Читать книгу My Soul in Your Hands - Kristin Ullmann - Страница 4
ОглавлениеDer aufgebrachte Vater trug das Gewicht eines unschuldigen Lebens auf seinen Schultern, als er neben seiner Frau über hervorstehende Wurzeln imposanter Drehbäume und durch dichte Gräser eilte.
»Lewis! Das führt doch zu nichts«, keuchte diese verzweifelt und schluckte bittere Tränen hinunter. »Den Schutzschild um uns kann ich nicht mehr lange aufrechterhalten. Ich werde zu schwach.« Sie blieb stehen und drehte sich panisch im Kreis.
Noch war die kleine Familie alleine auf dem Kornfeld mit den violetten Ähren, die in der lauen Luft Wonderlands unbeirrt einen Tanz aufführten. Doch sie konnte spüren, wie die Gefahr ihre kleine Familie einzuholen drohte.
»Liebling.« Lewis versuchte seine Frau mit einem eindringlichen Blick gleichermaßen zu beruhigen und zum Weiterlaufen zu drängen. »Wir werden nicht kampflos aufgeben. So kann unsere Geschichte nicht enden. Das Leben unserer Tochter hat doch gerade erst begonnen.«
Er stellte sich seiner großen Liebe gegenüber, strich ihr eine dunkelrote Strähne aus dem Gesicht und ließ seine Finger auf ihrer Wange verweilen.
Das Mädchen, das bei dem Geschaukel durch das Rennen des Vaters eingeschlafen war, erwachte langsam aus seinem Traum. Es schaute zu seinen Eltern auf und brach mit einem Niesen die eingekehrte Stille.
Die Gesichtszüge ihrer Mutter wurden weicher und Entschlossenheit leuchtete in ihren Augen. Sie nickte ihrem Mann zu und lief voraus.
Die Familie flüchtete weiter über Felder und schlängelte sich dann zwischen dicht nebeneinander wachsenden Bäumen hindurch. Tagelang suchten sie Unterschlupf in ausgehöhlten Zwirbelbäumen, tranken frisches Flusswasser und ruhten sich hinter leer stehenden Hütten kurz aus.
Sie hatten plötzlich ihr Zuhause verlassen müssen und dachten seitdem nur noch über ein Entkommen nach. Doch dass sie kein Ziel vor Augen hatten, ließ den Wettkampf gegen die Zeit als ungerecht erscheinen.
Die Kleine bekam davon jedoch nicht viel mit. Sie beobachtete lieber die malerische Kulisse, die über ihr vorbeizog.
Zum Stillen musste die Familie jedes Mal den sichersten Ort in ihrer Umgebung ausmachen, denn während des Fütterns konnte die verzweifelte Mutter den schützenden Schild um sie herum nicht aufrechterhalten. In diesen quälenden Minuten spitzte Lewis die Ohren wie ein Raubtier, das seine Beute anvisierte. Dabei war es seine eigene Familie, die auf dem Silbertablett präsentiert wurde.
Lewis vernahm das sanfte Rauschen eines Flusses neben ihnen. Dieser reflektierte die Sonnenstrahlen und funkelte in seiner satten orangen Farbe.
In der Ferne hörte er einen Ast knacken und wandte sich in einem Sekundenbruchteil dem Geräusch zu. Etwas hatte die fliegenden Schaukelpferdchen aufgescheucht, die nun oberhalb des Nebelschleiers in Aufruhr klackernd aneinanderstießen.
Seine Frau hob schnell den Blick und richtet sich mit der Kleinen im Arm auf. In diesem Moment wurde ihr klar, dass all das Davonlaufen vergebens war. Sie spürte die Präsenz ihres Feindes, ehe sie ihn sah.
»Er ist hier«, hauchte sie.
Aus einem Gestrüpp trat eine kleine Gestalt ins Tageslicht. Lewis schob sich instinktiv vor seine Frau und sein Kind und drängte beide an den Baumstamm zurück, weg von dem Fremden. Überraschenderweise hob der Winzling seine Hände, als wolle er die junge Familie beruhigen.
»Ich bin hier, um zu helfen«, sagte er mit einer weichen Stimme.
Doch davon ließ sich das Paar nicht täuschen, denn sie wussten, dass er trotz seiner zierlichen Statur eines der mächtigsten Wesen Wonderlands war.
»Du möchtest uns helfen? Dass ich nicht lache. Wir wissen, was uns erwartet«, blaffte Lewis.
»Du Narr. Er will nur sie.« Der Kleine deutete auf die Mutter, die ihre Tochter noch mehr an sich drückte. »Und genau ihretwegen bin ich hier, denn mein Gebieter wird nicht aufgeben, ehe er sie bestraft hat. Aber du und deine Tochter werdet nur zu seinem Ziel werden, wenn du dich ihm in den Weg stellst.«
»Wieso solltest du uns warnen und Lewis die Chance geben, zu verschwinden?«, rief die Frau wütend. »Du machst doch alles, was der König dir befiehlt!«
Die zierliche Figur verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich tue ich das. Er ist immerhin der König. Aber ich habe nur die Anordnung, gegen dich vorzugehen. Es war nie die Rede von deiner Familie. Wir sind nicht ungerecht.«
»Pah!«, stieß Lewis verächtlich aus. »Was für ein schlechter Scherz. Du willst dem Kind die Mutter nehmen. Und mir meine Geliebte.« Seine Stimme bebte vor Zorn. »Also verrate mir, was daran gerecht sein soll.«
Der Feind trat näher und hob die Nase in die Höhe, damit er größer wirkte. »Ich habe meine Befehle, so wie deine Frau auch ihre hatte. Mach mich nicht dafür verantwortlich, dass sie sich auf die falsche Seite geschlagen hat. Zudem solltest du froh sein, dass ich den König davon abhalten konnte, eine Schwangere zur Rechenschaft zu ziehen.«
Diese Aussage verschlug Vater und Mutter die Sprache.
»Dieses Kind wird eines Tages noch von Nutzen sein. Mit der Stärke von euch beiden in seinen Adern … Unvorstellbar, wozu sie fähig sein könnte.« Die gelben Iriden des kleinen Mannes blitzten gierig auf. Dann wandte er hektisch den Blick zur Seite. »Er kommt. Ich erlaube dir«, wieder zeigte er auf die Mutter, »deinen Mann und deine Tochter in Sicherheit zu bringen, oder sie werden mit dir bestraft.«
Ohne zu zögern, tat Lewis’ Frau das, von dem ihr Mann gehofft hatte, dass sie es nicht tun würde. Erhobenen Hauptes trat sie hinter seinem schützenden Körper hervor und überreichte ihm mit Tränen in den Augen ihr Kind.
»Pass gut auf sie auf. Finde für sie eine andere Mutter und für dich eine neue Liebe. Werdet glücklich.« Dann hauchte sie erst ihrer Tochter einen Kuss zwischen die unschuldigen, rubinroten Augen und schließlich küsste sie ihren Gemahl zum Abschied. »Ihr habt kein Leben auf der Flucht verdient. Einzig meinetwegen stecken wir in dieser Lage. Ich muss mit den Konsequenzen leben. Es war immerhin allein meine Entscheidung, auf White als nächsten König zu setzen. Ich wollte doch nur unsere Zukunft sichern.«
»Nein. Nein, Liebling. Du hast dich geändert. Du stehst in keinerlei Verbindung mehr zu Mirror. Er kann dich für nichts bestrafen, das Ewigkeiten zurückliegt.«
Seine Frau presste die Lippen aufeinander und schluckte schwer. »Ich liebe euch, vergesst das nicht.«
Dann schritt sie hinter den dicken Stamm des Zwirbelbaumes und zeichnete eine Linie in die Luft. Sogleich leuchtete diese auf und ein Spalt öffnete sich. Ein Spalt in eine andere Welt.
Lewis verfolgte mit Schrecken, wie sie ihm mit dem Erschaffen eines Portals einen Ausweg bot. »Ich kann das nicht. Nicht ohne dich.«
»Du musst. Ihretwillen.«
Sie schloss die Augen und atmete tief durch, verinnerlichte unwillkürlich das Bild ihres verängstigen Mannes mit ihrem Kind in den Armen. Ihr Kind, das sie wohl nie wiedersehen würde. Sie hielt die Augen geschlossen, als sie sich am Stamm entlang aus dem Sichtfeld ihrer Familie tastete. Erst als sie sich sicher war, dass ihre Liebsten sie nicht mehr sehen konnten, öffnete sie die Lider. Dann sammelte sie alle verbleibende Kraft in sich, um ihrem Schicksal mutig entgegenzutreten.
»Gute Entscheidung«, meinte das kleine Männlein, das selbst unauffällig einen Kloß im Hals hinunterschluckte.
»Danke, Bayard«, flüsterte sie. »Danke, dass du sie entkommen lässt.«
Das Hufgetrappel auf dem blauen Waldboden kündigte ihren Richter an.
Aber dass sie ihre Familie in Sicherheit wusste, bestärkte ihre aufrechte Haltung. Nun hatte sie nichts mehr zu verlieren. Was war ihr Leben schon wert, wenn sie es nicht weiter mit ihren Geliebten teilen konnte?
Die Soldaten hielten mit großem Abstand zu ihr an. Nur ein Hengst blieb so nahe bei ihr stehen, dass sie seinen stinkenden Atem riechen konnte. Sie verzog allerdings keine Miene. Nein. Sie hob den Kopf und starrte in die zufriedenen Augen des Herrschers über Wonderland.
»König Heart«, sagte sie mit keiner einzigen Gefühlsregung in ihrer Stimme, denn die Genugtuung würde sie ihm nicht geben.
»Whites Sympathisantin«, schleuderte er ihr entgegen, ehe er abstieg und auf sie zuschritt.
Auch Bayard trat wieder aus dem Hintergrund nach vorne und gesellte sich zu seinem Freund.
»Nun sieh mal einer an.« Der Winzling tippte sich verspielt an das Kinn. »Wir haben sie gleichzeitig gefunden. Welch wunderbarer Tag, nicht wahr?« Bay war der beste Schauspieler, den Wonderland zu bieten hatte.
»Wahrlich, mein Freund. Ab heute gibt es eine Ratte weniger, habe ich gehört«, höhnte der König mit tiefer Stimme.
Die beiden Männer unterhielten sich weiter, ohne der Mutter Beachtung zu schenken. Als wäre sie nur Dreck zwischen den Hufen eines Mastschweines. Schließlich drehte der König ihr doch seinen Kopf zu und beäugte sie abschätzig.
»Du und deine leuchtende Ausstrahlung. So unschuldig. Gute Tarnung.« Er ging auf sie zu und hob ihr Kinn mit einem dicken Finger an. »Ich wäre nie darauf gekommen, dass du einer von Whites Spionen bist. Immerhin hast du oft genug mit deinen Kräften auch meiner Familie zur Seite gestanden. Dass du dich aber für den falschen Bruder entscheidest … Welch Verschwendung.«
»Er ist der Erstgeborene«, fauchte sie.
»Er ist ein Bastard! Du hast deine Zeit vergeudet.«
»Ob ehelich oder nicht, er hat das Anrecht auf den Thron. Und er ist Euch überlegen. Ich habe nur dafür gesorgt, dass ich auf der stärkeren Seite stehe.«
Der König lachte auf. »Du hättest ihm nach Mirror folgen sollen. Warum könnt ihr Parasiten mein schönes Wonderland nicht in Ruhe lassen?«
»Ihr habt ihm ein Reich gegeben, das kaputt war.«
»Und du hast ihm genug Wondies gebracht, damit er das Land noch weiter zerstören kann.«
Nie würde sie König Heart gegenüber zugeben, dass sie das leider zu spät begriffen hatte, denn sie hatte an Gerechtigkeit geglaubt und daran, dass Rab White Wonderland wieder für sich einnehmen würde. Sie hatte sich gut mit dem Herrscher Mirrors stellen wollen, damit sie auch im neuen Wonderland einen Platz haben würde. Dass genau dieses Denken ihren Tod bedeutete, war reinste Ironie.
Als könnte das Mädchen in Lewis’ Armen die Verzweiflung seiner Mutter spüren, wurde es unruhig. Ein weiteres Zeichen dafür, dass für ihn die Zeit gekommen war, sich von seiner Liebsten loszusagen, sodass ihr Kind eine Chance auf Leben bekam. Er wusste, er durfte nicht länger lauschen und damit riskieren, entdeckt zu werden. Also sog er tief Wonderlands warme Luft ein.
»Ich liebe dich. Ileria, ich werde dich nie vergessen«, flüsterte er gleich einem Windhauch und schritt durch den Spalt.
»Mein König, mein Freund«, meldete sich Bay zu Wort und fuhr sich durch sein zerzaustes türkises Haar, »wäre es nicht Verschwendung, jemanden mit solch einer Kraft wie der ihren auszulöschen?«
Der Angesprochene drehte sich dem Winzling zu. »Was schwebt dir vor?«
Bayard umkreiste den Herrscher Wonderlands und seine Beute. Dabei gab er vor, nachzudenken, obwohl er längst einen Plan hatte. »Was, wenn wir sie zur Strafe in ein Gefängnis werfen, damit sie uns weiterhin nützlich sein kann?« Dann riss er die Augen so weit auf, dass nicht mehr viel gefehlt hätte und sie wären ihm aus dem Schädel gefallen. »Kein Gefängnis. Besser.« Er schielte zu dem Gewässer, das ruhig seine Bahn zog. »Wir können sie an den Fluss binden. Sie kann sich darauf frei bewegen, aber ihn nie wieder verlassen. In ein paar Jährchen wird sie dem Wahnsinn verfallen. Bis dahin wird sie Eurer Majestät zu Diensten stehen, dafür kann ich sorgen. Für sie wird es die reinste Folter.« Sein höhnisches Grinsen unterstrich seinen scheinbar hinterlistigen Gedankengang.
»Das ist eine schrecklich gemeine Idee, mein Freund. Sie gefällt mir. Whites Sympathisanten haben es nicht anders verdient.« Der König wandte sich wieder Ileria zu. »Du, meine Liebe, wirst weiter in den Diensten meiner Familie und mir zu stehen. Ich weiß, du hast Mann und Kind. Sie werden dich besuchen können und du darfst deine Tochter aufwachsen sehen. Solange, bis dich der Wahnsinn holt.« Grübelnd kratzte sich Wonderlands Regent am Kinn. »Ach ja, du wirst White weiterhin Wondies geben. Aber nur gebrochene Seelen. Für die haben wir sowieso keine Verwendung. Sie bringen lediglich unnötiges Chaos in unser schönes Land. Sollen sie sich in Mirror austoben.« Zufrieden strahlte er Bay an. »Bereite den Fluch vor.«
Ileria sah zu dem Männlein, als der König ihnen den Rücken zuwandte.
»Danke«, flüsterte sie dem kleinen Mann zu, was dieser mit einem verschwörerischen Zwinkern quittierte.
Dann verfluchte Bayard Ileria und band sie als Geist an das Gewässer. Er ließ ihr sogar die Möglichkeit, sich als Projektion ihrer selbst zumindest für kurze Zeit ihrer Familie abseits des Flusses zu widmen. Doch Bay wusste nicht, dass Ileria Mann und Kind in eine andere Welt gebracht hatte und ihre Ewigkeit in Einsamkeit verbringen würde.