Читать книгу Holistisches Chancen-Risiken-Management von Grossprojekten - Konrad Bergmeister - Страница 27
3.1 Erkenntnisse aus der Literatur
ОглавлениеBereits in der Historie sowie in den theologischen Schriften findet man Beispiele für bis zu dem Zeitpunkt unbekannte Extremereignisse. So gibt es im Alten Testament die Spaltung des Meeres, durch das die Ägypter dann hindurchgehen konnten, oder die Finsternis beim Kreuzestod von Jesus oder die wundersamen Heilungen kranker Menschen. Solche ungewöhnlichen Ereignisse wurden als Paradoxa oder im Lateinischen als miracula bezeichnet (der Paradoxograf Phlegon von Tralles sammelte im zweiten Jahrhundert alle möglichen ungewöhnlichen Erscheinungen, besonders bezogen auf den Menschen, wie Missgeburt, Belebung eines Toten etc.).
In der Bibel findet man in Genesis 11,1-9 den Versuch der Menschheit, einen gewaltigen Turm bei Babel zu errichten. Die Bibel erzählt von einem Volk aus dem Osten, das sich in einem Land namens Schinar angesiedelt hatte. Dort wollte man einen Turm mit einer Spitze bis in den Himmel bauen. Nachdem das Volk durch seinen Übermut keine Grenzen erkennend, den Turm immer höher bauen und Gott gleich sein wollte, verwirrte er ihre Sprache. Damit konnten sie sich nicht mehr verständigen, wodurch der Weiterbau des Turms unmöglich gemacht wurde.
Diese alttestamentliche Erzählung zeigt einerseits das Streben des Menschen nach Grenzenlosigkeit, andererseits gewisse Phänomene des Unerreichbaren und die Notwendigkeit der Kommunikation auf.
In der geformten Welt der Natur hat es oft den Anschein, als ob Formen und Naturstätten von fremder Hand gestaltet wurden. Blickt man von oben auf die Wüste Namibias, sieht es so aus, als hätte jemand den glatten roten Sand eines Tennisplatzes mit dicken Wassertropfen besprenkelt. Große Grasringe, die auch als Feenkreise bezeichnet werden, erstrecken sich über die Wüsten Afrikas und sind in unterschiedlichen Größen zu finden. Im Norden können sie einen Durchmesser von bis zu 50 m erreichen, im Süden sind sie bis zu 3 m groß. Seit Jahrzehnten rätseln Experten über die Ursache der zauberhaften Feenkreise. Nach Spekulationen über Ufos oder Meteoriten meinten die Wissenschaftler endlich die Lösung gefunden zu haben: Sie machten kleine Termiten für die magischen Kahlstellen verantwortlich. Insekten, die im Untergrund leben und in einem kreisförmigen Gebiet die keimenden Gräser wegfressen.
Abb. 3.1 Dunkle Materie vor 380 000 Jahren und heute (aus [1]).
Auch in der Zusammensetzung des Kosmos findet man bekannte und unbekannte Anteile. Heute sind uns nur etwa 5 % der kosmischen Materie- und Energiedichte bekannt. Dieser Anteil wird mit Baryonen bezeichnet, also der Elemente des periodischen Systems. Bekannt sind weiters die geringen Anteile der kosmischen Mikrowellenstrahlung (CMB) und der Neutrinos. Unbekannt sind die kalte, dunkle Materie mit etwa 23 % und die dunkle Energie mit etwa 72 % (Abb. 3.1). Diese dunkle Energie wird auch oft als Quintessenz bezeichnet. Genauso wie unbekannt eintretende Ereignisse sind, kann sich auch diese Feldenergie mit der Zeit ändern und damit könnte die kosmische Entwicklung eine neue, unerwartete Wendung erfahren.
Unbekannt war bis April 2018 auch ein großes Gebiet (größer als Schottland) im Golf von Oman, der zum Arabischen Meer gehört, wo der Sauerstoffgehalt so niedrig ist, dass Pflanzen und Tiere dort nicht überleben.
Unbekannt war die Ursache von beidseitigen Lungenentzündungen, als diese in Wuhan, China im Dezember 2020 plötzlich bei vielen Menschen auftraten. Nach einer Woche wusste man, dass es sich um einen neuartigen Virus namens SARS-CoV-2 handelte. Von diesem Coronavirus sind sieben Virentypen seit etwa 1965 bekannt, welche Menschen infizieren können. Als medizinische Maßnahme wurde bei den bisherigen Influenzaviren ein Medikament gegeben, aber beim Coronavirus gibt es noch keines. Daher wurden als Maßnahmen Sauerstoff gegeben und im Notfall eine künstliche Beatmung durchgeführt. Man geht davon aus, dass diese Viren in Tieren zirkulieren, mutieren und dann auf den Menschen übergehen. Dort werden die Coronaviren nach dem derzeitigen Wissensstand durch eine Aerosolinfektion und/oder Tröpfcheninfektion übertragen. Man geht davon aus, dass die Basisreproduktionsrate (gibt an wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt) zwischen 2,4–4 liegt. Die genaue Herkunft sowie die Bekämpfung des Virus sind derzeit noch unbekannt.
Tab. 3.1 Die vier Risikoquadranten (nach [3]).
Einfach | Komplex |
---|---|
I. Quadrant sehr sicher | II. Quadrant sicher |
III. Quadrant sicher | IV. Quadrant unsicher |
Solche unbekannten Risiken sind mit einer nahezu unendlichen Unsicherheit behaftet. Die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit hat der Ökonom Frank Knight (1885–1972) in seiner Dissertation 1921 definiert [2].
Auf der Grundlage der dreistufigen Einteilung von Knight [2] hat Taleb [3] die Theorie der vier Quadranten entwickelt (Tab. 3.1). Der vierte Quadrant soll explizit diese unbekannten Risiken, also das Phänomen der Schwarzen Schwäne, enthalten.
Taleb [3] beschreibt die vier Risikoquadranten wie folgt:
I. Quadrant: | Einfache Entscheidungen durch sichere Vorhersage. |
II. Quadrant: | Mittels statistischer Methoden gelingt es, zufriedenstellende Prognosen zu erstellen. Eine Komplexität kann dann eintreten, wenn es an umfassender Kenntnis mangelt oder die Risikoparameter voneinander abhängen [4]. |
III. Quadrant: | Einfache Entscheidungen, da das Eintreffen möglicher Risiken oder Gefahren das Endergebnis kaum beeinflusst. |
IV. Quadrant: | Hier ergeben sich die Probleme bei der Identifikation der Risiken, da die Zusammenhänge sehr komplex sind. |
Ziel des Risikenmanagements ist es nach Taleb [3], sich vom IV. Quadranten möglichst zu entfernen. Talebs Lehre lautet, dass trotz aller Sicherheitsmaßnahmen irgendwann Katastrophen eintreten (die Anschläge vom 11.09.2001, die Tsunamiund Atomkatastrophe vom 11.03.2011 in Japan, die Insolvenzerklärung der Stadt Detroit am 18.07.2013, die Terroranschläge am 13.11.2015 in Paris und am 22.03.2016 in Brüssel), die wir uns nicht vorstellen konnten und wollten.
Fehlt es hier am Ende an Umsicht, um zumindest kurzfristig Fakten und Anzeichen richtig zu interpretieren, sowie an der Kraft, sich das Unmögliche vorzustellen? Taleb blieb dazu eine konkrete Antwort schuldig. In seinem 2012 erschienenen Buch „Der Schwarze Schwan – Konsequenzen aus der Krise“ empfiehlt er, die Komplexität der Systeme durch Einfachheit auszugleichen und die Robustheit der Systeme durch die Anwendung antifragiler Systeme zu erhöhen [5].
Bei identifizierbaren Risiken sind im Allgemeinen die möglichen Ereignisse bekannt, und jedem Risiko wird eine bestimmte Eintrittswahrscheinlichkeit bei einem geschlossenen Ereignisraum zugeordnet. Bei allen natürlichen (Erdbeben, Lawinen etc.) und technischen (Reaktorunfälle, Brände etc.) Gefahren und Unfällen handelt es sich um Risiken, die statistisch, wenn auch schwer, kalkulierbar sind.
Durch die Veröffentlichungen von Laherrère und Sornette [6] über den König sowie von Sornette [7], Sornette und Ouillon [8] über den Drachen und von Taleb [9] über den Schwarzen Schwan bekamen solche unvorhergesehenen Ereignisse mit weitreichenden Folgen eine neue, auch medienwirksame Dimension.
Bei einer Unsicherheit ist der Ereignisraum immer offen!
Taleb (2009) hat die Unsicherheit als fehlendes Wissen oder als fehlendes Bewusstsein über die Bedeutung bereits vorhandenen Wissens interpretiert. Er sagt: „Schwarze Schwäne hängen vom Wissen ab“ [9]. Damit beschreibt er das sogenannte Induktionsproblem von Erwartungen: Das Eintreten eines Ereignisses hängt von den Erwartungen ab.
Nur Ereignisse oder Kettenreaktionen, die nach dem Wissensstand zu einem bestimmten Zeitpunkt unerwartbar sind oder an die bis dahin noch niemand gedacht hat, sind sogenannte unknown unknowns und werden auch in dieser Arbeit als unbekannte Chancen und Risiken bezeichnet.
„There are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns – the ones we don’t know we don’t know“ – das sagte der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld am 12.02.2002 während einer Pressekonferenz, als er zu den Beweisen der Massenvernichtungswaffen im Irak Stellung nahm.
Bei den bekannten Unbekannten handelt es sich um Chancen oder Risiken, die im Rahmen einer Chancen-Risiken-Analyse identifiziert und bewertet werden sollen.
Von Laherrère und Sornette [6] wurde für positive extreme Ereignisse, also für nicht berechenbare Chancen, der Begriff des Königs eingeführt.
Solche unbekannten Störereignisse haben Steinmüller, A. und Steinmüller, K. [10] als Wild Cards bezeichnet. Im Grunde wollten die Autoren die Verletzlichkeit und Störanfälligkeit unserer technologisierten Welt aufzeigen und haben als Überbegriff für unbekannte Ereignisse den Begriff der Wild Cards gewählt. Auch schleichende Katastrophen, die sich über eine längere Zeit erst entwickeln und akut werden können, sind damit erfasst. Interessant ist die Feststellung, dass Steinmüller das Beschleunigungssyndrom als mögliche Quelle von Wild Cards angibt. Durch die Interaktion von technologischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Prozessen können Überraschungen häufiger auftreten.