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Teil 1 - Erdbeben
ОглавлениеTeil 1 - Erdbeben
Antonio unterteilte die Erinnerungen seines gesamten Lebens in zwei Hälften und überprüfte, ob sie sortiert waren. Das waren sie nicht. Also unterteilte er die erste Hälfte wieder in zwei Teile. Das wiederholte er mit dem ersten Teil. Vor seinen Augen liefen Bilder seiner Kindheit ab, wie er mit seinen Eltern auf eine Kirmes ging, wie er die Schule beendete und wie er das erste Mal in die Vorlesung ging. Nicht bewerten! Sortieren! Er unterteilte jeden Teil wieder in zwei Teile. Das musste er solange tun, bis die beiden Teile bereits sortiert waren oder jeder Teil nur noch eine logische Größeneinheit groß war. Dann konnte er diese beiden Teile in die richtige Reihenfolge bringen.
Was zum Teufel machte er da für einen Unsinn? Im Halbschlaf stellte er fest, dass er so viel für die morgige Informatik-Klausur gelernt hatte, dass er sogar vom Quicksort-Algorithmus träumte. Er brauchte wohl dringend Ferien. Ganz wach war er immer noch nicht. Alles schien sich um ihn herum zu drehen und zu wackeln. Als er müde die Augen öffnete, fühlte es sich an, als würde gerade ein Erdbeben wüten. In seinem Schlafzimmer wurde alles mächtig durchgeschüttelt. Schließlich fiel sogar seine Kaffeetasse, die er auf dem Schreibtisch neben seinem Laptop stehen gelassen hatte, auf den Boden und zerschellte in tausend Teile. Hm. Diese Teile konnte man theoretisch nach Größe sortieren.
»Was? Wo? Hä?«, rief Antonio laut, als er endlich aufschreckte und feststellte, dass das ein echtes Erdbeben war! Die Straßenbeleuchtung, die sonst durch sein Fenster schien und seine kleine Wohnung nachts zumindest mit einem Minimum an Licht versorgte, war auf einmal ausgegangen. Auch die Kontrollleuchte von seinem Raspberry Pi, der unter seinem Schreibtisch klebte und als Server fungierte, war dunkel. Stromausfall?
Der 23-jährige Student griff in der Dunkelheit nach seinem Smartphone und schaltete die Handytaschenlampe an. Seine Augen waren von Panik weit aufgerissen, als er den Staub bemerkte der von der Decke regnete.
Das Erdbeben wurde so stark, dass das ganze Haus – in welchem er im vierten Stock lebte – wackelte, wie eine alte Eiche während eines Tornados. Alles, was nicht feste montiert war, stürze um. Als Antonios Kleiderschrank vorne über fiel und mit einem lauten Donnern auf dem Boden krachte, bekam er richtige Todesangst.
»HILFE!«, schrie er verzweifelt, bis er feststellte, dass in seiner Nachbarschaft wohl gerade jeder um Hilfe rief. Die Geräuschkulisse war unfassbar laut. Alle schrien durcheinander. Irgendwo explodierte etwas. Wahrscheinlich Gasleitungen, dachte Antonio und warf einen Blick aus dem Fenster.
Doch in genau dem Moment zersprang die Fensterscheibe. »Scheiße!!« Laut wehte der Wind hinein. Es war nicht nur ein Erdbeben, sondern auch ein unglaublicher Sturm. Antonios ganzer Körper zitterte. Völlig apathisch tastete er mit den Händen herum und hielt sich am Gestell seines Bettes fest. Das Smartphone hielt er immer noch zwischen Zeige- und Ringfinger. Wann hörte das denn endlich auf, verdammt? Jetzt zog wirklich sein ganzes Leben an ihm vorbei, bis er durch eine noch lautere Explosion aus seinen Gedanken gerissen wurde. Entweder war ihm nun richtig schwindelig vor Angst … oder das vierstöckige Wohnhaus, das direkt gegenüber seines kaputten Fensters stand, beugte sich bedrohlich nach vorne.
»AAAAHHHHH!«, konnte er nur noch brüllen, als das Gebäude direkt auf ihn zustürzte und mit einem noch lauteren Donnern gegen sein eigenes Wohnhaus aufprallte. Irgendwo direkt unter ihm, im dritten Stockwerk, musste das Dach des Nachbarhauses gerade eingeschlagen sein. Antonios ganzes Schlafzimmer schien in sich zusammen zu fallen. Als der Boden unter ihm nachgab und er ein Stockwerk tiefer fiel, schoss ihm der bekloppte Gedanken durch den Kopf, ob man nun sagen konnte, dass die Stockwerke der beiden Gebäude nun als »unsortiert« einzustufen waren. Zwischen Möbeln, Parkettböden, Planken und Steinen prallte er irgendwo auf irgendwelchen Trümmern in irgendeinem Stockwerk auf und stellte fest, dass das Beben aufgehört hatte. Zumindest das ständige Wackeln des Bodens war vorbei. Der unfassbar laute Sturm draußen, der inmitten der Trümmer des falsch einsortierten Stockwerkes, in dem er sich befand, immer noch laut zu hören war, schien gar nicht enden zu wollen.
Der junge Mann, der sonst eher nicht auf Abenteuer (im Real Life) stand, blieb unbeweglich dort liegen, wo er war. Alle seine Knochen taten ihm weh, aber ansonsten schien er unverletzt zu sein. Nur die Panik war so stark, dass er sich nicht traute, sich zu bewegen. Wie wackelig waren die beiden ineinander gestürzten Gebäude wohl? Würde alles einstürzen, wenn er sich bewegte? Shit.
Nach etwa einer Minute, in der er nichts hören konnte außer dem Sturm und den Hilferufen überall, vernahm er endlich die Sirenen von der Feuerwehr oder der Polizei. Zumindest in weiter Ferne. Genau! Er sollte den Notruf wählen! Antonio bewegte ganz vorsichtig das Smartphone, dass er gleich einem Wunder immer noch zwischen zwei Fingern hielt, zu sich herüber. Dann schaltete er das Display an.
Kein Netz! Typisch Deutschland!
Aber auch gut. Antonio war jetzt erst einmal mit philosophischen Fragen beschäftigt. So etwas wie »Träume ich das hier alles nur?« Oder »Bin ich vielleicht schon tot und weiß es nur noch nicht?« Oder auch »Ob ich es noch rechtzeitig zur Klausur schaffe?«. Nach etwa einer Viertelstunde traute er sich, langsam seinen Körper aufzurichten. Es regnete immer noch Staub von der Decke und der nicht enden wollende Sturm ließ das ganze Gemäuer – auch ohne Erdbeben – bedrohlich wackeln. Doch Antonios winzige Bewegung reichte aus, dass er, wie er gerade auf den Trümmern saß, noch ein kleines Stückchen nach unten sank. Dann noch etwas. Bedrohlich knarrte das Holz um ihn herum. Der junge Mann konnte keine Sekunde länger warten, steckte sein Smartphone in die Hosentasche, sprang auf und rannte los. Laut krachte der Boden hinter ihm ein. Wie in einem Film schien das riesige Loch im Boden ihn zu verfolgen, während er stolpernd – nicht gerade wie ein Filmheld – über Trümmer hetzte und schließlich vor einer Treppe stehen blieb. Angesichts der völlig veränderten Umrisse seines Zuhauses brauchte er einen Moment, um zu kapieren, dass er sich jetzt im Treppenhaus befand. Die Treppen waren größtenteils noch intakt, auch wenn sie nicht gerade stabil aussahen. Vorsichtig aber hastig stieg er nach unten, während hinter ihm noch mehr Teile des Gebäudes einstürzten.
Je weiter er nach unten kam, desto intakter schien das Wohnhaus zu sein. Nur oben, dort wo das andere Gebäude eingeschlagen und wie der Schiefe Turm von Pisa stehen geblieben ist, schien kein Stein mehr auf dem anderen zu stehen. Das hatte ungefähr so ausgesehen, wie die Minecraft-Welt von Antonios 7-jährigem Neffen.
Unten angekommen hastete der junge Student durch die Haustür auf die Straße. Sofort blies ihm ein starker Wind in das Gesicht. Überall waren immer noch Hilferufe und Sirenen zu hören. Dumpfes Donnern in der Ferne bedeutete wohl, das auch andere Gebäude einsturzgefährdet waren oder gerade in sich zusammenfielen. Antonio musste die Augen zukneifen. Staub und Dreck wurde durch den Sturm aufgewirbelt. Schützend hielt er sich die Unterarme horizontal vor das Gesicht, so dass er schließlich einen kleinen Blick durch den Spalt wagen konnte. Die Straße vor dem Haus war voller Trümmer. Eines der Gebäude gegenüber schien sogar in Flammen zu stehen. Holy Shit, was war denn eigentlich hier los? Antonio drehte sich in jede Richtung und erkannte, dass nur ein Haus weiter von seinem die Straße nun zu enden schien. Alles, was sich vorher dahinter befand, war einfach verschwunden.
Antonio stellte sich zuerst in die Eingangstür. Der Wind hatte so eine Kraft, dass sich die vereinzelten Bäume an der Straße bedrohlich neigten. Kilo-schwere Trümmer flogen durch die Luft und, obwohl es lebensgefährlich war, strömten immer mehr Menschen auf die Straße, um nach Hilfe zu suchen. Der Student versuchte zu verstehen, warum seine Straße dort hinten einfach zu enden schien. Dann fiel ihm eine etwa 1.50m große Gestalt, eine Jugendliche, auf, die genau dort stand, wo die Straße vorher weiterging. Das Mädchen mit dem dicken Pullover und den langen Haaren stand dort einfach ohne jeden Schutz in der Mitte der Fahrbahn.
»Hey!!«, brüllte Antonio gegen den Sturm an und war sich nicht sicher, ob die Teenagerin ihn hören konnte. Ihre langen Haare wehten im Wind. Der junge Mann konnte gar nicht verstehen, wie sie dort stehen konnte, ohne sich die Augen zu verdecken. Fuck. Antonios Sichtfeld war enorm eingeschränkt und er bekam kaum Luft, bei diesem Sturm. Trotzdem fiel ihm auf, dass sich der Körper des Mädchens langsam nach vorne neigte. Scheiße!
Der junge Mann ließ die Arme sinken und rannte los. Das geschah nun einfach völlig instinktiv und ohne, dass er das bewusst entschieden hatte. Wie in einem Computerspiel musste er dabei einer fliegenden Autotür ausweichen. Im letzten Moment schaffte er es, die Arme von hinten um ihre Brust zu legen und sie nach hinten zu ziehen.
»Hey!!«, brüllte die junge Frau wütend. Geschockt riss Antonio die Augen auf, als er erkannte, was sich einen Schritt vor dem Mädchen in der Dunkelheit versteckt hatte. Es war ein endlos tiefer Abgrund. Die ganze Straße wurde von einem gewaltigen Krater durchtrennt, der in der Finsternis lag. Er konnte weder den Boden noch das andere Ende dieses Kraters sehen.
»Ach du heilige … Shit!«, stammelte der Student, ohne das Mädchen loszulassen.
»Lass mich los, du Arschloch!!«
Mit ihren schmächtigen Armen kämpfte das Mädchen gegen Antonio an, der sie jedoch mühelos festhalten konnte.
»Erst, wenn du versprichst, dich nicht in diesen Abgrund zu stürzen!«
Diese Tiefe, die nur einen Schritt vor den beiden anfing, wirkte bedrohlich und surreal zugleich. Was hatte das zu bedeuten? Ein von einem Hurrikan begleitetes Erdbeben in München war schon krass genug, aber dass dadurch ein Krater, größer als der Grand Canyon, die Stadt zerteilte, das war ein Game Changer. Antonio wurde bewusst, dass sein Leben nicht mehr so sein würde, wie vorher. Was immer hier gerade passierte, es musste etwas Schlimmeres sein, als eine Katastrophe, die irgendwann vorbeiging. Schlimmer auch als die Corona-Pandemie! Fuck. Er musste versuchen, seine Eltern zu erreichen!
In dem Moment biss das Mädchen in seinen Arm und der Student schrie laut auf vor Schmerzen.
»Fuck!! Spinnst du?« Aber die Kleine ließ nicht locker. Genauso wenig wie Antonio, dem bewusst war, dass die junge Frau in den sicheren Tod springen würde, sollte er jetzt aufgeben. Auch wenn sie so fest zubiss, dass Antonio schon das Blut spüren konnte, dass aus seinem Unterarm floss. »Verdammte Scheiße, beruhige dich!! Ich will dir doch nur helfen!«
Ein lautes Donnern ließ ein weiteres Mal nichts Gutes erhoffen und Antonio wagte während des Kampfes einen Blick zur Seite. Ein großes Wohnhaus, dass direkt am Krater stand und in der Mitte zerteilt war, neigte sich gefährlich nach vorne in die Tiefe. Die Trümmer, die sich vorher noch gegenseitig stabilisiert zu haben schienen, trieben wie eine Schneelawine dem Abgrund entgegen. In einem lauten Getöse fielen Balken, Wände und Decken in sich zusammen und der Student erschrak, als er die alte Frau bemerkte, die sich an einer Tür festhielt und mit in die Tiefe gerissen wurde, bis sie in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen war.
Dem Studenten war nicht entgangen, dass das Mädchen das auch mitangesehen hatte. Sie ließ von ihm ab und beendete ihren Widerstand und Antonio entschloss sich, seinen Griff vorsichtig zu lockern und dann einen Schritt nach hinten zu gehen. Die Teenagerin zitterte am ganzen Körper und drehte sich langsam zu ihm um. Der angsterfüllte Blick, mit dem sie ihn jetzt ansah, fuhr ihm durch alle Knochen. Sie konnte nicht älter als 14 oder 15 sein, hatte einen Haarreif in den Haaren, dunkelbraune Augen und eine unheimlich süße Stupsnase. Fuck. Sie mussten sich irgendwo in Sicherheit bringen!
Antonio, der noch in T-Shirt und Jogginghose dort stand und, wie bei Studenten so oft, einen Drei-Tage-Bart trug, sortierte seine langen Haare und klemmte sie hinter die Ohren, so gut es ging. Der Anblick dieses gewaltigen Kraters ließ ihn einfach nicht los. Mit offenem Mund starrte er in die Finsternis und fragte sich, was wohl die Ursache für all das hier war.
Gerade als Antonio das Gefühl hatte, dass der Sturm etwas nachließ, hörte er ein merkwürdiges, mechanisches Geräusch über sich. Das fremde Mädchen legte den Kopf in den Nacken und runzelte die Stirn.
»Was ist das?«, fragte sie. Der Student wollte nach oben schauen als in diesem Moment ein helles gelbes Licht wie aus einem Scheinwerfer anging und ihn so blendete, dass er nichts mehr sehen konnte.