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1.3 Holistische Ansätze in den verschiedenen Wissenschaften

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Ganzheitliches Denken, Analysieren, Bewerten und Handeln ist für Projekte in der Finanz- und Wirtschaftswelt genauso wichtig wie in den Natur- und Technikwissenschaften. Dazu braucht es Fachwissen, die mentale Öffnung verschiedener Methoden der Kosten- und Zeitplanung sowie deren Kontrolle gleichwertig zu akzeptieren und möglichst ganzheitlich die verschiedenen Einflussparameter zu berücksichtigen. Sind es bei Finanzprojekten kleine Dezimalzahlen der Gewinnsteigerung und bei Bauprojekten große Zahlen im Millionenbereich, die im Kostenmanagement bearbeitet werden, so sind es immer die großen Chancen und Risiken, die ein Projekt zum Erfolg oder zum Scheitern bringen. In beiden Fällen des Chancen-Risiken-Managements werden Methoden der Statistik zur Prognose verwendet.

Die einfachen statistischen Verteilungsfunktionen, wie beispielsweise die Gauß’sche Normalverteilung oder auch komplexere statistische Verteilungsfunktionen sind aber kein Allheilmittel. Nur bestimmte Datenmengen können mit einer Normalverteilung abgebildet werden, und nur ab einer bestimmten Stichprobengröße können statistische Methoden Anwendung finden. Deshalb müssen beim Chancen-Risiken-Management je nach Projektart und Optimierungsziel verschiedene statistische Methoden gewählt werden.

Treten Ereignisse sehr selten auf und verursachen diese noch eine große Wirkung, dann können sie nicht mit den normal bekannten Methoden der Statistik behandelt werden. Solche Extremereignisse können in seltenen Fällen mit Extremwertverteilungen modelliert werden; in vielen Fällen können sie jedoch nur mit einem holistischen Denkansatz transparenter und mit phänomenologischen Methoden erfassbarer gemacht werden.

Der vielfach zitierte Ausdruck „You can’t manage, what you can’t measure“, zurückzuführen auf den Begründer der Managementlehre Peter Drucker (1909–2005), wurde vom Begründer des Qualitätsmanagements Edwards Deming (1900–1993) scharf entgegnet durch „Nothing becomes more important just because you can measure it. It becomes more measurable, that’s all.“. Deming zeigte in seinen Managementempfehlungen auf, dass die Verwendung von Kenngrößen ohne Berücksichtigung von unbekannten oder nicht quantifizierbaren Risiken zu den sieben schweren Fehlern (er sagte dazu „seven deadly diseases“) zählt.

Die letzte Finanzkrise (15. September 2008 mit dem Scheitern von zwei großen und traditionsreichen US-Investmentbanken bzw. mit Lehman Brothers die größte Firmenpleite der Geschichte) hat genau diese Schwachstellen aufgezeigt. Trotz Risikomanagement aber durch mangelnde Transparenz, unterschätzte „faule Kredite“ und überschätzte Chancen entstanden teilweise enorme finanzielle Schäden, hohe Verschuldungen und volkswirtschaftliche Haftungen. Sicher ist die Frage berechtigt, ob damals bei den Banken die Finanzrisiken systematisch klein gerechnet und die Kreditrisiken als zu wenig riskant eingestuft wurden (Handelsblatt vom 13.2.2012, „Aufseher und die Bilanzakrobaten“).

Heute müssen wir uns aber die gleiche Frage stellen: Hat sich die Welt an die Schulden gewöhnt? Die durchschnittliche Verschuldung der EU lag 2019 bei 86 % und die durchschnittliche weltweite Verschuldung bei 67 %. Nach der Finanzkrise im Jahre 2009 betrugen die weltweiten Schulden etwa 100 Billionen Euro bzw. das 2,1-fache der damaligen Wirtschaftsleistung. Ende 2019 war die globale Staatsverschuldung auf über 225 Billionen Euro angewachsen, das entspricht in etwa dem Dreifachen der Wirtschaftsleistung aller Staaten der Erde.

Die weltweite Gesamtverschuldung und die großen Schulden von Staaten in Fremdwährungen stellen auch wachsende weltwirtschaftliche Risiken dar. Wie gefährlich ist diese Entwicklung für die Weltwirtschaft? Laut dem internationalen Finanzinstitut IIF haben sich die Fremdwährungsschulden in den „Emerging Markets“ seit 2010 auf 2,7 Billionen Euro verdreifacht. Die Covid-19-Pandemie wird große und deutliche Spuren in der Weltwirtschaft hinterlassen. Nach der Covid-19-Krise werden die Arbeitslosigkeit und die armutsgetriebene Migration weltweit stark ansteigen.

Trotz unterstützender Maßnahmen der Zentralbanken brachen die Aktienkurse massiv ein. Die weltweite Tourismuswirtschaft und die damit verbundenen Wirtschaftszweige (Transport, Handel, Bauwesen etc.) rechnen mit herben Verlusten. Durch die aktive Unterstützung der Regierungen steigt die Staatsverschuldung noch weiter an.

Beunruhigend ist auch, dass der Anteil der Schwellenländer an der Leistung der Weltwirtschaft knapp 60 % ausmacht (ohne China etwa 40 %). Weiters entfallen etwa 75 % des Weltwirtschaftswachstums auf die „Emerging Markets“. Diese Länder sind solange stabil, wie das geliehene Kapital investiert und nicht konsumiert wird. Entscheidend ist dabei, dass die Weltwirtschaftsleistung steigt.

Aber kann die Weltwirtschaft mit einem begrenzten Lebensraum und begrenzten natürlichen Ressourcen immer wachsen? Vielleicht führt die Covid-19-Krise zu einem bewussteren Umgang mit den Ressourcen, zu einer neuen Arbeitsweise durch die Digitalisierung und damit zu einer verantwortlicheren Einstellung zum Lebensraum und zur Vergänglichkeit des Lebens.

Im Finanz- und Bankenbereich wurde durch das Einschreiten von Aufsichtsorganen zwar ein gewisses Monitoring erzielt und mit einem gezielten Risikomanagement begleitende Maßnahmen gesetzt. Damit konnte die Eigenkapitalausstattung verbessert, die Kernkapitalquote (Common Equity Tier, CET 1) erhöht, die Kreditvergabe begrenzt und eine angemessene Risikovorsorge geplant werden. Die Frage jedoch bleibt, ob mit Kennzahlen und statistischen Prognosen eine Risikokultur aufgebaut und die Sorgfalt erhöht werden kann. Genau in diesem Bereich muss mit Augenmaß und mit äußerst effizienten Verfahrensabläufen gearbeitet werden. Es zeigt sich nämlich, dass durch eine Erhöhung der internen und externen Kontrollen die Verwaltungsabläufe viel schwerfälliger und die Prozesse langsamer werden sowie durch eine Abnahme der Verantwortung und Zunahme der Angst genau das Gegenteil erreicht wird.

Die letzten 30 Jahre Bankenregulierung haben leider auch kaum was gebracht. Man hat in Europa mit den Regeln des „Basler Ausschusses für Bankenaufsicht“ versucht, das Risiko der Banken zu verringern. Die als Basel I im Jahre 1988, und Basel II im Jahre 2006 sowie die Regeln von Basel III im Jahre 2008 bekannt gewordenen Regulierungen hatten zwei Ziele:

 Die Banken sollten solider werden und

 es sollte gleiche Spielregeln für alle Banken weltweit geben.

Beide Ziele wurden nicht erreicht. Das zeigt auch eine Studie der Universität Wien [6]. Weder die Widerstandsfähigkeit gegen Pleiten noch die Ansteckungsgefahr anderer Institute im Falle einer Pleite, das sogenannte systemische Risiko, wurden verbessert. Das Risiko der größten europäischen Aktienbanken (20 % der größten Banken) hat sich seit 1988 laut Gehring und Iannino [7] stark vergrößert und ist bei den anderen Instituten im Wesentlichen unverändert geblieben. Offensichtlich haben die größten Banken jene Optionen, die ihnen die Risikomodelle als Möglichkeiten boten, verwendet und dadurch das ohnehin große systemische Risiko noch erhöht. Laut dieser Untersuchung sei in allen Banken, welche interne Risikomodelle benutzten, das systemische Risiko gestiegen. Nach Aussage der Autoren wird das Risiko vor allem durch Verhaltensänderungen getrieben, welche in einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zu den Basler Regelungen stehen.

Praktisch gesagt: Es wurden zwar Risikomanagement oder Kapitalerhöhungen angestrengt, jedoch Schwachstellen der Modelle ausgenutzt, und damit das systemische Risiko erhöht.

Regionale kleinere Banken wurden jedoch stabiler, haben faule Kredite abgebaut, das Eigenkapital erhöht und ein strukturiertes Risikomanagement eingeführt. Eine neue Gefahr könnte aber durch die folgende Wirtschaftskrise nach Covid-19 entstehen. Denn geraten viele Unternehmen durch die Krise in Zahlungsschwierigkeiten, so können sie ihre Kredite nicht mehr oder nicht mehr vollständig zurückzahlen. Die Banken müssten diese Kredite dann abschreiben.

Eine andere Chance ist die Digitalisierung der Bankengeschäfte. Jetzt sehen auch die konservativsten Banken, dass die Kunden ihre Finanzgeschäfte online abwickeln. Daher könnten nach der Covid-19-Krise viele Bankfilialen geschlossen und damit Bankangestellte arbeitslos werden.

Die Autoren Gehring und Iannino [7] weisen darauf hin, dass auch bei Versicherungsgesellschaften seit 1996 das systemische Risiko gestiegen ist. Der Basel-Prozess hat auch dazu geführt hat, dass extremere Ereignisse häufiger eintraten und dass das langfristige Wachstum der Wirtschaft durch diese Regeln gestört wurde.

In Bezug auf die Covid-19-Krise sind die Unternehmen kaum gegen solche Risiken abgesichert. Zwar gibt es Versicherungen, die Ertragsausfälle aufgrund von Betriebsunterbrechungen abdecken. Extreme Ereignisse durch Naturgefahren, wie Hurrikans oder Erdbeben, treten meistens regional begrenzt auf. Dies ist bei einer Pandemie nicht der Fall, denn dort treten weltweit gleichzeitig Schäden auf. Bei solchen Risiken, die in kurzer Zeit große Schäden anrichten, funktioniert das Prinzip der Risikostreuung nicht mehr. Daher ist bei Pandemien mit klassischen Versicherungen die Grenze der Versicherbarkeit erreicht.

Bei Finanzkrisen wird vielfach die Statistik strapaziert und Fraktilwerte mit unterschiedlichen Aussagewahrscheinlichkeiten zur Interpretation historischer Ereignisse herangezogen. Auch Finanzspekulationen (nicht immer klar, ob aus Dummheit, aus Fahrlässigkeit, aus Zufall oder aus Absicht) werden vielfach erst im Nachhinein interpretiert und Hinweise zur Interpretation retrospektiv entwickelt. Die Langzeitbeobachtung von sozialen, politischen und makroökonomischen Entwicklungen sowie die Sensibilität von einzelnen Phänomenen werden kaum in Betrachtung gezogen.

In letzter Zeit hat die Cyberkriminalität bedrohliche Risiken verursacht. Nach dem Global Risk Report 2018 des World Economic Forum (WEF) werden die Cyberattacken erstmals als das wahrscheinlichste menschlich verursachte Risiko für die Weltwirtschaft eingestuft. Das Center for Strategic and International Studies bezifferte den Schaden der Cyberkriminalität im Jahre 2017 auf über 500 Mrd. Euro. Begleitende Symptome sind der Vertrauensverlust auf den Kapitalmärkten und bei den Anlegern und Kunden. Interessant ist dabei, dass nach Erkenntnissen der Boston Consulting Group über 70% der erfolgten Attacken auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen sind und nur 30 % dieser Risiken durch technologische Barrieren hätten verhindert werden können.

Auch vor Wahlen und Referenden versagen immer wieder die Prognosen. In den Vereinigten Staaten von Amerika zeigten nahezu alle Prognosen ein anderes Ergebnis, als schlussendlich im November 2016 eintraf. Das Prognosemodell der New York Times bezifferte die Siegchancen der Gegenkandidatin mit 84 %, die Huffington Post mit 98 % und das Princeton Election mit 99 %. Auch der Brexit im Vereinigten Königreich England wurde im Juli 2016 zwar befürchtet, aber nicht vorausgesagt. Die Wahl des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zuerst am 23.06.2017 und dann in der Stichwahl am 18.06.2017 zum französischen Staatspräsidenten wurde Ende 2016 auch von den kühnsten Wahlprognostikern als nicht wahrscheinlich prophezeit.

Die statistischen Grundlagen der meisten Wahlprognosen basieren auf dem „schwachen Gesetz der großen Zahl“. Daher sollte nicht nur eine Binomialverteilung verwendet werden, sondern man müsste die Antworten von Fragebögen oder Umfragen mit Multibinomialverteilungen (das Produkt mehrerer Binomialverteilungen) auswerten. Zusätzlich werden die Ergebnisse solcher Ereignisse von kurzfristig eintretenden, teils emotionalen, Elementen beeinflusst. Solche Einflüsse können nicht mittels Umfragen modelliert werden.

Im soziopolitischen Bereich können Multiplikatoreffekte, welche auch durch Medien geschickt manipuliert werden können, zu großen Risiken führen. Die Ursachen können soziale und materielle Ungerechtigkeit, lebensbedrohliche Umstände, Hungersnöte, politische Rahmenbedingungen, emotionale Enttäuschungen oder terroristische Gründe sein, die einzeln oder in Kombination zu einem explosiven Gemisch bis hin zu Aktionismus und Fanatismus heranreifen können. Solche Entwicklungen und unbekannte Risiken können mit keiner statistischen Betrachtung vorausgesagt werden.

Die derzeitig zunehmende Belastung unserer Natur und der fortschreitende Klimawandel können nicht mit der Beobachtung von systemischen Risiken unter Kontrolle gehalten werden [8]. Mit jedem zehntel Grad an Erderwärmung steigt das Risiko, dass der Klimawandel sich durch seine Folgen selbst verstärkt und nicht mehr zu stoppen ist.

Durch die Beobachtung von Phänomenen und die wissenschaftliche Aufbereitung der gesammelten Daten könnte es gelingen, die Auswirkungen von daraus entstehenden extremen Risiken zumindest ansatzweise zu vermindern. Ein Beispiel ist auch der Bericht des UNO-Klimarats IPCC (erschienen am 15.10.2018), der aufzeigt, wie wichtig eine Beschränkung der Erderwärmung auf maximal 1,5 °C ist.

Auch im Bauwesen treten unerwartete Ereignisse auf, wo technische Infrastrukturen, wie Brücken, Staumauern etc., versagen. Der Einsturz der von Ricardo Morandi zwischen 1963–1967 gebauten Zügelgurtbrücke in Genova am 14.08.2018 mit 43 Toten war unerwartet. Obwohl die Brücke seit Jahren immer wieder ertüchtigt und auch zum Zeitpunkt des teilweisen Einsturzes saniert wurde, trat der Kollaps unerwartet ein. Solche Versagensmechanismen können technisch durch robustere Tragsysteme verhindert und das Risiko eines schlagartigen Versagens durch ein kontinuierliches Monitoring zumindest reduziert werden [9].

Weltweit wurden in den vergangenen 150 Jahren viele Bauwerke für Infrastrukturen der Bahn, der Straßen, der Wasserver- und -entsorgung sowie der Energie- und der Kommunikationsversorgung gebaut. Allein in Europa gibt es entlang der Transeuropäischen Transportkorridore (TEN-T) über 1234 km Straßenbrücken mit Spannweiten über 100 m. In den USA wurden 200 000 Brücken (1/3 aller Brücken) von der Autobahnverwaltung (US Federal Highway Administration, FHWA) als nicht mehr ausreichend in Bezug auf die Tragfähigkeit und Funktion bewertet.

In den letzten 20 Jahren sind in verschiedenen Ländern Europas (Italien, Frankreich, Portugal, Spanien, Dänemark, Finnland, Norwegen, Irland, UK, Griechenland, Rumänien) mehr als 20 Brücken kollabiert – mit über 120 Toten. In den USA sind mehr als 30 Brücken eingebrochen und dabei mehr als 50 Menschen getötet worden.

Oft führt eine Kombination von Naturgefahren, Bauschäden und menschlichen Fehlern zu einer Katastrophe. So gab es in verschiedenen Tunnels Europas unerwartete Ereignisse mit vielen Toten:

 Metro Baku, Aserbaidschan, 1995: 303 Tote,

 Straßentunnel Mont Blanc, Frankreich–Italien, 1999: 39 Tote,

 Straßentunnel Tauern, Österreich, 1999: 12 Tote,

 Gletscherbahn am Kitzsteinhorn Kaprun, Österreich, 2000: 155 Tote,

 Straßentunnel Siere, Schweiz, 2005: 28 Tote.

In der Bauwirtschaft werden bei einer Projektausarbeitung und -realisierung vielfach unbewusst technische, ökologische und wirtschaftliche Studien, Kosten- und Risikobewertungen, Qualitätsprozesse, Finanzierungs- und Kooperationsmodelle sowie in den Kosten-Nutzen- und Nachhaltigkeitsbewertungen ansatzweise holistische Konzepte verwendet.

Der Erfolg eines Projektes hängt wesentlich von der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Auftragnehmern und dem Auftraggeber während allen Projektphasen zusammen. Die Grundlagen für den Erfolg eines Projektes werden jedoch bereits in der Planungsphase gelegt. Daher liegt auch das größte Optimierungspotenzial in der Gestaltung der Planung und im Projektmanagement bis zur Vergabe der Arbeiten [10].

In der Entwicklung eines Bauprojektes, das oft einen langen Zeitraum beansprucht, spielen neben dem notwendigen Fachwissen die menschlichen Fähigkeiten, nämlich Vertrauen, Teamfähigkeit, Transparenz und Ehrlichkeit in der Kommunikation, eine ganz wesentliche Rolle. Im Projekt- und Risikomanagement sollten durch holistische Analysemethoden auch unbekannte Risiken und mögliche Extremereignisse erfasst werden. Die Projektverantwortlichen müssen dann gerade bei Großprojekten schnelle Entscheidungen mit Fach- und Erfahrungswissen treffen und konsequent umsetzen. Langsame Entscheidungen, geringes Fachwissen und Angst vor Verantwortung sind eine Kombination, die Risiken fördert.

Im Naturgefahrenmanagement haben die mit der Natur vertrauten Verantwortlichen schon immer, teils unbewusst, die Anzeichen und Phänomene möglichst ganzheitlich betrachtet. Unsere Vorfahren in den gebirgigen Gegenden der Alpen, Naturvölker aber auch der Autor in seinen Kindheitsjahren selbst haben die Zeichen der Natur kennen und respektieren gelernt. Dabei wurde das Wissen über Wind- und Wetterzeichen, das Beobachten über ein verändertes Verhalten von Tieren und Hinweise von sensiblen Individuen über Generationen weitergegeben und ständig durch neue und eigene Erfahrungen bereichert. So lernten und lernen auch heute noch Kinder, die sich in der Natur aufhalten, bereits sehr früh das Erkennen von Vorzeichen für sich ändernde Verhältnisse in der Natur und entwickeln einen Spürsinn für den Umgang mit solchen Gefahren. Heute geschieht die Prävention von Naturgefahren auf theoretischem Wege im Rahmen von Gefahren- oder Risikoplänen, durch periodische Beobachtungen sowie durch die Vorhaltung von Maßnahmen zur Früherkennung und Ausmaßminderung.

Trotz vorbereiteter Katastropheneinsatzpläne und periodischen Einsatzübungen mit freiwilligen Helfern und Berufskräften sieht die Realität vielfach anders aus. Sämtliche Einsatzpläne werden oft auf der Grundlage von historischen Daten entwickelt und nur punktuell können Beobachtungen oder ein Monitoring von Phänomenen durchgeführt werden.

Diese Beispiele zeigen, dass mit den derzeitigen statistischen Methoden bestimmte Entwicklungen in der Zukunft schwer vorausgesagt werden können. Noch schwieriger ist die Modellierung von unbekannten Risiken oder erkennbaren, jedoch nicht quantifizierbaren Risiken. Solche Risiken („seltene Ereignisse“) können nicht mit einer Normalverteilung, sondern ansatzweise mit Modellen der sogenannten „fetten Verteilungsenden“ bzw. „fat tails“ abgeschätzt werden.

Kritische Situationen sollten also möglichst früh erkannt werden. Die Analyse von Verkehrsunfällen oder Unglücke in Zusammenhang mit technischem und/oder menschlichem Versagen zeigen, dass die eigentlichen Ursachen des Unglücks oft zeitlich weit zurückliegen können (Fehler beim Entwurf, der Konstruktion oder Bau des Produktes oder des Bauwerkes). Die für das Ereignis entscheidende kritische Situation kann also zeitlich weit vor ihrer Auswirkung liegen.

Risikomanagement ist daher nicht nur ein ständiges Rechnen um das Risiko herum, sondern ein Prozess des ständigen Lernens, Erfassens und Handelns. Denn selbst wenn wir messbare Ergebnisse haben, ist nach Ansicht von Nassim Nicholas Taleb [11] Vorsicht geboten: „Wir konzentrieren uns leider zu stark auf das, was wir bereits wissen. Wir neigen dazu, nicht das Allgemeine zu lernen, sondern das Präzise.“

Chancen und Risiken sollten kontinuierlich und transparent untersucht, identifiziert, bewertet und in einem holistischen Sinne möglichst gesamtheitlich erfasst werden. Dazu gehört auch die Bereitschaft, alle erkennbaren Risiken frühzeitig ernst zu nehmen und eine Sensibilität gegenüber manchen Frühindikatoren und Risikofaktoren zu entwickeln. Daher sollten holistische Ansätze unter Einbezug von Beobachtungen und von Erfahrungen aus anderen Kulturen und Völkern unterstützt durch wissenschaftliche Methoden entwickelt werden. Damit können dem Management neue Methoden angeboten werden, um bestimmte Phänomene zu sehen, vielleicht zu erfassen und außergewöhnliche Ereignisse zumindest ansatzweise früher zu erkennen und zu handeln. Solche Ansätze werden in diesem Buch aufgezeigt und Methoden zum Erkennen von unbekannten Chancen und Risiken von der Entstehung bis zum Ende entwickelt.

Holistisches Chancen-Risiken-Management von Grossprojekten

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