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Hertfordshire, England, Herbst 1812

Lady Miranda Hawthorne würde ihre Schwester an diesem Abend unterstützen und wenn es sie umbrächte. Allerdings fühlte sich ihr Gesicht angesichts des gezwungenen Lächelns schon jetzt ein wenig taub an. Sie massierte sich die Wangen und hoffte, dass es sich dadurch weniger künstlich anfühlen würde.

Die junge Frau drehte den Messinggriff, riss schwungvoll die Tür auf und trat hinaus in den Korridor. Ihr Gang war tadellos, ihre Haltung perfekt. Sie würde sich durch nichts dazu verleiten lassen, die endlosen Lektionen ihrer Mutter über das für eine Dame angemessene Verhalten über Bord zu werfen.

Dann lief sie gegen eine Wand.

Nun ja, es war nicht direkt eine Wand. Wände tauchten schließlich nicht mitten auf dem Flur auf und trugen ein wollenes Jackett.

„Entschuldigen Sie, Mylady.“

Wände sprachen auch nicht.

Miranda blickte an der Wand hinauf, die in Wirklichkeit ein kräftig gebauter Mann war. Sie trat einen Schritt zurück und brachte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Unbekannten. Ihr Blick wanderte nach oben. Und noch weiter nach oben.

Die letzten spärlichen Strahlen der Sonne fielen durch ein großes Fenster am Ende des Korridors und warfen schwache goldene Quadrate auf den Boden und auf die breite Brust dieses Mannes.

Er war kein Mitglied ihrer Familie. Alle ihre Verwandten hatten blonde Haare, selbst diejenigen, deren Verwandtschaftsgrad so weitläufig war, dass sie nicht einmal behaupten würden, mit ihnen verwandt zu sein, wenn Mirandas Bruder kein Herzog wäre. Der schwach beleuchtete Flur verhinderte, dass sie seine Haarfarbe genau erkennen konnte, aber das vor ihr stehende „Hindernis“ hatte sehr dunkle Haare, die in seinem Nacken zu einem kurzen Zopf zurückgebunden waren.

Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich bewusst, welche Stellung sie innehatte. Sie war eine Dame. Sie war die Tochter eines Herzogs und die Schwester eines Herzogs. Irgendwo in ihrem Inneren musste also die aristokratische Arroganz stecken, die so viele ihrer Freundinnen ganz natürlich ausstrahlten. Falls dieser Eindringling schändliche Absichten hatte, waren Worte ihre einzige Verteidigung. Seine langen Arme könnten sie zum Stehenbleiben zwingen, bevor sie auch nur zwei Schritte weit käme.

Er hatte sich allerdings noch nicht bewegt. Stattdessen stand er wortlos im Korridor, während sie ihn fragend musterte.

„Verzeihung.“ Miranda hätte am liebsten vor Stolz gejubelt. Ihr kurz angebundener, arroganter Tonfall verriet, dass sie ganz gewiss niemanden um Verzeihung bat. „Wer sind Sie?“

Sie versuchte, ihm in die Augen zu schauen, aber sein direkter Blick machte sie nervös. Die interessante Geruchskombination aus Seife und einem Hauch Tannenwald störte ihre Konzentration. Deshalb starrte sie auf sein Kinn. Da der Flur in Schatten gehüllt war, würde er nicht sehen können, worauf sie ihren Blick richtete. Hoffte sie zumindest.

Er hielt ein schwarzes Abendjackett hoch. „Ich bringe Seiner Durchlaucht das Jackett für den Abend. Ich musste es noch einmal bügeln.“

Miranda kniff die Augen zusammen. „Sie mussten es noch einmal bügeln? Sollte nicht Herbert die Kleidung des Herzogs bügeln? Ich frage Sie noch einmal: Wer sind Sie?“

„Ich –“

Hinter ihr wurde eine Tür geöffnet. Beide wandten den Kopf. Ihr Bruder Griffith trat aus seinem Zimmer. „Da sind Sie ja, Marlow.“

Mirandas Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Beide waren groß, auch wenn Griffith ein wenig größer war. Er war ein blonder Riese mit einer muskulösen Figur und breiten Schultern. Griffiths Auftreten war ebenso eindrucksvoll wie sein Titel. Dieser neue Mann, Marlow, war ein bisschen kleiner und nicht ganz so kräftig – und er hatte natürlich keinen Adelstitel –, aber irgendwie wirkte der Kammerdiener stärker.

Dieser Gedanke war lächerlich. Griffith war der Herzog von Riverton und im besten Mannesalter.

Griffith legte den Arm um ihre Schultern und deutete auf die menschliche Wand. „Miranda, das ist mein neuer Kammerdiener.“

Sie blinzelte überrascht. „Wo ist Herbert?“

Griffith schüttelte den Kopf, bevor er sich umdrehte, um sich von Marlow in seine Jacke helfen zu lassen. „Liebe Miranda, Herbert ist alt. Er hat sich zur Ruhe gesetzt. Er hat mir 15 Jahre gedient, und vorher hat er mindestens 30 Jahre lang Vater gedient. Hast du erwartet, dass er hier arbeitet, bis er stirbt?“

Miranda zog beide Brauen hoch und blickte ihn finster an. „Nein, aber ich dachte, du hättest das erwartet. Ich hatte dir schon vor drei Jahren vorgeschlagen, dass du ihm eine Rente zahlen solltest.“

Sie drehte sich um, um den neuen Kammerdiener zu begrüßen. Als er sich verbeugte und zum Gruß mit dem Kopf nickte, umspielte ein kleines Lächeln seine Mundwinkel. Im Gegensatz zu allen Kammerdienern, denen sie bis jetzt begegnet war, senkte er nicht den Blick.

Ihr stockte der Atem, als sie in seine auffallend grauen Augen sah. Sie hatte Grau bislang immer für eine ausgesprochen langweilige und leblose Farbe gehalten, aber die Augen dieses Mannes ließen sich eher mit geheimnisvoll und lebendig beschreiben. Sie waren tiefgründig und geheimnisvoll.

Miranda schüttelte diese verrückten Gedanken ab und nickte höflich. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Marlow. Ich hoffe, die Arbeit hier gefällt Ihnen.“

„Danke, Mylady.“ Der Kammerdiener verbeugte sich. Dann rückte er Griffiths Krawatte zurecht. Mit einem leichten Nicken trat er zur Seite.

Griffith bot ihr seinen Arm an und sie schritten durch den Korridor.

„Wann hast du ihn eingestellt?“, flüsterte Miranda, als sie die Treppe erreichten. Sie warf rasch einen Blick hinter sich und sah, dass der Kammerdiener sich in die andere Richtung entfernte.

„Heute Morgen. Bis jetzt bin ich mit ihm ganz zufrieden.“

„Das hoffe ich doch sehr. Wenn du nach nicht einmal zwölf Stunden schon mit ihm unzufrieden wärst, wäre das keine gute Voraussetzung für eine weitere Beschäftigung.“

Sie traten zu ihrer Mutter in den Salon.

„Miranda, du siehst hübsch aus.“

Während die Arme ihrer Mutter sie leicht berührten, versuchte Miranda, sich daran zu erinnern, dass das Kompliment ein Zeichen ihrer Zuneigung war. Die Bemerkung, dass ihre Mutter dies nur sagte, weil sie ein pastellfarbenes Kleid trug, verkniff sie sich. In der vergangenen Saison hatte ihre Mutter ihr erlaubt, diese Farbe anstelle der Weiß- und Beigetöne zu tragen, in die sie Miranda in ihren ersten beiden Jahren gekleidet hatte. Die kommende Saison wäre ihre vierte, und Miranda hoffte, diese Farben, die für ihren Teint nicht gerade vorteilhaft waren, endlich ganz ablegen zu können.

„Es tut mir leid, dass William dich auf dieser Reise nicht begleiten konnte.“ Miranda setzte sich auf das mit grünem Brokat überzogene Sofa, da sie wusste, dass sie wahrscheinlich eine Weile warten müssten, bis ihre jüngere Schwester Georgina erschien.

Ein kleines Lächeln war auf dem Gesicht ihrer Mutter zu sehen, als sie sich neben Miranda setzte. „Das tut mir auch leid. Das nächste Mal werde ich länger bleiben und er wird mich begleiten.“

Griffith nahm in einem Klubsessel Platz. „Kommst du zu Weihnachten wieder?“

Mutter schüttelte den Kopf. „Wir haben beschlossen, über die Feiertage an die Küste zu fahren und dort zu feiern. Wie ihr wisst, haben wir noch keine Hochzeitsreise gemacht.“

Als ihre Mutter von ihrem zweiten Ehemann sprach, wirkte sie um Jahre jünger, obwohl sie schon immer jünger ausgesehen hatte als andere Frauen in ihrem Alter. Wenn sie so lächelte, könnte man sie fast für Mirandas Schwester halten.

Mutter tätschelte Mirandas Hand. „Ich kann euch allen nicht genug dafür danken, dass ihr uns dieses Jahr von allen Verpflichtungen befreit habt.“

Griffith erhob sich und küsste seine Mutter auf die Wange. „Das war doch selbstverständlich, Mutter. Seine Kinder sind verheiratet und deine sind auch schon fast alle erwachsen. Es war nur angemessen, dass ihr euch euer eigenes Zuhause einrichten konntet, ohne Rücksicht auf uns zu nehmen.“

Miranda nickte zustimmend. Aber sie musste zugeben, dass das vergangene Jahr für sie selbst auch befreiend gewesen war. Da sie nicht länger unter ständiger Beobachtung gestanden hatte und von ihrer Mutter nicht unablässig daran erinnert wurde, wie sich eine Dame zu verhalten hatte, hatte sie sich ein wenig entspannen können. Sie hatte ihr Leben genossen und sogar ein paar neue Freundinnen gefunden. Dass ihre Mutter seit einer Woche wieder hier war, stellte eine große Herausforderung für Mirandas Selbstbeherrschung dar.

Mutter warf einen besorgten Blick zur Tür. „Aber bin ich Georgina gegenüber zu egoistisch? Es war für sie nicht leicht, dass ich ausgezogen bin. Vielleicht sollte ich hierbleiben. Oder sie mit nach Blackstone nehmen.“

Miranda hatte noch nie erlebt, dass ihre Mutter etwas infrage gestellt hätte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie diese Frau immer nur selbstsicher, selbstbewusst und unerschütterlich erlebt. Es schmerzte sie, Zweifel und Schuldgefühle im Blick ihrer Mutter zu sehen. Vor allem, da diese Schuldgefühle daher rührten, dass sie endlich einmal an sich selbst gedacht hatte, und das war etwas, wozu alle ihre Kinder sie überredet hatten.

Griffith legte seiner Mutter eine Hand auf die Schulter. „Und jetzt, da es darauf ankommt, bist du für sie da. Du unterstützt Georgina bei ihrem Debüt, auch wenn dies nur bei einer kleinen Gesellschaft auf dem Land stattfindet.“

„Miranda hat es damals gutgetan, klein anzufangen. Ich wollte, dass es Georgina ebenso ergeht.“

Ihre älteste Tochter räusperte sich und richtete ihren Blick auf eine rot-grüne Vase auf der anderen Seite des Zimmers. Dieser sogenannte „Vorteil“ hatte Miranda wenig geholfen. Schließlich war sie immer noch unverheiratet und fürchtete, dass sich an diesem Zustand in absehbarer Zukunft auch nichts ändern würde.

In diesem Augenblick rauschte eine groß gewachsene Achtzehnjährige in einem blendend weißen Kleid ins Zimmer. Es war einfach nicht fair, dass Georgina Weiß tragen konnte und darin wie ein Engel aussah, obwohl sie und Miranda eine ähnliche Hautfarbe hatten. Sie strahlte einen besonderen Glanz aus, der sie ein wenig unnahbar und übernatürlich wirken ließ.

Miranda erinnerte sich noch gut an das energiegeladene Mädchen mit den wilden blonden Locken von früher. Sie hatte sich gemausert. „Du siehst heute sehr schön aus, Georgina.“

„Danke, liebe Schwester. Du siehst heute Abend auch gut aus. Dieses Blau passt deutlich besser zu deinem Teint als Weiß. Es freut mich, dass du in diesem Jahr mehr Farbe in deine Garderobe bringen konntest.“

Ihre kleine Schwester war ein bisschen verwöhnt. Hatte Georgina gerade versucht, ihr ein Kompliment zu machen, oder wollte sie ihre Schwester daran erinnern, dass sie nicht länger zu der Gruppe ganz junger Frauen gehörte, die versuchten, den besten Ehemann zu ergattern?

Wie dem auch sei, ein Kompliment aus Georginas Mund war etwas Seltenes und Wunderbares. Sie sollte es einfach annehmen. „Danke. Mir gefällt es auch, eine andere Farbe zu tragen. Vielleicht steche ich aus dem Meer an Weiß später ein wenig heraus.“

Miranda verzog leicht das Gesicht, als Georgina hämisch grinste und ihre Mutter die Stirn runzelte. Diese letzte vielsagende Bemerkung hatte sie eigentlich für sich behalten wollen. Aber man brauchte nicht viel Fantasie, um auf die Idee zu kommen, dass die Herren sie reizvoller finden könnten, wenn sie nicht mehr so blass und krank aussah.

Ungebeten tauchte das leichte Lächeln des Kammerdieners vor ihrem inneren Auge auf, begleitet von der Erinnerung an seinen Geruch. Miranda hätte am liebsten das Fenster geöffnet, damit der kühle Abendwind den Geruch dieses Mannes aus ihrer Erinnerung vertrieb. Die Aussicht, das Leben als alte Jungfer zubringen zu müssen, musste sie mehr belasten, als ihr bewusst gewesen war, wenn ihr schon ein Kammerdiener nicht mehr aus dem Sinn ging.

Wenn es sich dabei auch um einen sehr gut aussehenden Kammerdiener handelte.

Nachdem sie sich einige Minuten unterhalten hatten, stiegen sie in die bereits wartende Kutsche. Miranda saß mit ihrem Bruder mit dem Rücken in Fahrtrichtung, um ihrer Mutter und ihrer Schwester die Plätze zu überlassen, die einen besseren Ausblick boten. Georgina lehnte sich zur Seite, um aus dem Fenster zu schauen. Ihr aufgeregtes Plappern erfüllte während der gesamten Fahrt die Kutsche.

Eifersucht regte sich in Miranda. Sie war schon lange nicht mehr so aufgeregt gewesen oder hatte einer Abendgesellschaft voller Vorfreude entgegengeblickt. Gesellschaftliche Veranstaltungen waren für sie inzwischen einfach etwas, woran sie teilnahm. Sie waren auf ihre Art immer noch unterhaltsam, aber auch ausgesprochen alltäglich geworden.

Mutter sprach mit ruhiger Stimme auf Georgina ein, aber Miranda achtete nicht auf das, was sie sagte. Wahrscheinlich erinnerte Mutter sie daran, welches Verhalten von ihr erwartet wurde. Miranda hatte diese Ermahnungen schon so oft gehört, dass sie sie im Schlaf aufsagen konnte.

Minuten später hielt die Kutsche, und sie stiegen aus, um den kurzen Weg zur Eingangstür zu Fuß zurückzulegen. Mutter drückte Georginas Arm und beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Georginas Lächeln wurde noch breiter – wie war das überhaupt möglich? –, und sie nickte, bevor sie Mutters Wange küsste.

Miranda blickte sich um und betrachtete die anderen Gäste, die zur Eingangstür strömten. Sie kannte sie alle. Die gleichen Gesichter wie in den vergangenen drei Jahren.

Die vier gingen zwischen den kunstvoll geschnitzten Laternenpfosten hindurch zum Eingang. Es kam ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, seit sie selbst zum ersten Mal diesen jetzt so vertrauten gepflasterten Weg zurückgelegt hatte. Das laute Klappern der Wagenräder und der Pferdehufe hatte damals wie Musik in ihren Ohren geklungen. Jetzt empfand sie es einfach nur als laut.

Miranda bewegte sich langsam und war fest entschlossen, all das wahrzunehmen, was ihr in den vergangenen Saisons vielleicht entgangen war, weil es noch so neu und aufregend gewesen war.

Als sie den Ballsaal betrat, hatte sich bereits ein Kreis von Bewunderern um Georgina geschart. An die Stelle der unschuldigen Aufregung während der Kutschfahrt waren eine gut eingeübte Anmut und ein leichter Hauch von Koketterie getreten. Sie schwebte in ihrem strahlend weißen Kleid bereits über die Tanzfläche, und die Schar der jungen Männer, die ihre Bewegungen verfolgten, kündigte an, dass sie den Rest des Abends sehr begehrt sein würde.

Miranda drängte die Eifersucht zurück. Sie nahm ein Glas Limonade und schlenderte auf die andere Seite des Saals, um sich mit einigen verheirateten Freundinnen und einer Gruppe Mütter zu unterhalten, die ihre Töchter vom Rand der Tanzfläche aus beobachteten.

Er hatte in den vergangenen neun Monaten mindestens zwanzig Namen benutzt, aber keiner hatte ihm so große Schwierigkeiten bereitet wie dieser. Nicht zu vergessen, dass er Marlow, der Kammerdiener eines der angesehensten und mächtigsten Männer des Landes, war, was ihn große Anstrengung kostete.

Jetzt musste er denken, handeln und sogar atmen wie Marlow, der Kammerdiener des Herzogs von Riverton. Über den Schreibtisch dieses Mannes gingen jeden Tag unzählige wertvolle Informationen. Welche dieser Informationen für Napoleon von Bedeutung waren, wusste er nicht.

Der kleinste Fehler konnte das Ende der gesamten Mission bedeuten. Seiner letzten Mission.

Er drängte diesen Gedanken zurück, da er nicht daran erinnert werden wollte, wie viele Männer bei ihrem letzten Auftrag verletzt, gefangen genommen oder getötet worden waren. Er musste vorsichtig und wachsam sein, wenn er tatsächlich irgendwann aus diesem Geschäft aussteigen wollte.

Und er weigerte sich, als „Marlow“ zu sterben. Der Name war schrecklich. Genau aus diesem Grund hatte er ihn für diesen Auftrag gewählt. Dieser Name würde ihn davon abhalten, sich in seiner Haut zu wohl zu fühlen und zu vergessen, dass er sich als Dienstbote des mächtigen Herzogs von Riverton in diesem Haus aufhielt und nicht als sein Freund.

Sobald die Familie zur Tanzveranstaltung aufgebrochen war, hatten die Dienstboten das Haus für die Nacht vorbereitet. Während die letzten Hausmädchen in den oberen Stockwerken beschäftigt waren, bereitete Marlow das Schlafzimmer für Griffiths Rückkehr vor – nein, für die Rückkehr Seiner Durchlaucht.

Er hatte das Zimmer des Herzogs gleich nach seiner Ankunft an diesem Nachmittag durchsucht. Alles in ihm sträubte sich vehement gegen den Gedanken, dass sein ältester Freund Kenntnis von den verräterischen Aktivitäten haben könnte, die sich auf seinem Landsitz abspielten, aber Marlow konnte es sich nicht leisten, diese Möglichkeit außer Acht zu lassen.

Zunächst einmal war jeder verdächtig.

Die unbewohnten Schlafzimmer waren leicht zu durchsuchen und konnten schnell von seiner Liste gestrichen werden. Diese Zimmer regelmäßig zu benutzen wäre zu auffällig. Seine Zielobjekte benutzten für ihre schändlichen Aktivitäten wahrscheinlich einen viel öffentlicheren Raum. Es war immer am leichtesten, sich vor aller Augen zu verstecken.

Vor Lady Mirandas Zimmer blieb er mit der Hand auf dem Türgriff stehen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich daran erinnerte, dass sie aus ihrem Zimmer marschiert war, als zöge sie in eine Schlacht.

Ihre leidenschaftliche Entschlossenheit hatte ihn überrascht. Er wusste, dass er viel zu lange unter falschen Identitäten gelebt hatte, aber ihm war nicht bewusst gewesen, dass allein schon der Anblick von ehrlichen Gefühlen eine so starke Wirkung auf ihn haben würde.

Die Sekunden verstrichen und seine Hand lag weiterhin auf dem Türgriff. Er musste ihr Zimmer durchsuchen. Nur weil sie eine schöne Frau mit leidenschaftlichen Emotionen war, schloss sie das nicht von vornherein von jedem Verdacht aus. Einige würden sie deshalb sogar für besonders verdächtig halten. Seine Instinkte sagten ihm, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie ihr Bruder, aber er konnte es sich nicht leisten, dieser vagen Intuition zu vertrauen. Er brauchte Beweise.

Entschlossen zog er die Hand zurück. Er wollte sich gerade mit der Hand durch die Haare fahren, doch dann fiel ihm ein, dass er diese zu einem Zopf zurückgebunden hatte. Diese perfekte – und lästige – Frisur war ein wichtiger Teil seiner Tarnung und musste für den Fall, dass ihn jemand sah, tadellos bleiben. Er machte seiner Frustration Luft, indem er auf dem Absatz kehrtmachte und seine Jackenaufschläge mit einer unwirschen Bewegung zurechtrückte.

Mirandas Zimmer wäre morgen auch noch da. Er könnte seine Suche in den öffentlicheren Räumlichkeiten beginnen und sich später mit seinem sonderbaren Zögern auseinandersetzen. Dass er Zweifel hatte, hieß nicht, dass sie unschuldig war, sondern nur, dass er sich bei seiner Untersuchung von seinen Instinkten leiten ließ. Er war sich fast sicher, dass der Gesuchte ein Mitglied des Personals war. Deshalb wollte er lieber mit den Zimmern anfangen, zu denen fast alle Dienstboten Zugang hatten.

Als er geräuschlos die Treppe hinunterging, glaubte er diese Erklärung fast selbst.

Entführung ins Glück

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