Читать книгу Entführung ins Glück - Kristi Ann Hunter - Страница 7
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Miranda stand in völlige Dunkelheit gehüllt in der Eingangshalle. Vermutlich war das ihre gerechte Strafe, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, eine kleine Laterne anzuzünden. Wie hatte sie nur so dumm sein können, mit einer ungeschützten Kerze durchs dunkle Haus zu gehen! Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und wackelte mit den Fingern. Sie sah nichts. Nicht einmal der kleinste Schatten war zu erkennen.
„Das erschwert die Sache natürlich beträchtlich.“
Jetzt stand sie vor der Wahl, im Erdgeschoss nach Streichhölzern zu suchen, um ihre Kerze wieder anzuzünden, oder sich die Treppe hinauf und zurück in ihr Zimmer zu tasten. Den Rückweg in absoluter Dunkelheit zurücklegen zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht. Deshalb tappte sie langsam über den Marmorboden vorwärts. Als sie die Sicherheit des Treppengeländers verließ, hatte sie das Gefühl, in einem Meer aus Dunkelheit zu versinken.
Sie steckte ihre inzwischen kalte Kerze in die Tasche ihres Hausmantels. Dann streckte sie die Hände aus und tastete sich zentimeterweise an der Wand entlang weiter.
Wer hätte gedacht, dass sich Dunkelheit so schwer anfühlte? Die Finsternis bedrängte sie regelrecht von allen Seiten und sie hätte am liebsten größere, schnellere Schritte gemacht oder wäre auf die Knie gesunken und auf dem Boden weitergekrochen. Hauptsache, etwas gab ihr wieder Halt.
Mit einem entschlossenen Seufzen steuerte Miranda auf den Frühstückssalon im hinteren Teil des Hauses zu. In den anderen Zimmern gab es wahrscheinlich auch Streichhölzer, aber sie hatte keine Ahnung, wo das Personal diese aufbewahrte.
Das war der Fluch eines effizienten Haushalts.
Sie kam nur langsam voran. Eine Hand strich über die Erhebungen und Vertiefungen der Prägetapete, die andere hatte sie suchend ausgestreckt, um etwaige Hindernisse frühzeitig zu bemerken.
Miranda schürzte die Lippen und begann zu pfeifen. Ein Stallknecht hatte ihr als Kind das Pfeifen beigebracht, aber sie hatte nie Gelegenheit gehabt, es zu üben, da ihre Mutter es kategorisch verboten und für ungesund erklärt hatte. Die Töne, die aus ihrem Mund kamen, klangen weniger wie eine Melodie sondern vielmehr wie eine willkürliche Wiederholung von drei Noten. Aber alles war besser als die Totenstille des schlafenden Hauses.
Als sie tastend um die Ecke bog, sah sie einen kleinen Lichtschein, der aus der Bibliothek in den Flur fiel und in der Dunkelheit tanzte. Ihre Erleichterung wich schnell einer großen Neugier. Wer war außer ihr noch wach? Georgina hatte sich bestimmt in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie ihrer Zofe von ihrem herrlichen Abend erzählen konnte. Aber ihre Schwester hatte sich ohnehin nie sehr für die Bibliothek interessiert.
Obwohl die Tür nur leicht angelehnt war und das Licht in die andere Richtung fiel, konnte Miranda genug sehen, um sich selbstsicher durch den Korridor zu bewegen. Sie schob die Tür ganz auf und erwartete, Griffith anzutreffen, der irgendein Buch suchte, das er für eines seiner Projekte brauchte.
Doch statt auf Griffith stieß sie nur auf seine Stiefel – vielmehr einen ganzen Berg von seinen Stiefeln –, die auf dem Fußboden vor dem Sofa lagen. Griffiths neuer Kammerdiener saß auf dem Sitzmöbel. Auf seinem Schoß hatte er einen Stiefel ihres Bruders, vor ihm auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch.
„Marlow?“
Er riss seinen Blick von dem Buch los, sprang auf und machte in einer fließenden Bewegung einen Diener. „Mylady, was kann ich für Sie tun?“
„Was machen Sie hier?“ Das schien sie diesen Mann oft zu fragen. Normalerweise hatte sie nicht das Bedürfnis, ihren Bediensteten solche Fragen zu stellen.
„Ich poliere die Stiefel des Herzogs, Mylady.“
„Natürlich.“ Miranda war versucht, die Augen zu verdrehen, aber sie verkniff es sich.
„Eine Dame bewahrt vor dem Personal immer Haltung.“
Und eine Dame verdrehte auch nicht die Augen.
Marlow stand vollkommen still da und sah sie an. Das machte sie ein wenig nervös.
„Ich kann nicht schlafen.“ Warum hielt sie es für nötig, ihm ihre Anwesenheit zu erklären? Das hatte sie noch nie getan, aber seltsamerweise hatte sie das Gefühl, Marlows Privatsphäre gestört zu haben.
„Soll ich Ihnen eine Tasse warme Milch bringen? Oder vielleicht einen Tee?“
„Ich war auf dem Weg in die Küche, um mir Tee zu kochen, als meine Kerze ausging.“ Sie zog die Kerze aus ihrer Tasche und hielt sie hoch.
Marlow öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber schnell wieder. Nach einem Moment setzte er erneut an. „Verzeihen Sie, Mylady, aber wissen Sie, wie man Tee macht?“
„Natürlich.“ Jede Dame konnte einen Tee ziehen lassen.
„Entschuldigen Sie, Mylady.“
Sie standen einige Sekunden wortlos da. Er beobachtete sie stumm, während ihr Blick durch das Zimmer glitt. Griffith sollte die Bücherregale umstellen lassen. Diese Raumaufteilung war alles andere als einladend.
Marlow räusperte sich. „Ich glaube, im Ofen in der Küche brennt kein Feuer mehr.“
„Ja, das denke ich auch.“ Ihre Fingernägel sahen ein bisschen ungepflegt aus. Hatte sie wieder daran gekaut, ohne es zu merken?
Er räusperte sich erneut. Tat er das immer, bevor er etwas sagte? „Können Sie eigentlich ein Feuer anzünden?“
Sie gab sich geschlagen und setzte sich auf den Stuhl an einem kleinen Eckschreibtisch. Miranda verzichtete darauf, sich wie eine Dame zu benehmen, und ließ sich mit einem resignierten Seufzen auf das weiche Polster plumpsen. „Nein. Das kann ich nicht.“
„Wenn Sie erlauben, Mylady, hole ich Ihnen einen Tee.“ Er machte eine perfekte Verbeugung und wandte sich zur Tür.
„Danke, Marlow“, sagte Miranda, als er schon fast aus dem Zimmer war.
Während sie auf seine Rückkehr wartete, spielte Miranda mit den Federn und dem Papierstapel auf dem Schreibtisch. Der kleine Schreibtisch war einer ihrer Lieblingsplätze, wenn sie Briefe schrieb. Ein Stapel Briefe, die an Freundinnen aus London und mehrere entfernte Verwandte adressiert waren, lag bereits dort und wartete darauf, am Morgen frankiert und zur Post gebracht zu werden.
Sie nahm ein Blatt von dem blauen Papier aus ihrem Stapel, da ihre Gefühle wie so oft sehr aufgewühlt waren. Dann tauchte sie eine Feder in die Tinte und begann zu schreiben.
Lieber Marshington,
Georgina hatte heute ihr kleines Debüt in Hertfordshire. Bereits hier hat sie ziemlich viele Verehrer; wenn sie in ein paar Monaten nach London kommt, wird sie zweifellos von Bewunderern umschwärmt werden.
Kann man sich gleichzeitig freuen und traurig sein? Ich glaube, ich freue mich ehrlich über ihren Erfolg, aber mir haben diese vielen Männer, die sie jetzt umschwärmen, kaum Beachtung geschenkt, als ich vor ein paar Jahren mein Debüt hatte.
Miranda brachte ihre Gefühle hastig kritzelnd zu Papier. Dass sich darauf hier auch ein Tintenfleck und dort ein verwischtes Wort befanden, spielte keine Rolle. Niemand außer ihr würde diese Worte je zu Gesicht bekommen, und sie nahm sich selten die Zeit, ihre Briefe noch einmal zu lesen.
Irgendwann sollte sie die Briefe wahrscheinlich einmal verbrennen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Stattdessen bewahrte sie ihre Briefstapel in einer Truhe unter ihrem Bett auf.
Diese Briefe hatten ihr immer wieder geholfen, nicht den Verstand zu verlieren. Sie war längst über das Alter hinaus, in dem Fantasiefreunde akzeptabel waren. Dass ihr „Freund“ eigentlich kein Produkt ihrer Fantasie war, sondern einfach nichts von ihrer Existenz und den Briefen wusste, war nur ein schwacher Trost.
Trotzdem ließ sie auch viele Jahre nach dem ersten Brief die Vorstellung nicht los, dass Griffiths alter Freund sie verstehen würde.
Ich weiß, dass ich relativ intelligent bin, dass ich passabel aussehe und dass ich einen Haushalt leiten kann. Wobei: Heute Abend musste ich feststellen, dass ich noch nicht mal Feuer machen kann. Warum sollte mich also irgendein akzeptabler Mann umwerben wollen?
Wenigstens ein einziges Mal würde ich gern jemanden kennenlernen, der sich von Griffith nicht einschüchtern lässt. Leider gibt es hier keine anderen Herzöge. Ein Herzog würde vor einem anderen nicht katzbuckeln. Du bist natürlich ein Herzog, aber wir sind uns nie begegnet. Deshalb ist es im Moment ziemlich unwahrscheinlich, dass du mich umwerben würdest.
Nun denn. Ich glaube, ich höre Marlow mit meinem Tee kommen.
Viele Grüße
Miranda
Sie faltete den Brief eilig zusammen und schob ihn unter den Briefstapel, als Marlow mit einem Teetablett die Bibliothek betrat.
„Ihr Tee, Mylady“, sagte er mit einer Verbeugung.
Mirandas Blick wanderte von dem Kammerdiener zu dem Teeservice. Der tröstliche Duft nach frisch aufgebrühtem Tee stieg ihr in die Nase, und sie konnte spüren, wie mit jedem Atemzug die Entspannung wuchs.
Sie sollte ihm eine Tasse anbieten. Es war mitten in der Nacht, und es war niemand da, der sie sehen könnte. In diesem Fall bräuchte sie sich doch wirklich nicht an die Etikette zu halten.
Dann hörte sie es erneut: „Eine Dame ist zu jeder Zeit eine Dame.“
Nicht schon wieder! Sie verdrängte die wohlvertraute Stimme ihrer Mutter aus ihrem Kopf und hatte große Mühe, sich dabei ein Grinsen zu verkneifen. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis das Haus aus seinem Schlaf erwachte. Außerdem betrachteten seine grauen Augen sie mit einer faszinierenden Direktheit. Es war … schlichtweg erfrischend.
Sie trat vom Schreibtisch zum Sofa und versuchte, sich unauffällig die Hände an ihrem Hausmantel abzuwischen. War ihr beim Schreiben so warm geworden? „Würden Sie mir Gesellschaft leisten?“
Er blickte sie überrascht an.
Mirandas Herz begann in ihrer Brust zu hämmern. Sie waren allein. So allein, wie sie noch nie mit einem Mann gewesen war, weder mit einem Dienstboten noch mit irgendeinem anderen Mann.
Sie sollte ihre Einladung zurücknehmen. Diese grauen Augen lösten bei ihr eine starke Unruhe aus. Sie schienen viel zu viel zu sehen. Es war, als könnte er in ihre Seele blicken und ihre Gedanken und Gefühle lesen. Was für ein lächerlicher Gedanke! Dieser Mann regte ihre Fantasie viel zu sehr an.
„Es wäre mir eine Ehre, Mylady.“ Obwohl er mit einem Ja antwortete, zögerte er, bevor er auf der anderen Seite des niedrigen Tisches Platz nahm.
Miranda begann, den Tee einzuschenken. Sie erkundigte sich, ob er Milch und Zucker wolle, und reichte ihm seine Tasse, bevor sie sich mit ihrer eigenen Tasse zurücklehnte. Sie hatte die Etikette bereits in den Wind geschlagen. Dann konnte sie jetzt auch auf eine steife Haltung verzichten.
„Wie sind Sie zu der Stelle bei meinem Bruder gekommen, Marlow? Mir war nicht bewusst, dass er sich nach einem neuen Kammerdiener umgesehen hat. Es war natürlich höchste Zeit. Herbert muss inzwischen schon sechzig sein.“
„Wir haben uns zufällig im Dorf getroffen. Ich hatte gerade, ähm, meine letzte Stelle verloren. Ihr Bruder fand mich sympathisch, und jetzt bin ich hier.“
„Wirklich? Das klingt so gar nicht nach Griffith“, murmelte sie. Griffith tat nie etwas, ohne es sich vorher genau zu überlegen und einen bis zwanzig gute Gründe für eine Entscheidung zu haben.
„Dann bin ich für diese Stelle noch dankbarer.“ Marlow nippte stumm an seinem Tee und wartete offenbar darauf, dass sie das Gespräch in die Hand nahm.
Wollte sie ein Gespräch mit ihm führen? Ja. Ja, das wollte sie. Wenn auch vielleicht nur, damit sie das Gefühl hatte, irgendetwas selbst in die Hand nehmen zu können. „Haben Sie früher schon als Kammerdiener gearbeitet?“
„Ja, Mylady.“
Miranda trank einen großen Schluck Tee und dachte angestrengt nach, worüber sie sich mit ihm unterhalten könnte – irgendetwas, was nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Sie wollte wirklich nicht wissen, wie es war, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, einem Herrn beim Anziehen zu helfen, vor allem nicht, wenn dieser Herr ihr Bruder war. Aber da sie beschlossen hatte, sich mit ihm zu unterhalten, war sie nicht bereit, diesen Versuch so schnell aufzugeben.
Ihr Blick wanderte zu ihm zurück, als würde ihr ein geeignetes Thema einfallen, wenn sie ihn nur lange genug anschaute. Doch dabei wurde ihr nur bewusst, dass sie sich geirrt hatte, als sie gedacht hatte, kein Mann könnte eine Jacke so gut ausfüllen wie ihre Brüder. Entweder trug Marlow Schulterpolster oder seine Muskeln füllten seine Jacke perfekt aus. Sie räusperte sich und blickte wieder auf ihre Teetasse. Winzige blaue Blumen auf weißem Porzellan waren wesentlich ungefährlicher.
„Haben Sie hier in der Nähe Familie?“
„Nein, Mylady. Ich bin allein. Es kann sein, dass ich in Derbyshire ein paar Verwandte habe, aber ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen.“
„Sie sind in Derbyshire aufgewachsen?“
„Nein, in Kent.“
Sie schaute ihn verwirrt an. Es war nicht ungewöhnlich, dass aristokratische Familien weit voneinander entfernt lebten, da viele Adelige in London einen Ehepartner fanden, der aus einem anderen Teil des Landes stammte. Aber Angehörige der Arbeiterschicht?
„Wie kam es, dass Sie voneinander getrennt wurden? Kent ist weit von Derbyshire entfernt.“
„Ein kleiner Umzug hier, ein großer Umzug da, und man landet dort, wohin einen die Arbeit führt.“ Sein Blick wanderte in die Ferne, und sie vermutete, dass er gerade an seine weit verstreut lebende Verwandtschaft dachte. Mit einem kleinen Lächeln und einem Achselzucken nippte er wieder an seinem Tee.
„Ich verstehe“, sagte Miranda, obwohl sie es eigentlich überhaupt nicht verstand. Ein Dienstbote müsste schon seine Arbeitsstellen schon ziemlich häufig wechseln, um den weiten Weg von Kent nach Derbyshire zurückzulegen und dann weiter nach Hertfordshire zu kommen. Marlow konnte nicht viel älter sein als Griffith. „Was lesen Sie da?“
Marlow warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen neben dem Stiefelberg lag. „Shakespeares ,Was ihr wollt‘.“
„Ist das die Komödie, in der eine junge Frau vorgibt, ein Mann zu sein, und in den Dienst eines Herzogs tritt?“
Er nickte.
„Ich habe nie verstanden, wie das gelingen soll. Ich kann mir nicht einmal eine Tasse Tee kochen, geschweige denn andere Menschen bedienen.“ Sie warf einen finsteren Blick auf die Teekanne, als wäre ihre Unfähigkeit, Tee zu kochen, die Schuld der Kanne. „Abgesehen von den praktischen Aspekten müsste man ja allem zuwiderhandeln, wozu man von Kindesbeinen an erzogen wurde.“
Marlow räusperte sich. „Ich glaube, Mylady, dass dahinter der Gedanke steckt, dass man zu allem bereit ist, wenn die Situation es erfordert. Ich glaube, alle Menschen, auch Adelige, können verborgene Talente in sich entdecken, wenn das nötig ist, um bestimmte Ziele zu erreichen.“
Nach mehreren Augenblicken unbehaglichen Schweigens stellte er seine Tasse wieder auf das Teetablett. „Wenn Sie ausgetrunken haben, räume ich das Geschirr weg, Mylady.“
„Natürlich.“ Sie stellte ihre Tasse schweigend ab und erhob sich. Das Lächeln, mit dem sie den Kammerdiener bedachte, war nicht so gezwungen, wie sie erwartet hatte. Dieses kurze Gespräch war alles andere als angenehm gewesen, aber Zeit mit ihm zu verbringen war aufregender gewesen als alles andere, was sie in letzter Zeit getan hatte. „Danke für den Tee.“
Mit einem letzten Blick auf den Kammerdiener entzündete sie ihre Kerze und ging in ihr Zimmer zurück. Es war erstaunlich, dass jetzt so wenig Licht ausreichte, dass sie den Weg problemlos zurücklegen konnte.
Als sie ihr Zimmer erreicht hatte, spürte sie, dass ihre Nerven sich beruhigt hatten, und der Gedanke, schlafen zu gehen, erschien ihr jetzt nicht mehr so unangenehm. Eine kleine Stimme wandte zwar ein, dass dies mehr dem Tee und dem Gespräch geschuldet war als dem Brief, in dem sie Marshington ihr Herz ausgeschüttet hatte, aber sie weigerte sich, das zuzugeben.
Er stellte das Teeservice mit größter Vorsicht auf den Küchentisch, obwohl er es am liebsten gegen die Wand geschleudert hätte. Doch damit würde er die Haushälterin wecken. Er bezweifelte zwar nicht, dass es ihm gelingen würde, sie zu besänftigen, aber es war besser, wenn niemand herausfand, dass er mit der Dame des Hauses Tee getrunken hatte.
Die Dienstboten würden zweifellos die Nase rümpfen und ihn spüren lassen, was sie von seinem eingebildeten Verhalten hielten.
Marlow. Er war Marlow. Er durfte nicht vergessen, dass er einfach nur Marlow war und niemand sonst.
Er kippte die Teeblätter aus der Kanne und tauchte die Kanne ins Spülwasser. Warum hatte er ihr von seiner Familie erzählt? Zugegeben, er hatte nicht alles erzählt. Die Verwandten in Derbyshire waren weit entfernte Verwandte mütterlicherseits. Die Tante und der Vetter, die in London wohnten, waren viel näher mit ihm verwandt, aber sie erwähnte er nie.
Meistens versuchte er zu vergessen, dass es sie überhaupt gab.
Wenn es sie nicht gäbe, wäre sein Leben viel leichter. Wenn sein Vetter nicht wäre, wäre er nie nach Frankreich gegangen. Dann hätte er nie die Welt der Spionage betreten und würde bestimmt nicht die Stiefel eines Herzogs putzen.
Was bedeutete, dass er auch nie mitten in der Nacht mit Lady Miranda Tee getrunken hätte. Und das wäre wirklich schade.
Mit einem Lächeln hinterließ er die Küche so, wie er sie vorgefunden hatte. Niemand würde etwas von dem mitternächtlichen Tee ahnen.
Während er zur Bibliothek zurückging, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Er ließ jede Einzelheit ihres Gesprächs Revue passieren und versuchte herauszufinden, was sie zu ihren Worten veranlasst und wie sie reagiert hatte. Warum hatte sie ihn eingeladen, mit ihm Tee zu trinken? Er hatte eine zweite Tasse aufs Tablett gestellt, da er die Kanne hatte leeren wollen, wenn sie wieder zu Bett gegangen war. Er hätte nie damit gerechnet, dass sie ihn einladen würde, sich zu ihr zu setzen.
Sein Blick fiel auf den kleinen Schreibtisch. Als er mit dem Tee zurückgekommen war, hatte sie sich eilig erhoben. Hatte sie etwas versteckt?
Vor Grauen zog sich sein Magen zusammen. Solange nicht das Gegenteil bewiesen war, stand jedes Mitglied des Haushalts unter Verdacht, aber er hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen, dass Griffith oder jemand aus seiner Familie hinter dem Verrat stecken könnte.
Und wenn er sich irrte?
Er verdrängte den Gedanken daran, dass er Miranda charmant und großmütig fand, und sah mit professioneller Ruhe die Papiere auf dem Schreibtisch durch. Briefe an Familienmitglieder und Angehörige des englischen Adels interessierten ihn wenig. Hier fand er nichts Ungewöhnliches. Außerdem war die Post das Erste, was das Kriegsministerium durchsuchen ließ.
Er zog die Brauen hoch, als er ganz unten in dem Stapel ein blaues Blatt Papier entdeckte. Es war schief gefaltet, so ganz anders als die präzise gefalteten Blätter der anderen Briefe, und es stand keine Adresse darauf.
Er faltete den Zettel auseinander und traute seinen Augen kaum. Sie schrieb dem Herzog von Marshington? Ihm stockte der Atem, als er den Brief las. Sie schrieb dem Herzog nicht nur. Sie schüttete ihm ihr Herz aus. Der Brief ließ auf eine enge Beziehung schließen.
Er sank aufs Sofa und starrte in die tanzenden Flammen des Kaminfeuers. Das veränderte alles.