Читать книгу Entführung ins Glück - Kristi Ann Hunter - Страница 8

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Obwohl sie in dieser Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte, starrte Miranda hellwach zur Zimmerdecke hinauf, als die Sonne ihre ersten Strahlen zwischen den Vorhängen hindurchsandte. Warum konnte sie nicht ein wenig länger schlafen? Sie musste heute nirgends hinfahren und hatte keine wichtigen Termine, die sie einhalten musste. Das war das Schöne am Leben auf dem Land: Sie konnte frei über ihre Zeit verfügen.

Sie gönnte sich den Luxus, kräftig zu gähnen, während sie aufstand und nach dem Glockenzug griff. Dann trat sie in der Hoffnung, dass die Lichtstrahlen, die schon ins Zimmer drangen, einen schönen Morgen ankündigten, ans Fenster. Ein warmer, strahlender Sonnentag begrüßte sie, als sie den grünen Brokatstoff zur Seite zog. Sie blickte zum Himmel hinauf, sah aber keine Anzeichen dafür, dass Regen bevorstand. Keine einzige Wolke war am weiten Blau zu sehen.

Als hinter ihr jemand vernehmlich hüstelte, wandte sie das Gesicht vom Fenster ab und sah, dass ihre Zofe Sally das Zimmer betreten hatte.

„Guten Morgen“, begrüßte Miranda sie, bevor sie noch einen letzten Blick auf die schöne Landschaft warf.

„Guten Morgen, Mylady.“

Miranda wandte sich vom Fenster ab, während Sally ein cremefarbenes Tageskleid bereitlegte. Cremefarben. Was ihr angesichts ihres Teints auch nicht viel besser stand als Weiß. Mit einem Seufzen trat sie vor, um sich für den Tag ankleiden zu lassen. Vielleicht könnte sie später hinausgehen und mit Georgina einen Spaziergang machen. Bis dahin würden jedoch Stunden vergehen, da ihre Schwester nur selten vor dem Mittagessen zu irgendeiner körperlichen Aktivität bereit war.

Sally steckte gerade die letzte Haarnadel an ihrer Frisur fest, als ein leises Klopfen ertönte. Neugierig ging Miranda zur Tür, während Sally das Nachthemd und den Morgenmantel wegräumte. Wer kam schon so früh am Morgen zu ihr?

Möglicherweise ihre Mutter mit einem letzten Rat oder einer letzten Ermahnung. Oder Georgina, die so aufgeregt war, dass sie noch gar nicht geschlafen hatte? Die Haushälterin käme nur zu Miranda, wenn ein Notfall vorläge.

An den Kammerdiener ihres Bruders hatte sie nicht einmal ansatzweise gedacht, aber genau dieser stand jetzt vor ihr. Er war korrekt gekleidet, sein Auftreten war professionell, und man sah ihm überhaupt nicht an, dass er sich die Nacht damit um die Ohren geschlagen hatte, in der Bibliothek Stiefel zu polieren.

„Oh! Marlow!“, sagte Miranda. Sie steckte den Kopf aus der Tür und schaute nach links und rechts, als erwarte sie, noch jemanden auf dem Korridor zu sehen. „Ist etwas mit dem Herzog?“

„Nein, Mylady. Er schickt mich, um Sie zu bitten, so bald wie möglich zu ihm in sein Arbeitszimmer zu kommen.“

„Tatsächlich?“ Miranda runzelte verwirrt die Stirn. Seit wann sandte Griffith wegen persönlicher Angelegenheiten seinen Kammerdiener los und nicht irgendeinen einfachen Diener?

„Ja, Mylady.“ Marlow verbeugte sich korrekt und machte Anstalten zu gehen. Doch dann hielt er inne und drehte sich noch einmal zu Miranda um. „Außerdem wollte ich Ihnen mitteilen, dass ich die Briefe aufgegeben habe, die Sie in die Bibliothek gelegt hatten. Seine Durchlaucht hatte heute Morgen eine dringende Korrespondenz. Deshalb habe ich Ihre Post auch gleich aufgegeben.“

„Oh!“ Miranda strich mit der Hand über die Rüschen ihres Tageskleids. Waren alle Kammerdiener gegenüber den anderen Mitgliedern der Familie so hilfsbereit? Herbert hatte sich nie die Mühe gemacht, ihre Briefe aufzugeben oder sich um jemand anderen als um Griffith und gelegentlich um Trent zu kümmern, aber andererseits war er bei Mirandas Geburt auch schon älter gewesen.

„Danke“, sagte sie. „Der Herzog ist in seinem Arbeitszimmer, sagten Sie?“

Marlow nickte, wandte sich ab und schritt auf dem Flur davon. Miranda verließ ihr Schlafzimmer und folgte ihm. Als sie zwei Schritte weit gekommen war, blieb Marlow abrupt stehen und drehte sich um. Er warf ihr aus seinen grauen Augen wieder einen seiner durchdringenden Blicke zu.

„Kann ich Ihnen helfen, Mylady?“

Miranda errötete leicht. Warum kam es ihr nur so vor, als hätte er die Oberhand in dieser „Beziehung“? Es bestand doch kein Grund, verlegen zu sein. Immerhin war sie die Dame des Hauses und er nur ein Bediensteter. Nach dem vertrauten Gespräch in der Nacht musste sie sowohl sich selbst als auch Marlow an diese Tatsache erinnern. „Nein danke, Marlow. Das war alles.“

Marlow zog die Brauen leicht hoch, nickte aber und setzte seinen Weg fort.

Miranda errötete stärker. Das war alles? Sie wand sich innerlich, als sie daran zurückdachte, wie hochmütig sie geklungen haben musste. Was war mit ihr los? Sie schüttelte den Kopf und schritt den Korridor entlang.

Als sie ihn eingeholt hatte, warf er ihr einen kurzen Seitenblick zu. Miranda wandte den Kopf und sah ihn an, aber ihre Beine bewegten sich zielstrebig und selbstsicher weiter.

„Ich bin auf dem Weg zu Griffiths Arbeitszimmer.“

„Natürlich, Mylady.“ Marlow nickte ihr zu und ging ebenfalls weiter. Er schien nur zu schlendern, hielt aber trotzdem mit ihrem forschen Tempo Schritt.

„Dort wartet er doch auf mich, nicht wahr?“ Miranda hob das Kinn noch ein wenig höher. Er war zwar höflich, hilfsbereit und wahrte die nötige Distanz, aber trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er sich hinter seiner perfekten unterwürfigen Miene insgeheim über sie lustig machte.

„Ja, Mylady. Tisch.“

„Tisch?“

„Tisch!“

Miranda schaute den Mann mit zusammengekniffenen Augen an. Wovon sprach er?

Marlows Hand schoss hervor, packte sie am Arm und zog sie in die Mitte des Korridors. Seine bloße Hand schien sich in ihren Oberarm zu brennen. Sie blieb abrupt stehen und schaute ihn finster an.

Mit einer knappen Handbewegung richtete er ihre Aufmerksamkeit auf den großen, schmalen Tisch mit dem kunstvollen Blumenarrangement, das fast bis zur Decke reichte. Wenn er sie nicht zur Seite gezogen hätte, wäre sie direkt gegen diesen Tisch gelaufen.

„Tisch.“ Er trat um sie herum und setzte seinen Weg fort, während Miranda das vermaledeite Möbelstück mit großer Verärgerung betrachtete.

Miranda hielt ihr Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme und den strahlenden Sonnenschein. Griffith hatte vorgeschlagen, gemütlich auszureiten und ein Picknick zu machen. Eine brillante Idee, obwohl sie immer noch nicht verstand, warum er sie eigens in sein Arbeitszimmer bestellt hatte, um ihr diesen Vorschlag zu unterbreiten.

Dass ihr Bruder sie zu sich bestellte, war ungewöhnlich. Der Vorschlag zu einem gemeinsamen Ausritt war noch ungewöhnlicher, aber sie verbrachte so wenig Zeit mit Griffith, der seit vielen Jahren eine Vaterfigur für sie war, dass sie sich über diese Gelegenheit nicht beklagen würde.

Georgina sah das völlig anders. „Sosehr ich euch beide auch liebe, und ihr wisst, dass ich euch wirklich gernhabe“, hatte sie gesagt, als sie sie eingeladen hatten, sie zu begleiten, „ihr könnt mich nicht überreden, im Freien und ohne Tisch zu essen. Da draußen gibt es Insekten!“

Miranda lächelte und schaute Griffith an, der es sich in seinem Sattel bequem machte. „Es wäre schön, wenn Trent hier wäre und mit uns ausreiten könnte.“

Mit einem zustimmenden Murmeln trabte Griffith los.

Wahrscheinlich vermisste er ihren Bruder genauso sehr wie sie. Trent war jedoch in London, wo er seine Freiheit auskostete, in seinen Klub ging, sich mit Freunden traf und sein Leben genoss, wie es junge Adelige, die keinerlei Verpflichtungen hatten, gewöhnlich taten.

Das war ein weiteres deutliches Indiz dafür, dass sie für die Suche nach einem geeigneten Ehemann schon alt war. Trent war nicht einmal ein Jahr älter als sie und er hatte sein Elternhaus bereits verlassen! Das war kein gutes Zeichen.

Miranda verdrängte diese Gedanken schnell. Griffith sollte sich keine Sorgen machen müssen, dass sie den Verstand verlor. Es reichte schon, dass sie eine alte Jungfer war. Außerdem hatte sie eine ganze Nacht in Selbstmitleid gebadet, und das war mehr als genug. Sie war nicht die Art von Frau, die ständig jammerte. Irgendwann musste damit Schluss sein.

Heute war ein neuer Tag mit neuen Möglichkeiten. Sie unternahm einen Ausritt mit ihrem großen Bruder, den sie viel zu selten sah. Sie hatte eine wunderbare Familie und liebe Freundinnen. Es gab wirklich sehr wenig Anlass, traurig zu sein.

„Das ist wahrscheinlich für eine ganze Weile unsere letzte Gelegenheit zu einem Picknick“, sagte Miranda.

Im Oktober gab es normalerweise nur noch ganz wenige schöne Vormittage, die man im Freien verbringen konnte, aber heute war das Wetter angenehm und ungewöhnlich warm.

„Das stimmt. Ehe wir uns versehen, ist Weihnachten, und danach fahren wir nach London.“

Miranda stöhnte. „Georgina spricht über nichts anderes. Wir werden sicher viel mehr Veranstaltungen besuchen als in den vergangenen beiden Jahren. Sie wird darauf bestehen.“

Jetzt stöhnte Griffith laut. Miranda hatte ihn schon häufiger sagen hören, wie sehr er das ruhige Leben auf dem Land dem in der Stadt vorzog. Von gesellschaftlichen Verpflichtungen befreit zu sein und den Alltag ungestört genießen zu können, waren die wichtigsten Vorteile des Landlebens. Er ertrug die Großstadt nur, um bei seiner Familie zu sein, die gern Kontakte pflegte, und um seine politischen Verpflichtungen im Oberhaus zu erfüllen.

„Sie schreibt jetzt schon auf, welche Garderobe wir brauchen werden“, fuhr Miranda fort. „Sie hat vor, jeden Abend auszugehen. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, wie anstrengend das sein wird. Sie hat mich nur von oben herab angesehen und gesagt, dass ich alt wäre.“

„Und dann sind da noch ihre vielen Ideen für ihren eigenen Ball.“ Griffith erschauerte bei diesem Gedanken. „Selbst ich habe das schon mitbekommen.“

Miranda bückte sich leicht, als ihr Pferd unter einem Ast hindurchging. „Sie ist wild entschlossen, dass ihr Ball ein großer Erfolg werden muss. Der gestrige Abend hat zwar bewiesen, dass sie sehr beliebt sein wird, aber ich habe keine Ahnung, wie sie es schaffen will, der Mittelpunkt der Saison zu werden. Schließlich wird sie dort nicht die einzige Blondine sein. Und mit besonders viel Weisheit ist sie auch nicht gerade gesegnet.“

Griffith öffnete den Mund, um seine jüngste Schwester zu verteidigen. Doch nach einem Moment klappte er ihn wieder zu. Offenbar hatte er erkannt, dass man die Wahrheit manchmal einfach nicht leugnen konnte, auch wenn sie noch so brutal klingen mochte.

Die Stimme ihrer Mutter schalt sie im Geiste: „Eine Dame beleidigt nie ihre Familie, auch nicht im privaten Rahmen.“ Miranda verdrängte diese Ermahnung.

„Vielleicht plant sie, einen eingeschworenen Junggesellen zu erobern.“

Miranda lachte. „Oh, ganz bestimmt. Sie hat mir schon gesagt, dass ihr die normalen begehrten Junggesellen nicht reichen. Sie will von allen bewundert werden und strahlender Mittelpunkt der Hochzeit des Jahres sein. Sie hat sogar schon eine Liste erstellt.“

„Eine Liste?“

„Mhm.“ Als sie an die Liste dachte, die Georgina ihr vorgelesen hatte, musste Miranda so kräftig lachen, dass ihr Pferd ein wenig scheute. Es dauerte einen Moment, bis sie sich und ihre Stute wieder im Griff hatte. „Dein alter Schulfreund steht übrigens auch darauf.“

Griffith schaute sie mit hochgezogener Braue an, während sie sich dem Waldrand näherten. „Cottingsworth?“, fragte er überrascht.

Der Viscount von Cottingsworth war ein guter Mann, den Griffith Miranda schon das eine oder andere Mal vorgeschlagen hatte. Sie hatte ihn jedoch nie in Erwägung gezogen, nachdem Cottingsworth angemerkt hatte, wie gut sie aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehung zu Griffith zusammenpassen würden. Als sie sich Georgina mit Cottingsworth vorstellte, musste Miranda noch mehr lachen.

Griffith schüttelte den Kopf. „Es verblüfft mich, dass Georgina einen so niedrigen Titel anstrebt. Ich hätte gedacht, dass für sie niemand infrage kommt, der nicht mindestens ein Graf ist.“

„Oh, nein.“ Miranda atmete tief durch, um nicht laut zu kichern. „Sie hat es auf den Herzog abgesehen.“

Sie erreichten den Waldrand und kamen auf eine weite, grüne Wiese. Vögel zwitscherten in den Bäumen und Wiesenblumen bewegten sich anmutig im leichten Wind. Miranda trieb ihre Stute zum Trab an und bereitete sich darauf vor, mit Griffith wie üblich über diese Wiese um die Wette zu reiten. Nach wenigen Schritten merkte sie jedoch, dass Griffith sein Pferd am Waldrand angehalten hatte. „Griffith?“, fragte sie und drehte sich im Sattel um.

„Den Herzog von Marshington?“, fragte Griffith ungläubig. „Aber den hat seit neun Jahren niemand mehr gesehen! Er verschwand während unseres ersten Jahrs in Oxford und meines Wissens hat man ihn seitdem nicht mehr gesehen. Und ganz bestimmt nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung.“

Miranda ritt zu ihm zurück. „Sie meint, wenn sie sich erst einmal den Ruf erworben hätte, dass sie der Inbegriff von Schönheit und Anmut ist, dann würde er sein Einsiedlerleben aufgeben.“

Griffiths Blick wanderte ausdruckslos über die Wiese, doch dann zog ein Grinsen über sein Gesicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie, ähm, bekannt genug sein wird, um ihn aus seinem Versteck zu locken. Aber man weiß ja nie.“

„Meinst du das im Ernst?“, keuchte Miranda. Wenn ihr praktisch denkender Bruder es auch nur im Entferntesten für möglich hielt, dass der Herzog von Marshington wieder auftauchen würde, musste er damit rechnen, dass Georgina beliebter werden würde, als sich Miranda vorstellen konnte. Sie verlagerte ihr Gewicht und versuchte, das Gefühl der Enge zu vertreiben, das ihr die Brust zuzuschnüren drohte. „Du hältst das für möglich? Du glaubst, dass er in diesem Jahr tatsächlich nach London kommt?“

Griffith schien über ihre Frage gründlich nachzudenken. „Ich denke“, entgegnete er dann langsam, „falls er in diesem Jahr nach London kommen sollte, wäre das reiner Zufall.“

Miranda kniff ihre grünen Augen zusammen und schaute ihn an. Die Furcht, die sich in ihrem Bauch geregt hatte, wich jetzt einer wachsenden Neugier. Ein leichter Druck mit dem Bein genügte, um ihre gut trainierte Stute neben Griffiths Pferd zu lenken. „Hast du etwa von ihm gehört?“

Sie schaute ihren Bruder durchdringend an und hoffte fast, er würde ihre Frage nicht beantworten. Miranda musste zugeben, dass sie eine Schwäche für guten Klatsch hatte, und alles, was mit dem mysteriösen Herzog zu tun hatte, war immer interessant.

Marshingtons Verschwinden aus Oxford war in der Londoner Gesellschaft legendär. Seine Tante und sein Vetter versuchten immer wieder, das Herzogtum an sich zu reißen, aber sein Schlossverwalter und sein Anwalt behaupteten, dass sie regelmäßig Briefe und Anweisungen von ihm bekamen. Sein Herzogtum war in den vergangenen Jahren sehr gut verwaltet worden. Es wuchs und gedieh und ermöglichte Marshingtons gierigen Verwandten ein luxuriöses Leben.

Griffith setzte sein Pferd in Bewegung und zwang Mirandas Stute damit, zur Seite zu tänzeln. „Ja, ich habe im Laufe der Jahre hin und wieder Nachrichten von ihm bekommen.“

Miranda grinste. Das war tatsächlich eine interessante Information. „Wirklich?“

Griffith nickte. „Ich kann dir nicht sagen, wo er ist, aber ich weiß genau, dass er auf Georginas Verführungsversuche bestimmt nicht hereinfallen würde. Wer zuerst bei der Eiche ist!“

Er drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken und galoppierte über die Wiese. Miranda blieb nichts anderes übrig, als ihm eilig zu folgen.

Wenn er glaubte, er käme davon, ohne ihr ein wenig mehr zu erzählen, irrte er sich.

Entführung ins Glück

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