Читать книгу Entführung ins Glück - Kristi Ann Hunter - Страница 9
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Miranda betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel über ihrem Frisiertisch. Sally müsste ihre Frisur neu richten. Die langen blonden Locken waren bei ihrem wilden Wettrennen über die Wiese völlig zerzaust worden. Sie begann, die Haarnadeln herauszuziehen, und ihre lange Mähne umrahmte wild ihre feinen Züge.
Ein leises Kichern kam über ihre Lippen, als sie sich betrachtete. Sie sah wirklich wüst aus. An ihrem Reitkleid hingen Blätter, an ihren Stiefeln klebte Matsch und in ihrer zerzausten Frisur steckte sogar ein Ästchen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie meinen, sie wäre vom Pferd gefallen. Sie wäre tatsächlich fast gestürzt, als sie durch eine Hecke geritten war, um den Weg abzukürzen und den Picknickbaum vor ihrem Bruder zu erreichen. Dass sie bei ihrer Rückkehr in eine matschige Pfütze getreten war, hatte ihr Erscheinungsbild auch nicht gerade verbessert.
Sie läutete die Glocke, um Sally mitzuteilen, dass sie zurück war. Dann begann sie, ihre ruinierte Jacke auszuziehen. Da sie das Polster auf ihren Stühlen nicht verschmutzen wollte, lehnte sich Miranda an das Fenstersims und wartete auf ihre Zofe.
Der Ausblick aus dem Fenster war atemberaubend. Die gewundenen Wege, die Hecken, Blumenbeete, Bäume und Wiesen vermittelten ihr ein Gefühl des Friedens, das Gefühl, zu Hause zu sein. Sie liebte die ausgedehnten Wiesen, auf denen sie und ihre Geschwister gespielt hatten, den See, in dem sie schwimmen gelernt hatte, und die Zusammenstellung von Sträuchern und Statuen, die ihre Mutter im Laufe der Jahre hatte errichten lassen. Falls es ihr gelingen sollte, in diesem Jahr einen Ehemann zu finden, könnte sie diesen Ausblick, der für sie ein täglicher Trost war, nur noch gelegentlich bei Besuchen genießen.
Darüber hatte sie sich nie zuvor Gedanken gemacht.
Miranda fuhr mit der Hand über die schlichten grünen Brokatvorhänge mit den Rüschenspitzen. Eine interessante Kombination aus verspielten Rüschen und praktischem Brokat. Waren sie und Georgina genauso gegensätzlich?
Griffith war sichtlich schockiert gewesen, als sie ihm verraten hatte, wer auf Georginas Liste stand. Er ahnte nicht, dass sich seine beiden Schwestern für denselben Mann interessierten. Einen Mann, den Miranda nie gesehen hatte. Das verriet, wie intensiv Griffiths Briefe aus dem Internat, in denen er ihr von seinem Freund erzählt hatte, sie beeinflusst hatten.
Miranda war zwar die pragmatischere der beiden Schwestern und verfolgte ganz gewiss nicht die lächerliche Absicht, den Mann dazu zu verführen, sie zu heiraten. Aber eine sorgsam gehütete Truhe mit Briefen, in denen sie diesem Mann ihre tiefsten Gedanken und Gefühle offenbart hatte, ließ auch nicht gerade darauf schließen, dass sie bei Verstand war.
Mirandas Lächeln verwandelte sich langsam in ein Stirnrunzeln. War sie eigentlich noch einmal in die Bibliothek gegangen, um den Brief zu holen, den sie in der Nacht geschrieben hatte? Sie war mit ihren Briefen gewöhnlich sehr vorsichtig. Sie schrieb sie sogar auf teures blaues Papier, damit ihre Zofe sie nicht für normale Post hielt.
Mit einem Achselzucken machte sie sich wieder daran, Nadeln aus ihren Haaren zu ziehen. Sie würde in die Bibliothek gehen und den Brief holen, wenn ihre Haare wieder in Ordnung waren. Ein Keuchen hinter ihr verriet, dass die Zofe eingetreten war und gesehen hatte, wie zerzaust ihre Herrin aussah.
Miranda grinste. Eine wilde blonde Mähne mit Zweigen darin war bei ihr ein eher seltener Anblick.
„Mylady!“ Sally eilte zu ihr, um Miranda dabei zu helfen, die schmutzige Kleidung auszuziehen.
„Ich bin den Hecken leider zu nahe gekommen.“
Während sich Sally über die ruinierte Jacke und das struppige Erscheinungsbild ihrer Herrin beklagte, quälte Miranda das Gefühl, dass sie etwas Wichtiges verpasst hatte. Plötzlich fiel es ihr ein.
Marlow hatte ihr am Morgen mitgeteilt, dass er ihre Briefe zur Post gebracht hatte!
Wo hatte sie den blauen Brief gestern Nacht versteckt? Hatte er ihn gefunden?
„Oh, nein! Oh, nein, nein, nein!“
Miranda erhob sich hastig und rannte aus dem Zimmer. Sally rief ihr aufgeregt etwas nach, doch die junge Frau stürmte bereits um die Ecke und die Treppe hinab. Sie hob dabei ihren Rock ein wenig höher, als es die Etikette erlaubte, um nicht über ihren Saum zu stolpern.
Im Flur zur Bibliothek war glücklicherweise keine Menschenseele zu sehen. Sie atmete so schwer, dass ihre Kehle und ihre Lunge brannten, als sie das Zimmer absuchte. Sie fing mit dem Schreibtisch an und blätterte sogar den Stapel aus unbeschriebenem blauem Papier durch. Obwohl sie den Brief nirgends fand, weigerte sie sich immer noch, das Unvermeidliche zu glauben. Der Brief war irgendwo hier im Raum. Er musste hier sein!
Als Sally endlich eintraf, kroch sie gerade auf Händen und Knien über den Boden, um unter die Möbel zu schauen.
„Mylady!“
Doch Miranda ignorierte ihre Zofe. Sie hob alle Sofa- und Sesselkissen hoch. Sie schaute in jeden Behälter, auch wenn es noch so unwahrscheinlich war, dass der Brief dort zu finden wäre. Glaubte sie ernsthaft, dass der Brief vom Schreibtisch in eine Vase im vierten Regalfach geflogen war?
„Mylady, bitte! Wir müssen Ihre Haare machen. Und Sie umziehen. Niemand wird hier drinnen etwas anrühren. Wir können später wiederkommen und das suchen, was Sie vermissen. Es kann noch ein wenig warten.“
„Nein, kann es nicht!“ Miranda strich sich panisch durch die Haare, wodurch sie die wilde Mähne noch weiter zerzauste. „Vielleicht hat er ihn doch noch nicht abgeschickt!“
Während Miranda an Sally vorbei in den Flur stürmte, schossen ihr die schlimmsten Vermutungen durch den Kopf: Hatte Marlow den Brief gelesen? Hatte er ihn Griffith gezeigt? Oder den anderen Bediensteten?
Sie stürmte wieder die Treppe hinauf, während sie sich ein Schreckensszenario nach dem anderen ausmalte. Hatte er ihn wirklich abgeschickt? War das überhaupt möglich? Sie kannte die Adresse des Herzogs von Marshington nicht. Und sie hätte nicht gedacht, dass überhaupt irgendjemand seine Adresse kannte, bis Griffith erwähnt hatte, dass er gelegentlich Nachrichten von ihm erhielt.
Was bedeutete, dass sich irgendwo in Griffiths persönlichen Unterlagen eine Adresse befand, an die ein Brief für den Herzog von Marshington geschickt werden konnte.
Miranda fürchtete, vor Panik fast zu ersticken.
Sie rannte an ihrer eigenen Zimmertür vorbei zu Griffiths Räumlichkeiten. Er würde sich nach ihrem Ausritt auch umziehen. Es war also sehr wahrscheinlich, dass sich der Kammerdiener in seinem Ankleidezimmer befand. Sie wollte schon unangemeldet hineinstürmen, als ihr einfiel, dass Griffith vielleicht noch nicht präsentabel war. Abrupt blieb sie stehen. Sie wollte sowohl ihrem Bruder als auch sich selbst diese Peinlichkeit ersparen.
Sie lehnte die Stirn an die Wand und atmete schwer und hastig ein. Die Hand zu einer Faust geballt, an der die Fingerknöchel weiß hervortraten, klopfte sie an die Tür.
Einige Augenblicke später wurde diese geöffnet und der Kammerdiener stand mit einem schmutzigen Stiefel in der Hand vor ihr. „Mylady?“
Miranda wurde von seinen quecksilbergrauen Augen in ihren Bann gezogen. Sie blinzelte, um sich wieder auf ihr eigentliches Anliegen zu konzentrieren. „Haben Sie meine Briefe wirklich abgeschickt?“
„Natürlich, Mylady. Seine Durchlaucht sagte, seine Post müsse so schnell wie möglich abgesendet werden. Deshalb habe ich die Briefe gleich am Morgen weggebracht.“
Miranda schloss verzweifelt die Augen. „War auch ein blauer Brief darunter?“
„Ja, Mylady. Ich habe mir erlaubt, die Adresse zu vervollständigen, damit er sofort abgeschickt werden konnte.“
Miranda schlug wieder die Augen auf und sah, dass Marlow sie unauffällig von Kopf bis Fuß musterte und ihre alles andere als salonfähige Aufmachung betrachtete. Sie sah vermutlich aus, als hätte sie den Verstand verloren. Griffith war ähnlich zerzaust zurückgekommen, aber bei einem Mann sah man darüber hinweg. Oh, diese lästigen Vorstellungen darüber, wie eine Dame auszusehen hatte!
Sie legte verzweifelt den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Das Stuckmuster verschwamm vor ihren Augen. Sie wäre am liebsten verzweifelt zu Boden gesunken, aber die vielen Lektionen ihrer Mutter erlaubten ihr das nicht. „Lieber Gott“, flüsterte sie, „bitte mach, dass der Postbote ihn verliert!“
„Mylady?“, fragte Marlow verwirrt.
Miranda schüttelte nur den Kopf. Schmale Arme legten sich um ihre Schultern. Sally musste ihr in einem gemäßigteren Tempo gefolgt sein. Ihre Zofe drehte sie herum und versuchte, sie zu ihrem Zimmer zu bringen. Miranda ließ sich widerstandslos von Sally wegführen.
Der Brief war fort! Er war zur Poststation gebracht worden und würde … Miranda riss die Augen auf.
„Warten Sie!“, rief Miranda.
Marlow öffnete erneut die Tür, die er schon fast geschlossen hatte.
Miranda lief zu ihm zurück. „Wann sollte die Postkutsche abfahren?“
„Wie bitte, Mylady?“
„Die Postkutsche. Ist sie schon nach London aufgebrochen?“ Miranda kam es so vor, als stünde sie neben sich, und sie fragte sich, was in aller Welt in diese verrückte Frau gefahren war, die jetzt die Rockaufschläge des Kammerdieners umklammert hatte.
„Ja, Mylady. Der Postkutscher wollte sofort nach London aufbrechen, da Seine Durchlaucht –“
Den Rest seiner Worte vernahm sie wie durch einen dichten Nebel. Ein tiefes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, während sie dem Drang nachgab, an der Wand hinunter zu Boden zu gleiten.
Der Brief war nach London unterwegs. Irgendjemand würde ihn lesen. So etwas Skandalöses würde der Gesellschaft nicht verborgen bleiben! Es war schon schlimm genug, dass sie einem ihr unbekannten Mann einen sehr persönlichen Brief schrieb. Aber sie hatte ihm darin auch gestanden, dass sie auf ihre Schwester eifersüchtig war! Damit war auch die leiseste Hoffnung auf ein Mindestmaß an gesellschaftlichen Erfolg in diesem Jahr dahin.
Sally zog an ihren Schultern. Miranda hob den Kopf und sah, dass ihre Zofe und Marlow besorgte Blicke wechselten. Das war kein Wunder. Sie hatte die Etikette völlig in den Wind geschlagen. Eine Dame verlor nie die Contenance.
Schließlich gelang es Sally mit Marlows Hilfe, ihrer Herrin auf die Beine zu helfen und sie zu ihrem Zimmer zurückzubringen. Die Zofe drehte noch einmal den Kopf zu ihr herum und wandte sich dannn an den Kammerdiener. „Die blauen Briefe dürfen nie abgeschickt werden.“
Miranda ließ sich widerstandslos in ihr Zimmer zurückführen und setzte sich gehorsam an den Frisiertisch. Während sie mehrmals tief durchatmete, gelang es ihr, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Praktische Gedanken meldeten sich erneut zu Wort.
Falls jemand die Adresse des Herzogs hatte, war das Griffith, und sein Kammerdiener musste Zugang dazu haben. Und es war gut möglich, dass sich die persönliche Korrespondenz des Herzogs tage- oder sogar monatelang ansammelte. Ihr Brief ging sicher zwischen all den anderen Briefen unter, die der Mann bekam. Wenn er irgendwann ihren Brief las, war sie vielleicht schon längst verheiratet.
Vielleicht würde er ihn auch überhaupt nicht lesen. Und selbst wenn er ihn las, würde ihn der Inhalt wahrscheinlich nicht interessieren.
Mit einem Seufzen fragte sich Miranda zum zweiten Mal in zwei Tagen, wo sich der Herzog von Marshington aufhielt. Wenn er ihren Brief bekam, erwartete ihn eine verwirrende Überraschung. Guter Gott, bitte lass ihn weit, weit weg sein, wo ihn der Brief niemals erreichen wird!
Ryland Montgomery, der Herzog von Marshington, war viel, viel näher, als Miranda sich vorstellen konnte. Er versuchte, seine wahre Identität zu verbergen und mit Leib und Seele Marlow, der Kammerdiener, zu sein, aber das fiel ihm zunehmend schwerer. Der Brief, den er gefunden hatte, und die Fragen, die ihn seitdem nicht losließen, machten ihm das unmöglich.
„War das Miranda?“, fragte Griffith. Er hob das Kinn, damit Ryland seine Krawatte kunstvoll binden konnte.
„Ja, Durchlaucht.“
Griffith seufzte. „Musst du denn auch dann so sprechen, wenn wir allein sind?“
Ryland klopfte eine hellbraune Jacke aus und hielt sie Griffith hin, damit er die Arme hineinstecken konnte. „Entschuldigung, Sir, aber die sicherste Tarnung ist immer eine lückenlose Tarnung.“
„Marsh“, sagte Griffith und benutzte den Spitznamen seines Freundes aus Kindertagen.
„Marlow, Sir.“ Ryland neigte leicht den Kopf, bevor er sich umdrehte und die schmutzige Reitkleidung aufhob. Wenn sein Freund nicht anfing, Ryland wie einen Kammerdiener zu behandeln, würde noch jemand Verdacht schöpfen. Ein Kammerdiener und sein Herr konnten zwar ein vertrautes Verhältnis haben, aber niemand würde glauben, dass sich dieses Vertrauen in nur zwei Tagen entwickelte.
Griffith seufzte. „Marlow. Ich weiß, dass ich in diese ganze Farce eingewilligt habe, weil du mir gesagt hast, dass es um die Sicherheit unseres Landes geht. Aber wir haben nicht besprochen, was ich genau machen soll.“
In der Hoffnung, dass sein alter Freund dieses Thema fallen lassen würde, wenn er ihm nicht antwortete, räumte Ryland weiter das Ankleidezimmer auf. Die große Gestalt eines gereizten Herzogs, der mitten im Zimmer stand, machte ihm das jedoch nicht leicht.
Ryland schaute Griffith einige Sekunden durchdringend an. Der Mann, der hier vor ihm stand, war einer der wenigen Menschen auf der Welt, die Ryland wirklich viel bedeuteten. Griffith hatte keine Ahnung, wie wichtig ihm ihre Freundschaft in jenen unerträglichen Schuljahren gewesen war.
Und diese Freundschaft war in den vergangenen zehn Jahren auf eine harte Probe gestellt worden. Sein Freund verdiente eine Erklärung. Es würde nicht schaden, wenn er den Kammerdiener hinter verschlossenen Türen für ein paar Minuten ablegte.
„Also gut, Griff.“ Es war ein gutes Gefühl, wieder in seine eigene Haut zu schlüpfen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ein gefährlich gutes Gefühl. „Es gibt auf deinem Landsitz jemanden, der Geheimnisse sammelt und sie den Franzosen zukommen lässt. Es steckt noch viel mehr dahinter, aber je weniger du weißt, desto besser ist es. Ich will nicht, dass du dich irgendjemandem gegenüber misstrauisch benimmst und er etwas von meiner Anwesenheit ahnt.“
„Auf meinem Land gibt es Spione?“
Ryland nickte.
„Und du hast vor, sie zu finden?“
Obwohl ihm die Richtung, die das Gespräch einschlug, nicht gefiel, nickte Ryland wieder.
Griffith lehnte sich an den Türrahmen und versperrte ihm den Weg aus dem Ankleidezimmer. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du in den vergangenen neun Jahren als Spion für das Kriegsministerium gearbeitet hast.“ Er schüttelte den Kopf. „Du bist wahrscheinlich ein richtig guter Spion. Dir entging schon früher nichts.“
Ryland winkte ab. „Über meine Vergangenheit können wir sprechen, wenn ich diese Mission erfolgreich beendet habe. Im Moment kann ich nur sagen, dass mir das Kriegsministerium eine Gelegenheit eröffnete, als ich dringend eine brauchte. Aber jetzt bin ich bereit, nach Hause zu kommen. Ich wollte diesen Auftrag eigentlich gar nicht übernehmen, aber dann haben wir herausgefunden, dass jemand von hier involviert ist. Das bringt uns wieder zu deiner ursprünglichen Frage zurück.“
„Du planst, einen Spion zu finden, indem du meine Kleidung bügelst und mein Kinn rasierst? Ich weiß immer noch nicht, ob ich mich dabei wohlfühle. Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?“ Griffith strich mit der Hand über seinen Hals, als wolle er sich vergewissern, dass er auch wirklich unversehrt war, nachdem ihn Ryland am Morgen rasiert hatte.
„Wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, hätte ich dich nicht gebeten, mich als Kammerdiener einzustellen.“ Ryland zog eine Braue hoch. Er hatte bis vor zwei Tagen noch nie einen anderen Mann rasiert, aber sein Einfallsreichtum hatte ihm schon in schlimmeren Situationen weitergeholfen. „Gibt es noch etwas, was du wissen willst, bevor ich wieder in die Rolle von Marlow schlüpfe?“
„Was wollte meine Schwester?“
„Sie scheint einen Brief zu vermissen.“ Ryland wandte sich wieder der schmutzigen Kleidung zu, da er befürchtete, dass sein Freund mehr aus seiner Miene ablesen könnte, als ihm lieb war. Wusste Griffith, was in diesen blauen Briefen stand?
„Ein blauer Brief? Ich habe keine Ahnung, was sie ständig auf dieses Papier schreibt, aber sie lässt niemanden diese Briefe lesen.“
Ryland erstarrte, vermied es aber nach wie vor, Griffith anzusehen. „Du weißt nicht, was sie darauf schreibt?“
„Nein. Ich gebe zu, dass ich ein wenig neugierig bin, aber sie war nie bereit, mich in ihr Geheimnis einzuweihen.“ Griffith beugte sich zum Spiegel vor und begutachtete Rylands Krawattenknoten.
Ryland nutzte diese Gelegenheit, um die schmutzige Kleidung aus dem Zimmer zu bringen. Je früher er dieses Gespräch beendete, umso besser.
„Ryland“, sagte Griffith mit leiser Stimme. „Wie kommt sie auf die Idee, dass du wüsstest, wo ihr Brief ist?“
Er beschloss, dass er sich am besten verteidigen konnte, wenn er wieder in die Rolle des Kammerdieners schlüpfte, und drehte sich mit einer Verbeugung um. „Verzeiht, Durch–“
„Jetzt reicht es aber!“ Griffith zog Ryland mit einer Hand ins Ankleidezimmer zurück und knallte mit der anderen die Tür hinter sich zu.
Ryland zwang sich, langsam durch die Nase zu atmen, während er Griffiths durchbohrenden Blick erwiderte.
Griffith bohrte den Finger in Rylands Schulter. „Ab sofort gilt eine neue Regel: In diesen Räumlichkeiten bist du nicht Marlow. Mir ist bewusst, dass es überall sonst im Haus neugierige Augen und Ohren geben könnte, aber hier drinnen sind wir allein. Nur du und ich, so unangenehm dir das auch sein mag.“
Mehrere Sekunden vergingen, in denen sich Ryland und Griffith unerbittlich anschauten und die Entschlossenheit des anderen abwogen. Griffiths Blick war wie ein grüner Stein, durch die Jahre der Verantwortung und Reife abgehärtet. Der alte Freund aus ihrer gemeinsamen Schulzeit war erwachsen geworden.
„Also gut“, resignierte Ryland. Schließlich wollte er bleiben.
Griffith nickte, wirkte aber ein wenig überrascht, dass es so leicht gewesen war, Ryland zum Einknicken zu bewegen. Was Griffith nicht wusste und was er nicht einmal ansatzweise verstehen konnte: Ryland hatte fast vergessen, er selbst zu sein. Das war einer der Gründe, warum er das Leben eines Agenten hinter sich lassen wollte.
Griffith lehnte sich an den Waschtisch und schaute Ryland mit seinen ernsten grünen Augen durchbohrend an. „Also, warum glaubt Miranda, dass du dieses Blatt Papier hättest? Hast du etwa auch meine Familie in Verdacht?“
Ryland sank auf den Stuhl, auf dem er normalerweise Griffiths Kleidung bereitlegte. Er streckte die Beine aus und schlug die Füße an den Knöcheln übereinander. Das erweckte hoffentlich den Anschein von Lässigkeit. Vielleicht genügte das, um Griffith glauben zu lassen, dass er innerlich ganz ruhig war. „Ich habe zunächst einmal jeden in Verdacht, Griff, auch dich. Aber ich bin mit deiner Familie schon fertig. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass die Verräter unter den Dienstboten zu finden sind.“
„Und der Brief?“
„Sie hat ihn gestern Nacht in der Bibliothek geschrieben.“
Griffith kniff die Augen zusammen. „Du hast gestern Nacht in der Bibliothek Stiefel poliert.“
„Ja …“
Griffith rieb mit dem Finger über seinen Daumen, eine alte Angewohnheit, die Ryland sofort wiedererkannte. Sein Freund war aufgeregt. Es würde nicht lange dauern, bis er seine nervöse Energie nicht mehr nur auf seine Finger beschränkte. Ryland lehnte sich zurück, um diesen Auftritt zu genießen. Es war auf sonderbare Weise unterhaltsam zuzuschauen, wie dieser große Mann in dem kleinen Ankleideraum auf und ab ging. Er kam nur drei Schritte weit, bevor er sich umdrehen und in die andere Richtung gehen musste.
„Ihr wart zusammen in der Bibliothek? Allein? Nachts? Das gefällt mir nicht, Marsh. Als ich in diese Sache eingewilligt habe, habe ich nicht an meine Schwestern gedacht.“
Mit einem tiefen Seufzen rieb sich Ryland die Nasenwurzel. Er sollte die Sache klären, ohne dass Griffith ihm alles aus der Nase ziehen musste. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass es oft besser war, den Mund zu halten, aber Griffith war für ihn wie ein Bruder und hatte etwas Besseres verdient.
„Griff, für die anderen bin ich bloß ein Dienstbote. Sie konnte nicht schlafen und kam nach unten. Ich habe ihr Tee gekocht. Als ich aus der Küche zurückkam, schrieb sie den Brief. Sie hat ihren Tee getrunken und ist wieder zu Bett gegangen. Wenn es irgendein anderer Dienstbote gewesen wäre, würdest du dir doch auch nichts dabei denken.“
Griffith seufzte. „Das stimmt.“
Ryland erhob sich und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest. Ich muss wieder in meine Rolle als Kammerdiener schlüpfen.“
Er hob die schmutzige Kleidung auf und verließ das Zimmer, bevor Griffith ihm noch mehr Fragen stellen konnte. Der blaue Brief brannte auf dem Weg durch den Korridor fast ein Loch in seine Jackentasche.
Es juckte ihm in den Fingern, mehr zu erfahren. Neugier war die größte Gabe und gleichzeitig die tödlichste Schwäche eines Spions. Er konnte diesen Brief nicht ignorieren. Er musste mehr erfahren. Die Frage war nur, wie er das anstellen wollte.