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Schloss Bellevue
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»Bäh …«, ekelte sich die Bildungsministerin, nachdem sie den ganzen Inhalt ihres Magens in die Kloschüssel erbrochen hatte und dann spülte. Völlig erschöpft sank sie vor der Toilette auf die Knie und hielt sich an der Halterung für das Klopapier fest. Sie fühlte sich fürchterlich. Jeder Handgriff war schwerer geworden und jeder Schritt fühlte sich an, als hätte sie 6 Kilo zugenommen. Nachdem sie das Gefecht über Mannheim live mitverfolgt hatte und der Patiententransport endlich in Sicherheit war, konnte sie nicht mehr länger die Stellung halten und war nach draußen gerannt. Hier, in der Toilette des geheimen Bunkers unter dem Kanzleramt, hatte sie endlich ein paar Minuten für sich. Es gab drei Kabinen und zwei Waschbecken gegenüber. Und es war so still. Einen Moment fragte sie sich, ob das alles real sein konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einem Traum war, wurde mit jeder Stunde, die verging, geringer . Das hier war die größte Katastrophe, die diesem Land zustoßen konnte, und es gab so viele ungeklärte Fragen.
Was hatte dieses Erdbeben und diesen Sturm ausgelöst? Kernwaffen konnten es nicht gewesen sein, sonst hätten sie inzwischen Strahlung gemessen.
Wer waren diese unbekannten Angreifer? Sie hatten einige Bilder der fremden Flugobjekte machen können, aber niemand konnte sich einen Reim darauf machen. Ihre Waffen waren … ungewöhnlich. Trotzdem ließen sie sich durch ihre Luftverteidigung abwehren.
Doch die größte Frage blieb unbeantwortet: Was war mit dem Rest der Welt? Jegliche Kommunikation war ausgefallen. Es gab keinen Funkkontakt, keine Satellitenkommunikation, keine Radiowellen oder sonst auch nur ein Lebenszeichen außerhalb ihrer Landesgrenzen. Von einigen Gebieten wie Norddeutschland, dem Saarland oder südlich von Bayern hatten sie seit dem Beben auch nichts mehr gehört. Der Rettungshubschrauber, der von den beiden Eurofightern begleitet wurde, würde in wenigen Minuten Saarbrücken erreichen und so hoffentlich Antworten liefern. Zusätzlich hatten sie Drohnen gestartet, die die Gegend um Hamburg auskundschaften sollten. Auf dem Landweg hatte es bisher niemand dorthin geschafft. Irgendwo endete jede Straße an einem unüberwindbaren Krater, der sich während des Erdbebens aufgetan haben musste.
Der Bundeskanzler befand sich in Hamburg. Wenn sie es nur schaffen konnten, ihn zu finden, wäre dieser Albtraum für Julia vorbei. Sie hatte nicht das Zeug dazu, das Kommando zu leiten und Befehle von solcher Tragweite zu treffen. Sie war nichts weiter als ein Wrack. Eigentlich wollte sie schon zurücktreten, als ihr Mann sie verlassen hatte. Sie wollte Manuel dadurch zurückgewinnen. Er hatte andere Pläne als sie und wollte ein einfaches Leben, eine Familie gründen und keine Workaholic als Partnerin. Die Scheidung hatte er noch nicht eingereicht, aber er war vor zwei Wochen zurück nach Saarbrücken gezogen. Ihre gemeinsame Heimat, wo sie sich an der Uni kennengelernt hatten.
Julia vermisste ihn jetzt so unendlich. Die große Ironie war, dass er es war, der ihr die Kraft gegeben hatte, diesen Job überhaupt anzunehmen. Fast genau zehn Jahre waren sie ein Paar gewesen. Er hatte ihr geholfen, ihre Panikattacken zu überwinden. Bei ihm hatte sie sich immer sicher und stark gefühlt und die Zuversicht gehabt, jedes Problem schon irgendwie lösen zu können. Seitdem sie Ministerin wurde, hatte sie ihn dafür mit völliger Ignoranz bestraft. Sie hatte einfach keine Zeit mehr, sich um ihre Beziehung zu kümmern, war nur noch gestresst, genervt und überfordert. Zuerst hatten sie sich nur gestritten und Julia war sauer gewesen. Jetzt konnte sie verstehen, dass er das nicht mehr mitmachen wollte. 10 Jahre Beziehung und nur 2 Wochen getrennt, da standen die Chancen gut, dass er sie zurücknehmen würde, sobald sie den Job an den Nagel hing.
Doch jetzt stand die große Frage im Raum, ob er überhaupt noch am Leben war. So wie auch ihre Familie, ihre Eltern und Großeltern.
Julia stand von der Toilette auf und ging zum Waschbecken. Immerhin gab es noch fließendes Wasser. Sie sammelte etwas in ihren Händen und wusch sich das Gesicht. Als sie dann in den Spiegel schaute, erschrak sie sich vor ihr selbst. Sie sah aus wie eine wandelnde Leiche. Julia Bach war mit ihren 1.60m nicht sehr groß. Ihre langen braunen Haare waren immer zu einem Zopf geflochten. Die braunen Rehäuglein, die Manuel so an ihr geliebt hatte, wirkten leblos und leer. Die Augenringe und die unheimlich blasse Haut taten ihr Übriges.
»Frau Ministerin?« Die Tür öffnete sich und die Soldatin mit den langen blonden Haaren, die auch zu einem Zopf gebunden waren, trat hinein. Sie trug eine einfache Uniform in Tarnfarben. Ihre ID-Karte baumelte an einem Band um ihren Hals. Im Kontrollraum war der Politikerin die Brille der jungen Frau überhaupt nicht aufgefallen.
»Ich komme gleich.«
»Geht es ihnen nicht gut?« Julia hielt ihren Kopf gesenkt. Die großgewachsene athletische Soldatin bückte sich leicht runter, um ihr in die Augen sehen zu können.
Was sollte Julia auf diese Frage antworten? Sie schüttelte einfach mit dem Kopf.
»Es wirkt alles wie ein Traum«, sagte sie.
»Das geht uns allen so. Aber wir brauchen Sie, Frau Ministerin. Ohne sie würde ein Machtvakuum entstehen und General Kohl würde das Kommando übernehmen. Er ist ein guter Mann, aber eine Militärdiktatur auf Zeit ist immer eine Gefahr für unsere Demokratie.«
»Wie heißen Sie?«
Die Soldatin, die ungefähr in ihrem Alter gewesen sein musste, nahm Haltung an.
»Oberleutnant Henrike Dahlberg.«
»Haben Sie Familie?«
»Meine Eltern wohnen in Kreuzberg. Ihnen ist während des Erdbebens nichts passiert.«
»Meine Familie und so gut wie jeder den ich kenne, wohnt in Saarbrücken.«
Erschrocken öffnete Dahlberg den Mund und nahm einen tiefen Atemzug.
»Frau Ministerin«, begann sie, »sie sollten sich das ansehen!«
Böse Vorahnungen verfolgten Julia, als sie und die Soldatin zurück in das Kontrollzentrum gingen. Zuerst fiel ihr diese ungewöhnliche Stille auf. Von den etwa dreißig Anwesenden starrte jeder einzelne mit offenem Mund auf den großen Monitor. Julia drehte den Kopf dorthin, während sie an den Tischen vorbei zu General Kohl lief.
Die Ministerin verstand nicht ganz, was sie sich dort ansahen. Sie sahen wohl aus einer Außenkamera des Eurofighters auf einen großen Wald in der Nacht. Die Kamera hatte eine Nachtsicht und so war alles grün eingefärbt. Die Bäume und Pflanzen waren trotzdem kaum zu erkennen. Irgendwie wirkten sie ungewöhnlich. Die Blätter waren gewaltig und überlappten einander. Mehrere Stängel und Äste bewegten sich ganz leicht als hätten sie Gelenke.
»Was sehen wir hier?«, fragte Julia den General und runzelte die Stirn.
»Saarbrücken«, erklärte er. »Wir haben Landkarten und Radar mehrmals geprüft und genau dort müsste die Stadt liegen. Vor ein paar Minuten hat der voraus fliegende Eurofighter einen gewaltigen, etwa einen Kilometer breiten Krater überquert, der in jede Richtung soweit das Auge reichte, das Land gespalten hatte. Dahinter befand sich überall nur das, was wir hier sehen.«
Julia drehte sich zu ihm.
»Können wir denn keinen Funkkontakt herstellen?«
»Es antwortet niemand.«
Damit hatte Julia am wenigsten gerechnet. Sie erkannte ihre Heimat überhaupt nicht mehr wieder. Es gab kein Anzeichen, dass hier jemals eine Stadt gewesen war. Wortlos starrten alle weiter auf den Bildschirm. Doch schon wenig später änderte sich die Landschaft und sie sahen sowohl Berge als auch einen gewaltigen Fluss, der sich durch das Land zog.
»Das ergibt doch keinen Sinn«, staunte die Ministerin. »Hier stimmt doch gar nichts mehr. Haben Sie den Hubschrauber schon benachrichtigt?«
»Wir haben ihn umgeleitet«, erklärte der General nickend. »Der andere Eurofighter begleitet ihn zu einem Militärkrankenhaus in der Nähe von Mannheim. Wir konnten dort ein paar Betten freimachen.«
»Erkennen Sie diesen Fluss?«
Ratlos hielt sich der Mann die Hand an sein Kinn und zögerte mit der Antwort.
»Er ist mindestens doppelt so breit wie der Rhein. Den dürfte es hier gar nicht geben. Vielleicht sollten wir davon ausgehen, dass alle unsere Karten stand Heute falsch sind.«
»Die ganze Welt ist falsch.«
»Herr General? Frau Ministerin?«, rief einer der Soldaten aus der vordersten Reihe. »Wir haben jetzt Drohnenaufnahmen von Hamburg.«
»Legen Sie sie auf den Monitor!«, befahl Kohl. Kurz darauf änderte sich das Bild. Die Drohne war ebenfalls mit einer Nachtsichtkamera ausgestattet und zeigte die ganze Umgebung in Grün. Sie flog über einer Autobahn, die gerade durch einen gewaltigen Krater unterbrochen wurde. Der Krater war so groß und so tief, dass er für einen Moment das gesamte Sichtfeld einnahm. Er schien in beide Richtungen endlos weiter zu gehen.
Schließlich sahen sie die andere Seite und erblickten eine ähnliche Waldlandschaft wie dort, wo früher das Saarland war. Berge und Täler zierten die Umgebung. Doch von einer Stadt oder jeglichem Zeichen von Zivilisation war nichts zu sehen.
»Kein Lebenszeichen«, murmelte Julia und versuchte, zu verstehen, was sie dort sah. Keine Waffe der Welt konnte die Landschaft verändern und in unberührte Natur verwandeln. Die Politikerin zweifelte immer mehr daran, dass das hier wirklich ein Krieg war. Hier war irgendetwas ganz anderes im Gange. »Frau … Leutnant Dahlberg, können Sie bitte noch einmal eine Landkarte des Bundesgebietes auf den Monitor legen?«
»Jawohl!«, antwortete die junge Soldatin und kurz darauf erschien die Karte auf dem Bildschirm mit den blau eingezeichneten Stützpunkten der Bundeswehr, die noch erreichbar waren. In Grün sahen sie die Eurofighter und die Drohne.
»Können Sie alle Städte als Punkte aufleuchten lassen, zu denen wir Kontakt haben oder von denen wir wissen, dass sie noch da sind?«
»Einen Augenblick …«
Ein Soldat und der IT-Techniker von eben kamen zu der Soldatin an den Tisch. Sie berieten sich einen Moment und nahmen die Einstellungen gemeinsam vor. Nach und nach leuchteten immer blaue Punkte mit Beschriftungen auf. Da war München, Nürnberg, Köln, Düsseldorf, Hannover, Dresden und natürlich Berlin. Das Bild füllte sich mit Punkten, die immer mehr und mehr eine bestimmte Form annahmen.
»Und können Sie alle Orte, wo ein solcher Krater gesichtet wurde, markieren?«
Gebannt sahen alle dabei zu, wie mehrere graue Linien erschienen. Die Krater, die an verschiedenen Stellen das Land teilten, wiesen bei näherer Betrachtung eine Krümmung auf. Die anderen Techniker, Soldaten und Angestellten halfen ihnen und trugen immer mehr Informationen zusammen, bis nach einigen Minuten das Ergebnis nicht mehr von der Hand zuweisen war.
»Der Krater umschließt uns in einem Kreis«, sprach der General es endlich aus. »Er reicht von München bis nach Hannover und von Aachen bis nach Dresden.«
»Das ist etwas mehr als drei Viertel der Bundesrepublik«, stellte die Ministerin fest. »Ein paar Grenzgebiete zu den Niederlanden und Frankreich und ein kleiner Teil der Tschechischen Republik.«
»Und auf der anderen Seite ist nichts mehr so wie es vorher war?«
Sie sind verschwunden, dachte Julia. Ihre Heimat, ihre Familie und ihre große Liebe waren weg. Waren sie tot? Oder waren sie vielleicht nur irgendwo anders? War sie irgendwo anders? Aus irgendeinem Grund, den sie sich nicht ganz erklären konnte, formte sich in der jungen Politikerin ein neues Gefühl: Hoffnung. Sie glaubte, warum auch immer, fest daran, dass Manuel noch am Leben war, nur irgendwo anders. Und was immer auch diese Veränderung bewirkt hatte, musste auch umkehrbar sein. Vielleicht war es doch nicht so direkt Hoffnung, die sie verspürte, aber Tatendrang. Sie hatte ein Ziel vor Augen. Ein Ziel, dass sie nun alle gemeinsam verfolgen konnten.
»Schießerei im Schloss Bellevue!«, rief Oberleutnant Dahlberg plötzlich und richtete ihr Headset so, dass ein Ohr frei war. »Die Polizei umstellt das Gebiet und meldet mehrere unbekannte Angreifer. Die Sicherheitsleute haben sich im Inneren verschanzt.«
Sofort liefen Frau Bach und der General zu der Soldatin.
»Gibt es ein Lebenszeichen vom Bundespräsidenten?«, wollte Julia wissen. Die Soldatin antwortete nicht sofort, sondern hörte offenbar noch eine Nachricht ab. Einen kurzen Moment war es totenstill.
»Der Bundespräsident wurde angeschossen und ist bewusstlos.«
Scheiße!
»Das SEK ist nicht für den Kriegseinsatz geeignet!«, stellte General Kohl vor allen Leuten klar. »Welche Bundeswehreinheiten sind in der Umgebung verfügbar?«
»Fünfunddreißig Soldaten meiner Einheit, der 1. Kommandokompanie der K.S.K. stehen vor dem Kanzleramt bereit, Herr General.«
»Dann los!« Sofort sprang die Soldatin auf und rannte aus dem Raum. Nur einen kurzen Moment danach übernahm ein anderer Soldat ihren Posten und zog das Headset auf. Er schaltete eine Straßenkarte der Umgebung um Schloss Bellevue auf den großen Monitor. Auf einmal war der ganze Saal wieder in Aufruhr. Julia nahm wahr, wie General Kohl Befehl erteilte und mehrere Drohnen der Luftwaffe anforderte, die mit Wärmebildsensoren ausgestattet waren. Der Bundespräsident, dachte Julia. Er war mit seinen 87 Jahren der Älteste, der jemals dieses Amt bekleidet hatte. Wenn er noch am Leben war, dann war es ihrer aller Pflicht, ihn in Sicherheit zu bringen.
»Zwei Panzerdivisionen sind auf dem Weg«, rief ein anderer Soldat von der anderen Seite des Kontrollraumes. »Sie werden in ungefähr einer Stunde in Berlin eintreffen.«
Die Politikerin dachte nach und schaltete dann schnell. Als General Kohl gerade an ihr vorbeigehen wollte, hielt sie ihn am Arm fest.
»Sagen Sie ihren Leuten, dass sie unbedingt Gefangene machen müssen!«
»Was?«
»Den Bundespräsidenten zu retten ist wichtig. Aber auch wichtig ist, dass wir erfahren, was hier los ist. Die Angreifer haben vielleicht Informationen, die lebenswichtig für uns sind!«
Einen Augenblick schien der General nachzudenken. Dann bückte er sich zu dem Mikrofon auf dem Tisch runter.
»Leutnant Dahlberg, hören Sie mich? Versuchen Sie, wenn möglich Gefangene zu machen! Die Angreifer könnten für uns wichtige Informationen haben.«
Kurz darauf erschien ein dunkles Bild auf dem Monitor. Sie sahen das pulsierende Blaulicht mehrerer Polizeiwagen, schwer bewaffnete Soldaten links und rechts im Blickfeld, sowie das Schloss selbst auf der anderen Straßenseite. Offensichtlich übertrug die Soldatin das Bild einer Helmkamera, während sie und ihre Einheit sich dem Gebäude näherten.