig”
Als Felix in der erkennbaren Absicht, mit mir zu sprechen, auf uns zusteuerte, entschuldigte ich mich bei meiner Tanzpartnerin, um in der Toilette zu verschwinden.
Wie so häufig war ich auch an diesem Abend zu langsam. Plötzlich, während ich mich mit Freunden unterhielt, waren sie gegangen. Als ich fragte, ob jemand ihn gesehen hätte, war die einhellige Antwort “Nein. Gut so, den brauchen wir nicht wieder zu sehen.”
Das Erstaunliche ist, nachträglich betrachtet, dass ich ihn tatsächlich damals nicht wieder sah. Dafür aber Carola.
Ich war im fünften Semester Wirtschaftswissenschaften und arbeitete nebenbei beim `Vorwärts´ als Junge für alles. Eines Tages schall eine Frauenstimme quer durch den vollbesetzten Schreibsaal: “Frank, du bist es doch!?”
“Das lässt sich nicht leugnen“, wollte ich antworten während ich die Gesichter der etwa zehn Schreibdamen nach der Ruferin absuchte. Sie saß in der hintersten Tischreihe hinter ihrer Schreibmaschine und winkte mir mit beiden Armen strahlend zu. Unverändert schön.
Von da an trafen wir uns regelmäßig. Den Kontakt mit Felix hatte sie einige Zeit nach dem denkwürdigen Abschlussball abgebrochen. Er hatte, obwohl nur mäßiger Schüler, durch die Fürsprache des Rektors und unter Dehnung der Aufnahmebedingungen, ein Jurastudium begonnen. Und wurde sogleich in eine ehrwürdige schlagende Verbindung aufgenommen. Alle diese Details kannte Carola nur, weil ihr Vater, ebenfalls Herrenausstatter, Felix Vater kannte. Die beiden trafen sich nicht nur regelmäßig bei Verbandsversammlungen, sondern waren auch locker befreundet. Bei einem Treffen der Eltern hatte sie Felix kennengelernt. Als kurz nach dem Abi Felix Vater Pleite ging und Carolas Vater ihm eine Partnerschaft anbot, ist ihr Vater mit unflätigen, hasserfüllten antisemitischen Tiraden überhäuft worden. Er sei am Bankrott schuld, obwohl jeder wusste, dass Felix Vater Zocker war. Einige Jahre später wendete sich das Blatt. Carolas Vater wurde im Rahmen der antisemitischen Hetze gezwungen, das Geschäft für ein Butterbrot zu verkaufen. An Felix Vater.
Kurz vor Abschluss meines Studiums heirateten wir. Uns verband alles. Wir waren beide in der SPD. Wir hatten gemeinsame Freunde, hatten Angst und liebten das Leben, feierten alberne Feste und diskutierten über die Unvermeidbarkeit des Sozialismus. Als Kämpfer für die gerechte Sache begann ich meine hoffnungsvolle Laufbahn. Ich war Juniorredakteur für die Wirtschaftseiten des Vorwärts, schreib Artikel für Gewerkschaftszeitungen und beteiligte mich an politischen Aktionen der SPD. Nach Hitlers Machtergreifung schlug der Gegner zurück. Ich wurde verhaftet, dann kurzfristig entlassen, um anschließend in Schutzhaft genommen zu werden.
Carola arbeitete bis zur Zwangsschließung als Sekretärin bei linken Verlagen und büffelte abends Französisch und Englisch. Sicher fühlte sie sich nur noch im engsten Freundeskreis. Doch auch dort begann sie fragende Blicke zu bemerken, ob sie sich als Jüdin von den anderen unterscheide und warum sie denn noch nicht abgereist sei.
Zu meiner und ihrer großen Freude kam ich überraschend nach einigen Monaten Schutzhaft wieder frei und durfte mich sogar in Berlin frei bewegen sofern ich mich zweimal wöchentlich beim Polizeipräsidium meldete.
Doch dann, Ende 1936, erhielten wir eine anonyme Warnung, dass die Gestapo mich erneut zu einem Verhör vorladen wollte. Dass das das Ende bedeuten würde, war uns klar. Hinzu kam, dass Carola schwanger war. Ich will nicht behaupten, darüber sehr erfreut gewesen zu sein. Die Zeiten schrieen nicht unbedingt nach Familienglück und Kindersegen. Doch letztlich war es ein Segen, denn die Gewissheit zementierte unseren bis dahin schwankenden Entschluss, nach Frankreich zu flüchten. Als wir außerdem feststellten, dass unsere Wohnung von der Gestapo beobachtet wurde, mussten wir ihn sofort und unvorbereitet umsetzen. Nun, der Weg war schon vor uns vielfach begangen worden. Er führte zunächst bei Nacht über die zu der Zeit nicht sehr scharf kontrollierte Grenze in die Tchecheslowakei, wo sich bereits die Exilzentrale der SPD etabliert hatte.
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Frank unterbrach seine Erzählung abrupt und schaute Jan an. “Nun, von da an ist es auch deine Geschichte. Das Wesentliche weißt du ja. Es ging weiter nach Paris, dann, als die Deutschen gemeinerweise die uneinnehmbare Maginolinie einfach umfuhren, weiter nach Marseille. Und dann, über die Pyrenäen nach Portugal und New York. Vermutlich hängt dir die alte Geschichte zum Hals heraus, nicht wahr?”
Jan schüttelte schweigend den Kopf . “Dad, du bist ein Feigling. du hast dich nach Carolas Mord nicht geändert. Es ist wie immer, nur dass du dich dieses Mal hast hinreissen lassen, romantische Details in die alte Geschichte einzustreuen. Und dafür sollte ich kommen? Du sagst, du willst mir alles erzählen, und ich erfahre die umwerfende Neuigkeit, dass du als Abiturient einen Freund hattest. Toll! Und der Rest der Gesichte mündet wie immer in längst bekannte alte Kamellen.”
Frank war aufgestanden und schaute seinen Sohn bedrückt an: “Jan, Stop. Alles was du jetzt mir vorwirst, stimmt. Aber nur über diese etwas angereicherten alten Kamellen wirst du mich verstehen können. Ich habe etwas Angst dabei. Es gibt einen Zusammenhang dieser alten Kamellen mit Carolas Tod. Ich bin sicher.”
Jan starrte ihn sprachlos an: Dann brach es aus ihm heraus: “Du lebst in einem paranoiden Glashaus: Angst etwas zu sagen und Angst etwas zu verheimlichen.”
Frank lächelte müde: “Es stimmt: Ein paranoides Glashaus, in dem ich mich kaum traue, mich zu bewegen aus Angst vor den Scherben. Es tut mir Leid. Ich bin noch nicht so weit. Ein paar Tage brauche ich noch, um sicherer zu sein. Die Sache mit deinem komischen Nick Knatterton hat mich beunruhigt. Verleitet, übereilt zu sprechen.”
Jan stand ebenfalls auf. Verächtlich sagte er: “Nun, wenn der Herr Guru noch ein paar Tage in sich gegangen ist, wird er vielleicht seinen getreuen Schüler zu sich rufen. Zumindest kann ich als Ausbeute des heutigen Abends Gabi von der sensationellen Neuigkeit berichten, dass ihr Schwiegervater als Schüler einen Freund hatte, dem er die Freundin ausgespannt hat. Und dass du schmackhafte Sandwiches für diese Offenbarung spendiertst hast.”
Schweigend brachte Frank Jan zur Tür: “Ist Gabi noch beunruhigt wegen dieses Nick Knattertons?”
Jan stand im Flur und schaute Frank nachdenklich an. “Nein, nicht seinetwegen. Er scheint nicht besonders bedrohlich gewirkt zu haben. Beunruhigt ist sie von seinen Fragen. Von Marseille, von Lissabon. Komisch ist, dass sie mich, als wir uns kennerlernten, immer wieder gefragt hat, ob ich sicher bin, dass wir über Lissabon und nicht über Marseille abgefahren sind.” Plötzlich hilflos fragte er, “Wie soll ich da sicher sein. Mit drei Jahren hätte ich auch geglaubt, vom Mond abgefahren zu sein. Ich weiß doch alles nur von euch. Aber es stimmt doch, oder? Warum ist das so verdammt wichtig für sie?”
“Kein Ahnung. Ich habe nie mit Gabi darüber gesprochen. Sie war doch zu jener Zeit bereits in Sicherheit in England. Ihre Eltern sind in Frankreich von der Gestapo geschnappt worden. Singer hießen sie. Viel mehr weiß ich nicht.”
“ich auch nicht. In England hat ihre Tante ihr den eigenen Nachnamen `Spencer´ gegeben. War sicherlich angenehmer in der Schule. Wohl auch aus Angst, die Deutschen könnten den Sprung über den Kanal doch schaffen.”
“Vielleicht hofft sie, wir hätten ihre Eltern in Marseille oder Lissabon getroffen, falls sie überhaupt so weit gekommen sind. Soll ich mit ihr sprechen?.”
Jans Antwort kam spontan: “Um Gottes Willen, nur nicht. Bei deiner Informationspolitik fährt sie dir an die Gurgel. Sie ist nicht so geduldig wie ich.”
“OK, du hast Recht. Kein Wort bevor wir fertig sind. Bitte, gib mir eine Paar Tage. Ich brauche Gewissheit und rufe dich an.”
“Gut, aber dann nicht wieder lustige Jungendstreiche. Ich will wissen, warum Mom ermordet wurde. Und warum sie weiß, wer und was dieser verdammte Frank Nickel ist.”
“Ich auch.”