Читать книгу Entführung ins Glück - Kristi Ann Hunter - Страница 10

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Er fand sie im oberen Salon, wo sie am Fenster stand und zusah, wie dicke Regentropfen an der Scheibe hinabrollten.

Den ganzen Nachmittag hatte Ryland sich davon abzuhalten versucht, sie zu suchen. Er musste seine Neugier bezähmen und das Geheimnis um den blauen Brief ruhen lassen. Mindestens zehnmal hatte er diesen Brief gelesen und jedes Mal hatte er neue Fragen aufgeworfen. Warum er? Wie lange brachte sie ihre Gefühle schon auf diese Weise zum Ausdruck? Waren die Briefe nur an ihn adressiert?

Wenn ja, wo waren die anderen? Er stellte fest, dass ihn der Wunsch, mehr über die Frau zu erfahren, die ihre Gefühle auf diese Weise zu Papier brachte, sehr von seiner eigentlichen Aufgabe ablenkte.

Und gewöhnlich ließ er sich nie ablenken.

„Geht es Ihnen schon wieder besser?“

Miranda fuhr zusammen. Sie verzog kurz das Gesicht. Das war das einzige Zeichen, das verriet, wie wenig sie sich freute, ihn zu sehen. „Mir geht es wieder bestens, danke.“

„Ich habe Seiner Durchlaucht nichts von Ihrem … ähm … Zusammenbruch gesagt.“

Sie nickte, richtete aber ihren Blick wieder hinaus in den Regen. „Danke.“

Er sollte gehen. Allein durch seine Anwesenheit in diesem Raum übertrat er bereits die Grenzen der Schicklichkeit. Sie hielt ihn für einen Kammerdiener. Wenn er mehr sagte, wenn er weiterbohrte oder auch nur noch länger im Zimmer bliebe, würde er in ihren Augen seine Grenzen deutlich übertreten.

„Ich habe das Gefühl, dass ich mich bei Ihnen entschuldigen muss, Mylady.“ Das war gut. Frauen liebten es, wenn man sich entschuldigte.

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Sie haben nur Ihre Arbeit gemacht.“

Rylands Augen weiteten sich. Das war unglaublich großzügig von ihr, wenn man bedachte, dass er den Brief ja hatte öffnen müssen, um zu sehen, an wen sie geschrieben hatte. Hatte sie das etwa vergessen?

„Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihrer letzten Stelle war.“ Sie wandte sich um, und der Ärger stand ihr jetzt deutlich ins Gesicht geschrieben. „Aber hier öffnet man keine persönliche Korrespondenz, selbst wenn es mit den besten Absichten geschieht.“

Er verbeugte sich. „Ich verstehe, Mylady.“

Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie die von Griffith. Seltsam, dass dieselbe Augenfarbe im Gesicht einer schönen Frau ganz anders aussah als im Gesicht eines Mannes. Er musste aus diesem Zimmer verschwinden. Schnell.

„Haben Sie ihn gelesen?“

Ryland blieb stehen und drehte sich langsam zu ihr um. Zum ersten Mal senkte er den Blick. Er richtete seine Augen auf die Samtschleife an ihrem Ärmel. Samtärmel waren ungefährlich. „Verzeihung, Mylady?“

„Der Brief. Haben Sie ihn gelesen? Ich weiß, dass Sie ihn aufgemacht haben.“

„Ich …“ Was sollte er tun? Lügen und das Zimmer verlassen? Oder die Wahrheit sagen und ihr vielleicht helfen, die vielen unbeantworteten Fragen zu klären, die in der Nacht aus ihr herausgesprudelt waren? „Zum Teil, Mylady. Ich bitte Sie vielmals um Vergebung.“

Sie schwieg eine Weile. Die Stille hielt so lange an, dass er sich zunehmend unwohl fühlte. Wenn sie zu Griffith ging und seine Kündigung verlangte, hätte er ein ernstes Problem.

„Haben Sie jemandem erzählt, was in dem Brief steht?“

„Nein!“ Das Wort kam vehementer aus seinem Mund, als er beabsichtigt hatte. Der aristokratische Herzog, den er in den vergangenen zehn Jahren zurückgedrängt hatte, brach in diesem kurzen Moment der Entrüstung aus ihm heraus.

Miranda nickte nur.

Sie sah traurig aus.

Das war gefährlich. Er wusste viel über Miranda. Schon vor seinen Nachforschungen hatte er durch die Geschichten, die Griffith über seine Familie erzählt hatte, einiges über sie erfahren.

Als er jetzt der Frau gegenüberstand, zu der sich das Mädchen von damals entwickelt hatte, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er wollte neben ihr auf dem blau-weiß gestreiften Sofa sitzen und mit ihr über die Probleme sprechen, die sie in ihrem Brief beschrieben hatte.

Aber das konnte er nicht. Nicht als Marlow. Ihm kam eine Idee. Es war verrückt und angesichts seiner Mission sogar gefährlich.

Aber er konnte sie auf keinen Fall allein lassen, da er sah, dass sie den Tränen nahe war. Er musste etwas tun, um ihren Schmerz zu vertreiben. „Darf ich etwas sagen, Mylady?“

Sie nickte resigniert.

„Ich weiß, dass ich nur ein Kammerdiener bin.“ Und ein Herzog, aber das tut im Moment nichts zur Sache. „Ich weiß nicht viel über die Gepflogenheiten der Gesellschaft.“ Das war nicht wirklich gelogen. Wenn sich ein Mann zehn Jahre vor seiner Familie verbarg und geheimen Missionen nachging, verlor er den Kontakt zur Gesellschaft. „Aber ein Mann, der Lady Georginas Gesellschaft der Ihren vorzieht, schaut nur auf das Äußere.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem trockenen Lächeln und ihre Augen richteten sich auf die abgetretenen Bodendielen.

Du bist wirklich ein Idiot, Ryland! Du hast dieser Frau soeben gesagt, dass ihre Schwester schöner ist als sie.

„Damit will ich sagen, dass ein solcher Mann nur ein oberflächliches Gespräch und oberflächliche gesellschaftliche Nettigkeiten sucht.“ Er räusperte sich. Jetzt war es auch schon egal. Jetzt konnte er auch gleich alle Vorsicht in den Wind schlagen, selbst wenn er damit seine Tarnung als Kammerdiener gefährdete. Nach diesem Gespräch wäre er wirklich gezwungen, ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. „Sie sehen mehr als nur passabel aus.“

Sie hob den Blick und schaute ihn mit großen Augen an. Um ihre Lippen spielte das gleiche trockene Lächeln, das er schon einen Moment zuvor bemerkt hatte. „Sie haben nicht den ganzen Brief gelesen, sagten Sie?“

Mehrmals sogar. Bis ich einige Teile sogar auswendig konnte, denn ich frage mich, warum diese Geständnisse ausgerechnet an mich gerichtet sind. „Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen, Mylady.“

Sie nickte und drehte sich wieder zum Fenster herum. „Danke für Ihre Worte, Marlow. Vielleicht werde ich eines Tages einen Mann meines Standes kennenlernen, der das auch so sieht.“

Ryland fragte sich, wie ein Dienstbote auf eine solche Bemerkung reagieren würde. Eigentlich sollte er beleidigt sein, weil sie Marlows Meinung wegen seiner niedrigen Stellung abtat, aber die Wahrheit war doch: Jede andere Reaktion hätte einen Dienstboten in eine sehr schwierige Situation gebracht. Ihre Reaktion entsprach den gesellschaftlichen Gepflogenheiten.

Er verließ das Zimmer und schalt sich, weil er sie überhaupt angesprochen hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Nur Gottes Gnade hatte ihn davor bewahrt, dass seine Tarnung aufflog. Er hielt kurz inne und nahm sich einen Moment Zeit, um Gott um Weisheit und Schutz zu bitten. Dass er die vergangenen zehn Jahre überlebt hatte und unversehrt geblieben war, grenzte an ein Wunder. Und jetzt brauchte er ein weiteres.

In der darauffolgenden Woche regnete es weiter. An dem einen Tag fielen dicke, große Tropfen träge aus den Wolken, an einem anderen goss es wie aus Kübeln. Selbst wenn es einmal gerade nicht regnete, hingen graue Wolken am Himmel. Oft machte ein feiner Nieselregen einen Spaziergang im Garten zu einem sehr unangenehmen Unterfangen.

Miranda saß am Frühstückstisch und schaute zu, wie die Regentropfen an der Scheibe hinabliefen. Sie stocherte geistesabwesend in den Rühreiern auf ihrem Teller. Ihre Schultern hingen nach unten, ihr Rücken war gebeugt und sie hatte den Mund zu einem Schmollen verzogen. Obwohl ihre Mutter mehrere Stunden entfernt wohnte, konnte sie den Vortrag über die richtige Körperhaltung einer Dame regelrecht hören. Sie ignorierte diese Ermahnung. Sie hatte den Regen so satt.

Mit einem Seufzer schob sie ihren Teller beiseite und lehnte sich an die kunstvoll verzierte Rückenlehne. Solange es nicht aufhörte zu regnen, war sie ans Haus gefesselt. Sie schrieb Briefe und vertrieb sich die Zeit mit Sticken und Klavierspielen. Sie musste diese Monotonie irgendwie durchbrechen. Ihre Geschwister boten auch keine Abwechslung. Das Aufregendste, was sie in dieser Woche getan hatte, war es, Griffiths neuem Kammerdiener aus dem Weg zu gehen. Was überhaupt nicht schwer gewesen war, doch das überraschte sie nicht.

Griffith hatte viel Arbeit für den Mann. Der Regen änderte nichts an den Erwartungen, die an einen Herzog gestellt wurden. Er hatte die letzten Tage in seinem Arbeitszimmer verbracht und all die Dinge erledigt, die erledigt werden mussten, damit auf seinen Ländereien alles reibungslos lief. Wenn er irgendetwas brauchte, schickte er seinen neuen Kammerdiener los. Marlow war auf dem ganzen Gelände unterwegs.

Georgina hingegen sprach von nichts anderem als von der bevorstehenden Saison in London. Miranda war zwar entschlossen, sich für sie zu freuen, und sie weigerte sich, der Eifersucht in ihrem Herzen Raum zu geben, aber sie sah dennoch keinen Grund, ihre Selbstbeherrschung mehr als nötig auf die Probe zu stellen.

Vom Korridor waren ein Rascheln und leise Schritte zu vernehmen. Miranda seufzte und nahm eine angemessenere Haltung ein.

Georgina trat mit einem gezierten Gähnen ins Zimmer. Die Rüschen ihres Tageskleides flatterten, als sie sich im Kreis drehte. „Gefällt es dir?“

Miranda zog eine Braue hoch. „Ist das eines deiner neuen Kleider?“

„Ja. Ist es nicht hübsch?“

„Oh ja. Aber es ist für London bestimmt.“ Miranda richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Teller und schob ein wenig Rührei auf die Gabel.

Georgina zuckte die Achseln. „Mutter ist schließlich nicht da. Außerdem kann dem Kleid doch nichts passieren. Ich werde das Haus bei diesem Wetter bestimmt nicht verlassen. Stattdessen werde ich wahrscheinlich den Vormittag damit verbringen, Klavier zu spielen und zu sticken.“

Georginas Begeisterung für die Aktivitäten, vor denen Miranda graute, entlockte ihr ein kurzes Lachen. Sie musste jedoch zugeben, dass ihre Schwester recht hatte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass diesem Kleid irgendetwas passieren würde. Sie kam sich richtig pingelig vor, weil sie es überhaupt angesprochen hatte.

Der Butler trat ein, während Georgina Miranda gegenüber Platz nahm. Auf dem silbernen Teller in seiner Hand lag ein Stapel Briefe. „Die Post, Mylady.“

„Danke, Lambert.“ Miranda schob den Teller mit ihrem Toast zur Seite und begann, den Stapel durchzusehen. Sie hätte diese Aufgabe auch an Lambert übertragen können, aber sie hatte gern einen Überblick über das, was im Haus passierte. Als sie nach der Wiederheirat ihrer Mutter die Pflichten als Dame des Hauses übernommen hatte, hatte ihr diese Aufgabe das Selbstwertgefühl gegeben, das ihr so sehr fehlte.

Zwei Briefe waren an Georgina adressiert. Miranda schob sie ihr über den Tisch zu, obwohl sie wusste, dass die Briefe erst einmal keine Beachtung finden würden. Georgina erledigte ihre wenige Korrespondenz immer erst dann, wenn sie allein war. Hin und wieder hatte sich Miranda sogar gefragt, ob sie die Briefe ins Feuer warf, weil sie mit nichts belästigt werden wollte, was in ihrem Leben keine wichtige Rolle spielte.

Für Griffith war kein Brief dabei. Das war schon seit über einer Woche so. Irgendwie gelang es Marlow, die Post jedes Mal vor allen anderen in die Hände zu bekommen und alles, was für Griffith bestimmt war, aus dem Stapel zu entfernen.

War es normal, dass ein Kammerdiener sich so intensiv um jeden Aspekt im Leben seines Herrn kümmerte? Sie verdrängte diese Frage schnell wieder. Ihr war zwar langweilig, aber trotzdem wollte sie keine Gedanken an Griffiths Kammerdiener verschwenden.

Mit gerunzelter Stirn schaute sie wieder in den Regen hinaus. Vielleicht würde es am Nachmittag aufklaren und sie könnte einige Pächter besuchen. Mary Blythe erwartete in Kürze ein Kind.

In der Post befanden sich darüber hinaus eine Rechnung vom Schneider, eine Einladung zu einem Fest sowie eine Handvoll persönlicher Briefe von Freundinnen, die sie in London kennengelernt hatte. Wenn sie diese Briefe beantwortete, wäre sie den ganzen Vormittag beschäftigt.

Der letzte Brief trug keinen Absender und die Handschrift war ausgesprochen männlich. Sie runzelte verwirrt die Stirn. Der Brief war eindeutig an sie adressiert und nicht an Griffith. Vielleicht von einem Vetter?

Das Siegel war aus glattem Wachs. Sie konnte weder Wappen noch Initialen entdecken. Miranda schob einen Finger darunter, während sie als Antwort auf Georginas Redeschwall nickte und bestätigende Laute von sich gab. Ihre Schwester erzählte wieder einmal von der Saison in London und von ihrem geplanten Debüt in ein paar Monaten. Zu diesem Thema konnte Georgina lange angeregte Monologe führen. Es war also nicht nötig, dass sich Miranda an dem Gespräch beteiligte.

Sie nahm ihre Tasse, um an der heißen Schokolade zu nippen, während sie den Brief auf dem Tisch glatt strich. Ein kurzer Blick auf den Inhalt genügte und sie verschluckte sich und spuckte die heiße süße Flüssigkeit aus. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Mund und versuchte, wieder Luft zu bekommen und ihre Haltung zurückzuerlangen. Dabei stieß sie jedoch mit der Hand versehentlich auf den Rand ihres Tellers, und die Eier, der Toast und die Marmelade flogen durch die Luft.

Ein lautes Kreischen begleitete Georginas eilige Flucht. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, um ihr neues Kleid vor dem Frühstück ihrer Schwester in Sicherheit zu bringen. „So deutlich musstest du nicht gleich werden! Ich werde mir ja etwas anderes anziehen.“

Sie nahm ihre Briefe und verließ mit einem erbosten Murren über viel zu dominante ältere Geschwister den Frühstückssalon.

Miranda schenkte dem Ausbruch ihrer Schwester keine Beachtung. Irgendwann hätte sie Georgina heute sowieso verärgert. Im Moment gab es ein viel größeres Problem, das ihre Aufmerksamkeit erforderte.

Mit beiden Händen hielt sie den Brief hoch und las ihn noch einmal. Fassungslosigkeit, Schock und Entsetzen breiteten sich in ihr aus. Über dem Brief stand keine Anrede, aber es bestand kein Zweifel, dass dieser Brief für sie, und zwar nur für sie, bestimmt war.

Kennen wir uns?

Viele Grüße

Marshington

Unter seinem Namen befand sich ein zweiter Wachstropfen, in den sein Siegel deutlich hineingedrückt war.

Er hatte den Brief bekommen! Der Herzog von Marshington, dessen Aufenthaltsort der Gegenstand zahlloser Gerüchte und Spekulationen war, hielt sich offenbar nicht sehr weit von Riverton entfernt auf. Er hatte ihren Brief in nur einer Woche bekommen und beantwortet.

Sie vergrub das Gesicht in den Händen und zerknüllte das Blatt Papier. Sie konnte die Tinte immer noch riechen. Wie nah war er? Natürlich spielte sein Aufenthaltsort keine Rolle. Selbst wenn er an diesem Frühstückstisch säße, würde das an ihrem Problem nichts ändern. Was sollte sie machen?

Atmen. Einatmen. Ausatmen.

Sie stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und schob sich mit zitternden Beinen hoch.

Tief und langsam atmen. Nicht in Panik geraten. Vor allem nicht in Ohnmacht fallen.

Ein Diener trat ein und blieb abrupt stehen, als er die verstreuten Reste ihres Frühstücks sah. Er verzog verwirrt das Gesicht, bevor er rasch seine Selbstbeherrschung zurückerlangte und wieder seine ausdruckslose Miene aufsetzte. In der Dienstbotenküche gäbe es heute bestimmt ein interessantes Gesprächsthema.

„Es gab ein kleines Missgeschick …“ Miranda beendete ihren Satz nicht. Es gab keine Möglichkeit, sich würdevoll aus dieser Situation herauszuretten. Im gesamten Zimmer war Essen verstreut und es stammte unübersehbar von ihrem Teller.

„Eine Dame gibt den Dienstboten nie einen Anlass zu Klatsch.“

„Ach, was soll’s?“ Sie nahm den Stapel Briefe und floh aus dem Zimmer.

Sie richtete ihren Blick auf den Boden und starrte auf die Spitzen ihrer eleganten Schuhe, die bei jedem ihrer Schritte unter ihrem Saum hervorlugten. Die Treppe hinauf, den Korridor entlang, hastig in ein Gästezimmer flüchten, um einer Zofe aus dem Weg zu gehen, und dann endlich die angenehme, ungestörte Ruhe ihres Zimmers.

Dort angelangt, lehnte sie sich an die Tür und brauchte ein paar Sekunden, bis sie wieder zu Atem gekommen war.

„Ich bilde mir das alles nur ein! Ich habe ihm nie versehentlich einen Brief geschickt. Ich habe nie einen Brief von ihm bekommen.“ Sie schaute auf das zerknüllte Blatt Papier in ihrer Hand und stöhnte. „Warum mache ich mir etwas vor? Mein Leben ist ruiniert!“

Falls der Herzog von Marshington irgendwann beschloss, aus seinem Versteck herauszukommen, und irgendjemandem ihren Brief zeigte, wäre Miranda gesellschaftlich ruiniert. Nichts könnte sie dann noch retten. Dieser Mann, dem sie nie begegnet war, hielt ihre Zukunft in den Händen. Das war ein sehr ernüchternder Gedanke.

Sie ging auf dem Aubusson-Teppich, den sie sich am Ende ihrer zweiten Saison gegönnt hatte, auf und ab. Damals war sie aufs Land zurückgekehrt, ohne einen einzigen Heiratsantrag bekommen zu haben. Wenigstens keinen, den sie ernsthaft in Betracht gezogen hätte.

„Ich kann das in Ordnung bringen. Es muss eine Möglichkeit geben, das in Ordnung zu bringen. Denk nach, Miranda, denk nach!“

Diese eine Zeile, die ein Aristokrat geschrieben hatte, den seit Jahren niemand mehr gesehen hatte, brannte sich förmlich in ihren Kopf. Überall, wohin sie schaute, sah sie ihn. „Kennen wir uns?“

„Was soll diese dumme Frage? Welchen Unterschied würde es machen, wenn wir uns kennen? Einen solchen Brief könnte ich niemals einem Mann schicken, selbst wenn ich ihn seit meiner Kindheit kennen würde.“

Ihr nervöses Auf und Ab endete vor ihrem kleinen Schreibtisch. Sie saß nicht sehr oft an diesem Tisch, weil sie die größeren Fenster im Salon und in der Bibliothek bevorzugte, durch die deutlich mehr Licht in den Raum fiel. Trotzdem lag ein kleiner Stapel Papier in der flachen Schublade, und eine Feder sowie ein Tintenfass waren auch immer griffbereit.

Sie sank seufzend auf den Stuhl. Mit zitternden Händen strich sie den Brief des Herzogs auf dem Tisch glatt.

„Ich schaffe das. Ich muss mir nur vorstellen, ich wäre in einem Londoner Ballsaal und müsste eine unangenehme Situation klären.“ Leider war das hier die unangenehmste Situation, die man sich nur vorstellen konnte.

Langsam und sorgfältig legte sie ein sauberes weißes Blatt Papier vor sich auf den Schreibtisch. Sie tauchte die Feder mit größter Präzision in die Tinte und achtete sorgfältig darauf, dass nichts auf das Papier tropfte. An dieser Antwort musste alles perfekt sein.

Einige Momente vergingen.

Im Zimmer war es ganz still. Selbst das leise Prasseln der Regentropfen auf die Fensterscheibe verstummte. Die Tinte begann, auf der Spitze ihrer Feder zu trocknen.

Mit einem Stöhnen zog Miranda blaues Papier heran und begann zu schreiben. In einem Fluss aus schwarzer Tinte schüttete sie ihr Herz aus.

Marsh,

du wärst entsetzt, wenn du wüsstest, was ich getan habe. Ich habe dir versehentlich einen Brief geschickt. Es ist mir so furchtbar peinlich, dass mein erster Kontakt zu dir durch einen emotional aufgewühlten Tagebucheintrag zustande kommt. Was musst du nur von mir denken?

Was sollte der Mann schon denken? Es hatte immer die Möglichkeit bestanden, dass sie sich eines Tages begegnen würden. Dass sie ihm in den vergangenen Jahren geschrieben hatte, war so verführerisch, dass sich das Schicksal diese Chance nicht entgehen lassen konnte. Miranda glaubte zwar nicht an das Schicksal, aber offenbar hatte Gott beschlossen, dass sie eine Lektion lernen müsste: Sie durfte andere Menschen nicht ohne deren Wissen benutzen. Vielleicht war es auch irgendeine andere Lektion. Irgendwo in dem Ganzen musste eine Lektion stecken, denn das passierte sicher nicht nur, damit ihr Leben ruiniert war.

Es ist so, dass ich dir seit Jahren schreibe, seit mein Bruder mir Geschichten von dir erzählt hat. Du warst mein fiktiver, aber trotzdem realer Freund, dem ich alles erzählen konnte. Ich habe eine ganze Truhe voller Briefe. Ich kann aber immer noch nicht glauben, dass ich dir tatsächlich einen dieser Briefe geschickt habe!

Noch schlimmer ist, dass du irgendwo in der Nähe sein musst, weil du meinen Brief so schnell bekommen und beantwortet hast! Ich weiß nicht, woher Marlow wusste, wohin er ihn schicken musste.

Und jetzt muss ich dir antworten. Ich kann dir nicht antworten, Marsh. Was soll ich dir denn schreiben?

Ich hoffe, es stört dich nicht, dass du für mich Marsh bist. So nennt dich Griffith, wenn er von dir spricht, auch wenn er das in den vergangenen Jahren nicht mehr oft getan hat. Als er zur Schule ging, hat er viel von dir erzählt. Was mache ich hier eigentlich? Ich muss dir einen richtigen Brief schreiben!

Nachdem sie das Chaos in ihrem Kopf ein wenig sortiert hatte, holte Miranda tief Luft und schob die niedergeschriebenen persönlichen Worte zur Seite. Was konnte sie schreiben, um den Brief zu erklären, den der Herzog von ihr bekommen hatte? Sie musste sich rasch etwas einfallen lassen, denn wenn er in der Nähe war, stand er möglicherweise mit Griffith in Kontakt, und ihr Bruder durfte auf keinen Fall wissen, dass sie seinem Freund regelmäßig schrieb, als wäre sie ein kleines Mädchen, das eine Schwäche für einen Spielkameraden seines großen Bruders hatte. Auch wenn das der Wahrheit unangenehm nahe kam.

Mit einem tiefen Atemzug setzte sich Miranda auf ihrem Stuhl zurecht. Sie schob die Locken aus ihrem Gesicht und biss entschlossen die Zähne zusammen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das weiße Blatt und nahm erneut ihre Feder zur Hand.

Eure Durchlaucht,

ich schäme mich zutiefst wegen des Briefes, den Sie bekommen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie von mir denken müssen. Bitte glauben Sie mir, dass dieser Brief nie hätte abgeschickt werden sollen. Falls sich unsere Wege je kreuzen sollten, hoffe ich, dass Sie diesen Vorfall längst vergessen haben.

Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, imaginäre Briefe an Menschen zu schreiben, die ich nicht kenne, um meine Gedanken zu ordnen. Ich finde das viel hilfreicher, als ein Tagebuch zu führen. Ein kleines Missverständnis sorgte wohl dafür, dass dieser Brief in der Post gelandet ist.

Ich entschuldige mich vielmals.

Hochachtungsvoll

Lady Miranda

Miranda las mehrmals, was sie geschrieben hatte. Die Worte klangen ruhig und gefasst und, was am wichtigsten war, nicht so, als würde sie immer nur dem Herzog von Marshington schreiben, sondern vielen verschiedenen Leuten. Das war viel besser. Wenigstens ihrer Meinung nach.

Als sie den Brief mehrmals gelesen hatte, war die Tinte getrocknet, und sie konnte das Blatt falten, um es in die Post zu geben. Sie schrieb außen auf den Brief den Namen des Herzogs, doch dann erstarrte sie. Sie müsste Marlow suchen, um ihn zu fragen, wohin er ihren letzten Brief geschickt hatte. Ihre Gefühle purzelten wild durcheinander.

Wie wäre es wohl, ihn wiederzusehen?

Seit ihrer Begegnung im Salon in der vergangenen Woche ging dieser Mann ihr offenbar genauso aus dem Weg wie sie ihm. Wenn sie darüber nachdachte, wie oft sie ihm an seinen ersten beiden Tagen im Schloss begegnet war, war es wirklich erstaunlich, dass sie ihn seither nur aus der Ferne gesehen hatte.

Sie tippte mit dem gefalteten Brief nachdenklich auf den Schreibtisch. Wo könnte Marlow mitten am Vormittag stecken? Hoffentlich war er noch in Griffiths Räumlichkeiten. Dort könnte sie ungestörter mit ihm sprechen.

Als sie sich erhob, fiel ihr Blick auf ihren unordentlich gefalteten Tagebuchbrief. Sie sollte diesen lieber in ihre Truhe sperren, um nicht das Risiko einzugehen, dass jemand einen weiteren Tagebuchbrief fand – aber noch wichtiger war, dass sie den echten Brief abschickte, bevor der Mut sie verließ. Sie schob den blauen Brief unter ein Buch, das sie von ihrem Nachttisch nahm. Hier wäre er sicher, solange niemand zu neugierig danach suchte.

Sie strich ihr Kleid glatt, atmete tief ein und marschierte mit dem echten Brief in der Hand entschlossen zur Tür. Nichts würde sie jetzt davon abhalten, Marlow zu finden, selbst wenn sie jeden Dienstboten im Haus nach seinem Verbleib fragen müsste. Sie öffnete die Tür und trat entschlossen hinaus. Sie würde sich durch nichts davon abbringen lassen, diesen Brief sofort abzuschicken.

Dann bekam sie einen Schlag auf die Nase.

Entführung ins Glück

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