Читать книгу Entführung ins Glück - Kristi Ann Hunter - Страница 6
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Habe ich dich eben etwa mit Mr Ansley tanzen sehen?“
Miranda drehte sich um. Ihre Freundin, Mrs Cecilia Abbot, die frühere Miss Cecilia Crosby, stand lächelnd vor ihr. Die beiden Frauen hatten sich in der Ecke dieses Ballsaals schon oft flüsternd unterhalten.
„Ja.“ Miranda trat neben Cecilia und beobachtete gemeinsam mit dieser den Saal, während sie sich unterhielten. „Er wollte wissen, ob meine Schwester gern auf die Jagd geht. Offenbar plant seine Familie einen Jagdausflug.“
„Der arme Mann! Mit Ausflügen in die Natur wird er Georginas Interesse bestimmt nicht wecken.“
Dass er keinen Titel hatte, stellte ein viel größeres Hindernis dar als seine Liebe zur Jagd, aber Miranda war Cecilia dankbar, dass sie das nicht so deutlich aussprach. „Sie hat mir heute Morgen erst gesagt, dass sie sich schon allein deshalb auf London freut, weil es dort nicht so viel Natur gibt. Dort beschränken sich die Aktivitäten im Freien darauf, im Hyde Park spazieren zu fahren und durch die Lustgärten zu schlendern.“
„Hm.“ Cecilia blickte sich im Saal um, bevor sie Miranda aus dem Augenwinkel anschaute. „Du hast auch mit Lord Osborne getanzt.“
Miranda errötete leicht. Sie hatte gehofft, dass das niemandem aufgefallen wäre. „Ja, das stimmt.“
Cecilia räusperte sich. „Hat er sich ebenfalls nach Georgina erkundigt?“
Wenn ihr jemand anders diese Frage gestellt hätte, hätte Miranda wahrscheinlich gelogen. Selbst im Gespräch mit ihren zahllosen anderen Freundinnen hätte sie gelacht und erzählt, wie entzückend der Tanz gewesen wäre. Aber Cecilia hatte keinerlei gesellschaftliche Ambitionen. Sie war nicht einmal während der Saison nach London gezogen, sondern lieber in Hertfordshire geblieben, um einen Mann zu finden, der sie so liebte, wie sie war.
Die Glückliche!
Miranda strich mit ihrem Handschuh über ihren Rock und schaute den Tänzern zu. „Er hat gefragt, ob wir über die Wintermonate in die Stadt ziehen werden. Er hat angeboten, mit uns auf dem Serpentine Schlittschuh zu laufen, falls er zufriert.“
„Was für ein grauenhafter Grund, um den ganzen Winter in London festzusitzen!“ Cecilia verzog angewidert das Gesicht.
„Mr Quinn hat sich wiederum erkundigt, ob Georgina das Theater genauso sehr liebt wie ich.“ Miranda lächelte und hoffte, dass es natürlich aussah. Wenn sie die Stirn zu sehr runzelte, würde sie nur ungebetene Aufmerksamkeit auf sich ziehen. „Wenigstens hat er sich erinnert, dass ich gern ins Theater gehe.“
Cecilia betrachtete sie mitfühlend. „Sie tanzen nicht alle nur wegen Georgina mit dir. Oder wegen deines Bruders, des Herzogs. Das weißt du doch.“
„Möglich. Aber ich habe heute Abend deutlich mehr Aufforderungen zum Tanz bekommen, als bei den üblichen Bekannten der Familie und Ehemännern von Freundinnen zu erwarten gewesen wäre“, erwiderte sie.
„Das liegt daran, dass du allen anderen einen Korb gibst.“
„Nicht allen.“ Miranda schaute zu, wie ihre Schwester sich auf der Tanzfläche drehte und Lord Eversly anlächelte, der fast dreißig Kilometer entfernt wohnte. War er etwa den ganzen Weg nur deshalb gekommen, um Georgina kennenzulernen?
Miranda kannte diese Männer seit mindestens vier Jahren. In dieser Zeit hatten sie es kaum für nötig befunden, ein Wort mit ihr zu wechseln. Geschweige denn, mit ihr zu tanzen.
Georginas Schar von Bewunderern war im Laufe des Abends stetig gewachsen. Zufriedenheit und Abscheu rangen in Miranda um die Vorherrschaft, während sie eine Hand auf die Perlenverzierungen an ihrem Kleid legte.
„Wird es in London die ganze Zeit so sein, Cecilia? Ich bin nicht sicher, ob ich diese Demütigung ertragen kann. Alle werden mich mit ihr vergleichen und dabei werde ich nicht gut abschneiden. Im Gegenteil, alle werden mich für eine alte Jungfer halten.“
Miranda zwickte sich in den Finger, um die Tränen zurückzudrängen.
„Eine Dame zeigt in der Öffentlichkeit nie ihre Gefühle.“
Die Erinnerungen an die häufigen Ermahnungen ihrer Mutter erschienen ihr so real, als stünde diese neben ihr. Sie vernahm diese Worte sogar in Mutters Stimme.
„Du bist ganz gewiss keine alte Jungfer. Es ist erst deine vierte Saison. Und es gibt mehr vermögende Frauen, die lieber warten. Nur die Verzweifelten tun so, als müsse man unbedingt in der ersten Saison einen Mann finden.“
Miranda schwieg. Was Cecilia sagte, stimmte. Miranda hatte mehr Angst davor, dass vor allem ihre feste Entschlossenheit, einen Mann zu finden, dem es um sie ging und nicht nur um die Beziehungen ihrer Familie, sie um eine glückliche Ehe bringen würde. Was sollte sie tun, wenn ihre Schwester vor ihr die große Liebe fand?
„Außerdem“, sprach Cecilia weiter, „bist du doch keine alte Jungfer, wenn du Heiratsanträge ablehnst. Im vergangenen Jahr hast du zwei bekommen, nicht wahr?“
„Ja“, murmelte Miranda, die an diese beleidigenden Anträge gar nicht denken wollte. Sie hatten nur ihre Entschlossenheit gefestigt, sich mit nicht weniger als der bedingungslosen Liebe eines Mannes zufrieden zu geben. Sie war mittlerweile nicht mehr überrascht darüber, dass viele Männer nur deshalb heiraten wollten, um sich politische oder materielle Vorteile zu verschaffen. In ihrer ersten Saison hatte sie sich jedoch aufgrund ihrer Unerfahrenheit in den Grafen von Ashcombe verliebt, nur um dann herausfinden zu müssen, dass es ihm lediglich darum ging, mit der Mitgift auch einen Teil von Griffiths Grundbesitz zu bekommen.
„Jetzt Schluss damit!“ Cecilia hakte sich bei Miranda unter. „Du fängst an, mürrisch auszusehen. Komm, lass uns doch einmal schauen, welch interessanten Klatsch sich die Damen da drüben erzählen, die wirklich zu den alten Jungfern zählen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung verfügen sie immer über die neuesten Informationen.“
Die Gruppe der unverheirateten Damen stand weit von der Tanzfläche entfernt. Nachdem sie sich ein neues Glas Limonade genommen hatten, um den Anschein zu erwecken, sie würden eine Tanzpause einlegen, schlenderten Miranda und Cecilia in ihre Richtung. Sie blieben mit dem Rücken zu der Gruppe stehen, um den Frauen unauffällig zu lauschen.
„Habt ihr schon gehört? Mr Barrister ist gestern aus London zurückgekehrt. Er erzählt, dass Lady Marguerite schon wieder versucht, ihren Neffen für tot erklären zu lassen!“
Miranda wandte sich unauffällig um und warf einen Blick auf die Frau, die gerade an ihrer Erfrischung nippte und den Rest des Saals offenbar völlig vergessen hatte.
Eine andere Frau öffnete ihren Fächer und wedelte sich Luft zu. „Das wird ihr nie gelingen! Solange sie keine Beweise hat, kann sie den Herzog nicht für tot erklären.“
Miranda schaute Cecilia mit großen Augen an. Das war wirklich eine interessante Neuigkeit. Es kam nicht alle Tage vor, dass eine Frau versuchte, ein Herzogtum für ihren Sohn zu ergattern. Sie drehte leicht den Kopf, um die Frauen trotz der Musik besser zu verstehen.
„Und wenn er tatsächlich tot ist? Wie lange werden sie warten?“
„Sein Verwalter sagt, dass er regelmäßig Briefe von ihm bekommt, in denen er Anweisungen gibt, wie er sein Vermögen und seine Geschäfte verwalten soll.“
„Die könnte ja jeder schreiben. Ich habe gehört –“
„Hätten Sie Lust, mit mir zu tanzen?“
Miranda zuckte angesichts dieser abrupten Störung so zusammen, dass ein wenig Limonade auf ihren Handschuh schwappte. Sie hob den Blick. Mr Barrister, von dem die Frauen gerade gesprochen hatten, stand höchstpersönlich vor ihr und hielt ihr die Hand hin, um sie auf die Tanzfläche zu geleiten.
„Ja, sehr gern.“ Miranda reichte der kichernden Cecilia ihr Glas und bemühte sich, ein wenig mehr zu lächeln. „Mit dem größten Vergnügen.“
Sie zwang sich, in seine hellblauen Augen zu schauen, während sie sich zwischen den anderen Tanzpaaren bewegten. Viele junge Frauen schrieben sehr schlechte Gedichte über Mr Barristers strahlend blaue Augen. Miranda fand sie jedoch bei Weitem nicht so reizvoll wie graue Augen, die an einen stürmischen Himmel erinnerten.
Sie stolperte und wäre beinahe gegen die Frau gestoßen, die neben ihr tanzte. Woher war dieser Gedanke denn so plötzlich gekommen? Während sie mit Mr Barrister tanzte, sollte sie eigentlich nicht an die Augen eines anderen Mannes denken. Vor allem sollte sie aber nicht an einen Kammerdiener denken!
Die nächste Stunde verging glücklicherweise ohne besondere Vorkommnisse, aber Miranda atmete trotzdem erleichtert auf, als ihre Mutter ihr mitteilte, dass sie jetzt nach Hause fahren würden.
„Wenn wir ein wenig früher gehen, machen wir den Leuten bewusst, dass Georgina noch sehr jung ist.“ Mutter wickelte ihr Tuch um ihre Schultern und verließ den Ballsaal. „Ich selbst brauche auch meinen Schlaf. Vor mir liegt morgen eine lange Heimfahrt.“
„Wann kommst du wieder?“
„Ich werde erst wiederkommen, um euch zu helfen, für London zu packen. Ende Februar, nehme ich an. Wenn wir von unserer Reise an die Küste zurückkehren, werden wir erst einmal Lord Blackstones Tochter eine Weile besuchen.“ Ihre hellblauen Augen wurden feucht. „Sie will, dass die Kinder ,Großmutter‘ zu mir sagen.“
„Warum auch nicht? Du wirst sie lieben, als seien es deine eigenen Enkel. Und Lord Blackstone wird unsere Kinder genauso lieben wie die seiner eigenen Töchter.“
Mutter schnaubte leise. Augenblicklich war sie nicht länger emotional, sondern die strenge Mutter, die Miranda nur allzu vertraut war. „Vorausgesetzt, einer von euch heiratet irgendwann einmal und bekommt Kinder.“
Miranda verkniff sich ein Stöhnen.
„Eine kluge Dame guter Herkunft hat die Verantwortung, ihre Gaben an die nächste Generation weiterzugeben. Einige behaupten zwar, der Verstand sei auf den Vater zurückzuführen, aber ich versichere dir, dass das nicht der Fall ist.“
Mirandas Stöhnen verwandelte sich in ein Grinsen. Mutter benutzte ihre Ermahnungen, wie sich eine Dame zu verhalten habe, sogar, um ihre Tochter zum Heiraten zu ermutigen. Sie konnte es offenbar nicht erwarten, ihre Kinder unter die Haube zu bringen.
Griffith und Georgina gesellten sich zu ihnen und sorgten so dafür, dass Miranda sich keine passende Antwort überlegen musste.
„Was für ein herrlicher Abend!“ Georgina lehnte sich mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer zurück. „Ich denke, erwachsen zu sein gefällt mir. Habt ihr gesehen, wie viele Bewunderer ich hatte?“
Mutter drückte sanft Georginas Hand.
„Du scheinst einen vorzüglichen Abend gehabt zu haben.“ Miranda war stolz darauf, dass ihr ein Lächeln gelang. Es fühlte sich fast echt an.
Georginas Miene wurde ernst. „Natürlich würde ich nur wenige von ihnen in Erwägung ziehen. Wir sind hier ja nur auf dem Land. In London wird es zweifellos Herren geben, die eine bessere gesellschaftliche Stellung innehaben.“ Sie schaute Miranda mit ihren grünen Augen, die für eine Achtzehnjährige zu erwachsen dreinblickten, vorwurfsvoll an. „Miranda, du hättest mir erzählen können, wie wunderbar es ist, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.“
Wenn jemand Miranda vorgeworfen hätte, ihre Schwester angeknurrt zu haben, hätte sie das rundweg abgestritten. Doch niemand sagte etwas. Miranda konnte sich also damit trösten, dass die anderen nichts gehört hatten, falls sie ihrem Ärger tatsächlich mit einem abschätzigen Laut Luft gemacht haben sollte.
Als sie nach Hause kamen, tänzelte Georgina durch die Eingangshalle. Das Licht des Kronleuchters fiel auf sie und verwandelte sie in das strahlendste Objekt im Raum.
Miranda schüttelte den Kopf. War sie nach ihrem Debüt in der Gesellschaft auch so aufgedreht gewesen? Wahrscheinlich. Ihr Auftreten war durchaus ein Erfolg gewesen, aber nicht so unvergleichlich, wie das ihrer Schwester es augenscheinlich werden würde.
Nachdem sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange gegeben und ihren Geschwistern zugewinkt hatte, ging Miranda die ersten Stufen hinauf. „Gute Nacht. Falls ich dich morgen früh nicht mehr sehen sollte, Mutter, wünsche ich dir schon jetzt eine gute Fahrt!“
„Du gehst schon ins Bett?“ Das Schmollen in Georginas Stimme war nicht zu überhören. „Können wir uns nicht noch ein wenig unterhalten? Fandest du Lord Everslys Tanzkünste nicht himmlisch? Ich denke, er war heute Abend mein bester Partner.“
„Ich habe heute nicht mit Lord Eversly getanzt.“ Miranda hatte noch nie mit Lord Eversly getanzt. Nicht einmal in London, wo sie sich auf dem Höhepunkt der Saison zwei- bis dreimal in der Woche begegneten. Lord Eversly gab sich nie viel mit heiratswilligen jungen Damen ab. Dass er an diesem Abend mit Georgina getanzt hatte, deutete schon an, dass ihre Schwester zu den begehrtesten Debütantinnen der Saison gehören würde.
Miranda schaute Georgina an und umklammerte krampfhaft das Treppengeländer. „Es freut mich, dass du einen so schönen Abend hattest. Ich verspreche dir, dass wir morgen alles ausführlich Revue passieren lassen.“
Sie betete, dass ihr ein guter Schlaf helfen würde, diese lächerlichen Gefühle loszuwerden, um ihrer Schwester nicht die gute Laune zu verderben. Die Treppe verschwamm vor ihren tränenbenetzten Augen, als sie sich umwandte und auf ihr Zimmer ging.
Die Familie machte viel Lärm, als sie an diesem Abend nach Hause kam. Warum auch nicht? Im Gegensatz zu ihm schlichen sie schließlich nicht herum und versuchten, Verstecke ausfindig zu machen, in denen geheime Informationen verborgen waren.
Dass die Familie zurückkehrt war, bedeutete, dass er heute nicht mehr weitersuchen konnte. Auch wenn es ihm nicht sonderlich gefiel, war seine derzeitige Tarnung mit zusätzlicher Arbeit verbunden. Es spielte keine Rolle, dass sein „Herr“ in den Plan eingeweiht war. Er musste Griffith trotzdem aus seinem maßgeschneiderten Anzug helfen und sich um seine Garderobe kümmern.
Marlow schlüpfte aus Lady Blackstones Zimmer. Da sie am nächsten Morgen abreiste, hatte er nur an diesem Abend Gelegenheit gehabt, ihre Sachen zu durchsuchen, auch wenn es nahezu undenkbar war, dass sie etwas mit dem Verrat zu tun haben könnte, den er untersuchte.
Er presste sich in die Fensternische, als Lady Miranda die Treppe heraufkam. Sie wirkte gedankenverloren und fast traurig. Ihre tiefen, zitternden Atemzüge hallten auf dem Flur wider.
Nein. Ihre Atemzüge gingen ihn nichts an. Sie ging ihn nichts an. Augenblicke später schloss sich ihre Tür leise hinter ihr. Er steuerte auf Griffiths Zimmer zu und bemühte sich, mit gleichmäßigen Schritten an Lady Mirandas Tür vorbeizugehen.
Sie war nur eine Ablenkung.
Und Ablenkungen konnten zu Misserfolgen und sogar zum Tod führen.
Diese spezielle Ablenkung hätte fast dafür gesorgt, dass er die sich ihm bietende Gelegenheit nicht genutzt hätte, Lady Blackstones Zimmer vor ihrer Abreise zu durchsuchen. Er konnte nicht zulassen, dass diese Mission nur deshalb scheiterte, weil ihm Lady Miranda nicht aus dem Kopf ging. Bei der nächsten sich ihm bietenden Gelegenheit würde er ihr Zimmer durchsuchen, auch wenn dieser Gedanke ihn nervös machte.
Er betrat nur wenige Momente vor Griffith dessen Schlafzimmer.
„Wie war Ihr Abend, Durchlaucht?“ Marlow half Griffith aus seiner Jacke und begann, sich um die übrigen abendlichen Pflichten zu kümmern.
„Ermüdend.“ Griffith, der gerade in einen dunkelgrünen Hausmantel schlüpfen wollte, hielt inne. „Wie war dein Abend?“
„Wünschen Sie heute Abend noch etwas, Durchlaucht?“
Griffith seufzte. „Du willst es also wirklich durchziehen?“
Marlow biss sich auf die Zunge, um sich eine Antwort zu verkneifen. Er musste den Kammerdiener glaubwürdig spielen. Alles andere würde nur die Gefahr erhöhen, dass man seine wahre Identität aufdeckte.
„Nein.“ Griffith band den Gürtel an seinem Mantel zu. „Ich werde zu Bett gehen. Ich muss die Zeit nutzen, in der ich ungestört schlafen kann. Wenn die Saison erst einmal anfängt, wird Georgina mich noch früh genug um den Schlaf und um den Verstand bringen.“
Marlow verbeugte sich und war froh, dass Griffith diese Situation nicht nutzte, um ihm seine Aufgabe zu erschweren. Wenn Marlow nur seine anderen Pflichten genauso effizient erledigen könnte! Aber er musste seine Rolle perfekt spielen, um den Täter zu überlisten, der dieses Haus ebenfalls als Tarnung benutzte. Diese Aufgabe mit der Arbeit als Griffiths Kammerdiener zu verbinden, war schon schwer genug.
Marlow lud sich Schuhe und Stiefel auf den Arm und verließ das Ankleidezimmer. Er wollte beides gleich heute Abend putzen. Dann hätte er in den nächsten Tagen ein wenig mehr Zeit für seine Nachforschungen.
Der penetrante Geruch von hochwertigem Leder und verschwitzten Füßen stieg von den Stiefeln und den Abendschuhen auf. Er konnte es nicht erwarten, diese Arbeit hinter sich zu bringen.
Nachdem sie sich zum Schlafen fertig gemacht hatte, konnte sich Miranda nicht überwinden, unter die Decke zu schlüpfen und die Augen zu schließen. Wenn sie ihre aufgewühlten Gefühle nicht endlich beruhigen würde, würde es ihr nie gelingen einzuschlafen. Und dann wäre sie am nächsten Morgen müde und gereizt und wahrscheinlich den ganzen Tag lang unerträglich. Nein, sie wollte lieber noch eine Weile wach bleiben und Frieden finden.
Ihre Mutter hatte ihr häufig eingebläut: Eine Dame sorgt dafür, dass ihre Familie nie unter ihren Launen leidet.
Bekam Georgina die gleichen Ermahnungen zu hören? Wenn ja, verstand sie es viel besser, sie zu ignorieren, als Miranda das jemals gelungen war.
Miranda setzte sich an den Ankleidetisch und spielte mit der Kette, die Sally noch nicht weggeräumt hatte. Die Goldkette drehte sich auf dem Tisch und zog die tropfenförmigen Diamanten über die polierte Oberfläche. Sie berührten einander wie Paare, die über die Tanzfläche schwebten. Die Geräusche, die die Anhänger von sich gaben, wenn sie gegeneinanderprallten, klangen ebenfalls wie Musik.
Wenn sie ehrlich war, tobte vor allem ein Gefühl in ihr: Eifersucht. Und das behagte Miranda überhaupt nicht. Sie war kein zwölfjähriges Mädchen mehr, sondern eine zwanzigjährige Frau, die bald einundzwanzig werden würde. Dass die Männer ihr nicht so viel Beachtung schenkten wie ihrer Schwester, war nicht fair, aber es war ganz gewiss nicht Georginas Schuld. Miranda hingegen hatte mehrere Heiratsanträge abgelehnt. Deshalb konnte sie nur sich selbst die Schuld dafür geben, dass sie keinen Mann und keine eigene Familie hatte.
Warum war sie dann eifersüchtig? Das Gefühl hatte nichts damit zu tun, dass Georgina von so vielen Bewunderern umgeben gewesen war. Miranda hatte ihre Chancen gehabt, aber sie hatte festgestellt, dass den meisten Männern die Eigenschaften fehlten, die sie sich bei einem Ehemann wünschte. War es die Arglosigkeit ihrer Schwester? Dass sie die Möglichkeit zu einem Neuanfang hatte?
Frustriert warf Miranda die Kette in die Schmuckschatulle und schloss den Deckel. Sie fühlte sich unwohl. Es war, als würde sich ihr Herz irgendwo in der Nähe ihres Magens befinden.
Sie stützte die Arme auf den Tisch und vergrub ihren Kopf in den Händen. „Gott“, murmelte sie, „was ist nur mit mir los? Ist das wirklich dein Plan für mich? Ich will nicht allein bleiben.“
Als eine Träne auf den Frisiertisch fiel, fuhr Miranda hoch. Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie wollte nicht weinen. Sie wollte nicht länger hier sitzen und düsteren Gedanken nachhängen. Aber bei dem Gedanken, sich ins Bett zu legen, erschauerte sie.
„Tee“, sagte sie und schlug mit den Handflächen auf den Tisch. „Ich werde einen Tee trinken. Das wird mir guttun.“
Doch da gab es ein Problem: Das Personal war schon schlafen gegangen und Miranda wollte niemanden wecken.
„Also gut, Miranda. Wie schwer kann es schon sein, dir deinen Tee selbst zu kochen? Du hast doch schon Hunderte Male welchen ziehen lassen. Spielt es wirklich eine Rolle, dass du das Wasser nie selbst gekocht hast? Stell dich nicht so an!“ Miranda stöhnte. „Oh du meine Güte, ich weiß nicht, was armseliger ist: dass ich noch nicht einmal Tee kochen kann oder dass ich Selbstgespräche führe.“ Nichtsdestotrotz musste sie ein wenig schmunzeln.
Miranda nahm die Kerze von ihrem Frisiertisch und ging die Treppe hinab. Im Haus war es fast unheimlich still. Alles war in tiefe Dunkelheit gehüllt. Der Mond hatte hell am Nachthimmel gestanden, als sie vom Tanzsaal aufgebrochen waren, aber noch bevor sie zu Hause angekommen waren, waren dichte Wolken aufgezogen. Das wenige Licht, das durch die Wolken drang, wurde jetzt durch die schweren Vorhänge an den Fenstern ausgesperrt.
Da ihre Familie und alle Dienstboten bereits schlafen gegangen waren, kam ihr der große Landsitz kalt und einsam vor. Um diese Zeit war von der fröhlichen, gemütlichen Atmosphäre, die sie gewohnt war, nichts zu spüren.
Bevor Miranda den Fuß der Treppe erreicht hatte, trat sie auf den Rand ihres Hausmantels. Ein verzweifelter Griff um das Treppengeländer und eine schnelle Fußbewegung bewahrten sie vor einem Sturz. Sie dankte stumm ihrer Tanzlehrerin, die sie viele raffinierte Schritte gelehrt hatte. Dieses Können hatte ihr jetzt geholfen, nicht den Halt zu verlieren.
Allerdings war ihre Kerze ausgegangen.