Читать книгу Wolfes Schuld - Kristin Veronn - Страница 8

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Grelle Blitze und grollende Donnerschläge verfolgten Almina im Traum und rissen sie aus unruhigem Schlaf. Ihr hohes Alter ließ die ergraute Frau nur noch selten eine ganze Nacht hindurch ruhen, zudem wurde sie vermehrt von Albträumen heimgesucht, die sich finster und unheilverkündend in ihre Gedanken nisteten.

Entsetzlicher als alle anderen wiederholte sich darin der Anblick eines brennenden Hauses, dessen Feuersbrunst zwei Kinder verschlang. Obgleich die beiden, ein Junge und ein Mädchen, hätten davonlaufen können, standen sie wie schwarze Schatten reglos in der geöffneten Tür. Hinter ihnen in der Stube wallten leuchtend die Flammen empor und züngelten über ihren Köpfen. Jedesmal versuchte Almina, die Kinder zu retten. Sie wollte zu ihnen zu laufen, doch sie konnte ihre Füße nicht heben; sie schrie ihnen zu, sie sollten das Haus verlassen, doch ihre Stimme blieb tonlos. Letztendlich musste sie hilflos ansehen, wie das lodernde Dach zusammenbrach und die Kinder unter einer mächtigen Feuerwolke begrub. Diese unwirkliche Erinnerung quälte Alminas Herz, und sie haderte, ob es wahrhaft eine böse Vorahnung sein könne.

Bislang hatte Almina nicht die Gabe besessen, vorherzusagen, was in künftiger Zeit geschehen würde. Wohl aber kannte sie sich mit Heilkräutern aus, wusste Wunden zu versorgen, Zähne zu ziehen und Knochen an richtiger Stelle zu sägen, um faulende Teile vom gesunden Leib zu trennen. All ihr Können hatte sie Tristan gelehrt, ein fahrender Bader, den das Schicksal zu einer Zeit in ihr Heimatdorf geführt hatte, als sie jung an Jahren und kreuzunglücklich war. Als der Bader das Dorf zwei Tage später verließ, saß Almina verborgen in seinem Wohnkarren und zuckelte zur Hautstraße hin, auf der Flucht vor jenem Widerling, dem sie versprochen war. Kurz darauf nahm Tristan sie zur Frau. Als seine Gehilfin erlernte sie rasch den Umgang mit heilsamen Kräutern ebenso wie das Bereiten von Säften und Tinkturen. Auch den alten Glauben brachte Tristan ihr näher, mit all den Mythen und vielzähligen Götter, auf die er weit mehr vertraute als auf den einzig wahren Gott des Christentums. Viele Jahre reisten sie gemeinsam durch unzählige Ortschaften und heilten mannigfaltige Leiden. Dies Leben hätte bis zum Ende ihrer Tage fortdauern können, wenn Tristan nicht ohne jedes Vorzeichen eines Morgens auf dem Marktplatz von Castellyn tot zusammengebrochen wäre. Alminas einziger Trost in ihrer damaligen Not war jenes zufällige Glück, dass ihre jüngere Schwester Gwenifer nahebei im Dorf Hencod verheiratet war. Voller Güte hatten die Dörfler sie aufgenommen. Somit war sie geblieben und verdiente seither ihr geringes Auskommen damit, den Menschen zu helfen, wenn sie erkrankten oder verletzt waren. Neben ihrem mildtätigen Wesen besaß Almina gute Menschenkenntnis und die Leute vertrauten ihr. Dies gab ihrem Leben den rechten Sinn und stimmte die Alte zufrieden. Obgleich Almina dem christlichen Glauben zugewandt war und regelmäßig in die Messe ging, dankte sie hin und wieder den alten Göttern dafür, dass diese schützend die Hand über ihre Heilkunst hielten und Almina verschonten, als Hexe in Verruf zu geraten. Ihren Tristan hatte Almina hoch geschätzt, aber nie wirklich geliebt. Von Beginn an waren sie einander mit freundlicher Zuneigung begegnet, ohne jegliche Leidenschaft. Aber mittlerweile war alles, das sie zusammen erlebt hatten, in halb vergessenen Tagen geschehen, in einem scheinbar früheren Leben. Lange schon lebte Almina jetzt allein, in einer kleinen Hütte am südlichen Rande von Hencod.

Kaum hatten sich ihre schwachen Augen an das schummrige Licht der glimmenden Feuerstelle gewöhnt, als lautes Klopfen durch die alten Holzwände dröhnte und Almina zu verstehen gab, dass die Geräusche aus ihrem Traum nicht bloße Einbildung waren. Mit starker Faust schlug jemand heftig gegen die morsche Tür. Indes sie beschwichtigende Worte rief, quälte Almina ihre schmerzenden Knochen von dem niedrigen Strohlager.

»Is' ja gut, is' ja gut! Ich komm' ja schon.« Die Glut verbrannte ihr ein wenig Haut, als sie mit zittriger Hand nach einem Kienspan fingerte. Sie brauchte einige mißglückte Versuche, die Kerze zu entzünden, und hängte sich dann mit stockenden Bewegungen ihren zerschlissenen Mantel um. Für den nächtlichen Besucher musste eine Ewigkeit des Wartens vergehen. Als Almina die Tür fast erreicht hatte, hämmerte es erneut gegen das Holz, und die Schläge erstarben erst, als sie endlich den Riegel beiseite schob. Beim Öffnen der Tür schlug Almina leichter Regen entgegen und sie hielt schützend die Hand vor die Flamme.

Im windigen Dunkel vor ihrer kleinen Hütte stand Landmann Rees Tawel und blickte tief besorgt auf sie herab. Das leicht gewellte Haar des hochgewachsenen Mannes glänzte schwarz im flackernden Lichtschein und hing in feuchten Strähnen bis auf die kräftigen Schultern. Nach dem langen Winter war sein Gesicht noch schmaler, die sonnengefleckte Haut spannte sich über knochige Wangen und seine wachsamen Augen schienen tiefer unter den breiten, dunklen Brauen zu liegen.

»Rees, mein Junge, komm' rein.«

Eisig wallte feuchte Luft hinein, und noch in den Worten kehrte sie der offenstehenden Tür den Rücken und schlurfte hinüber zu einem freistehenden Tisch im hinteren Teil der Hütte. Dort entfachte sie mit der einzelnen Flamme weitere Stumpen, die aufgereiht auf einem Brett standen, das einige Zoll breit oberhalb einer weiteren Tischplatte an der Wand befestigt war. Zunehmend breitete sich ein schwacher Widerschein über unzählige Flaschen, Holzschatullen, Schalen und Phiolen aus, die all überall verteilt standen. Nachdem Rees sichtlich erschöpft in die Hütte gestolpert war und die Tür verriegelt hatte, spürte Almina, wie Angst und Rastlosigkeit den niedrigen Raum erfüllten.

Ruhig wandte sie sich ihm zu. »Was is' passiert, haste dich verletzt?« Als Rees ihren Blick fing, begann er wild mit den Händen zu erklären. Dabei griff er häufig an seinen dichten Bart, der im Kontrast zum dunklen Schopf rotbraun schimmerte; sein keltisches Erbe ließ sich nicht verleugnen.

Manches Mal empfand Almina es als schwierig, sich mit dem wortlosen Mann zu verständigen. Vorerst konnte sie aus seinen aufgeregten Handzeichen nur entnehmen, dass sie mit ihm kommen sollte. Zumeist deutete sie seine Zeichen richtig und hatte längst gelernt, gezielt Fragen zu stellen. Anscheinend kam er mit dieser Art gut zurecht, und da er einst hatte sprechen können, formte er manche Worte mit den Lippen.

»Ich versteh' schon - im Dorf is' jemand verletzt.« Diese Überlegung kam ihr zuerst. Rees verneinte es mit einem Kopfschütteln.

»Auf'm Hof?«, wollte sie erstaunt wissen. Er nickte.

»'n Kerl?« Erneut schüttelte Rees den Kopf. Ein bekanntes Wort kam tonlos über seine bärtigen Lippen. Ungläubig sah sie ihn an.

»'nen...Weib?« In seinen Augen lag tiefe Besorgnis.

»Wo genau is' se verletzt?« Zuerst deutete er auf Gesicht und Oberschenkel, dann plötzlich erstarrte er für einen kurzen Moment in der Bewegung, senkte den Blick zu Boden und legte die Handfläche auf seinen unteren Leib.

»Geschändet...«, flüsterte Almina. Rees nickte langsam.

»Dann...haste se gefunden.« Als er aufsah, erinnerte sein Blick an jene Nacht vor mehr als zehn Wintern. Seitdem war kein Wort mehr über seine Lippen gekommen. Almina zögerte nicht.

»Schnell, hol' Lein'n auss'er Truhe drüb'n. Hat se viel Blut verlor'n?« Sein verzweifelter Blick gab ihr Antwort.

»Wir müss'n uns eil'n.« Ihre Stimme klang fest. »Ich brauch' Saft vom Hexenkraut, Nadel, Fad'n. Haste den Karr'n bei?«

Rees nickte abgewandt, den Blick in die Truhe gerichtet, aus der er sorgsam das Tuch nahm; schon oftmals hatte er bei derlei Vorbereitungen geholfen.

Almina holte ein großes Stück Sackleinen unter dem Tisch hervor und sammelte sorgsam all jene Dinge darauf, die sie vermutlich brauchen würde. Als sie sicher war, nichts vergessen zu haben, legte sie die Enden des groben Stoffs nacheinander in eine Hand, um einen Beutel zu formen, und band diesen anschließend mit einem dünnen Strick zusammen.

Als beide die Hütte verließen, hatte der Regen nachgelassen. Geisterhafte Wolkenfetzen jagten über den tief stehenden Mond, dessen kaltes Licht lange, scharfe Schatten warf. Almina fröstelte. Rees nahm ihr den Sack ab, legte ihn auf die hintere Fläche seines morschen Gefährts, und half Almina, auf den nassen Karren zu klettern. Hiernach sprang er selbst rasch auf und setzte das eingespannte Kaltblut mit leichtem Zügelschlag in Bewegung.

Almina wusste, dass Rees stolz war, neben einer gesunden Milchkuh auch ein kräftiges Pferd zu besitzen. Der Ertrag seines Hofes hätte nicht gereicht, um sich dies leisten zu können. Doch die Baumeister der Burgstadt Castellyn schätzten sein Können als Maurer, und dieser Lohn ermöglichte Rees mehr Wohlstand als ihm so mancher aus dem Dorfe zugestand. Durch sein langes Fortbleiben war Rees den Leuten fremd geworden, so ernst und stumm, selbst jenen, die sich noch gut an den halbwüchsigen Kerl erinnern konnten, der von Schmerz und Wut getrieben seiner Heimat mehr als zehn Jahre den Rücken gekehrt hatte. Erst im vergangenen Jahr, kurz nach dem Neujahrstag, der auf dem Lande mit dem Ende des Winters einherging und zu Mariä Verkündigung am fünfundzwanzigsten März begangen wurde, war Rees überraschend nach Hencod zurückgekehrt und hatte am Rande des Alten Steinwaldes jenen kleinen Hof übernommen, den alle nur Ffermunig nannten, den Hof weit abgelegen, ein verlassenes Landhaus mit wenig Acker und einem verwahrlosten Obsthain. Darüber, wo Rees all die Zeit gelebt und was er getan hatte, war nur bekannt, dass er das Maurerhandwerk erlernt und in den Wintermonden vor seiner Rückkehr für England gekämpft hatte. Gemeinsam mit etlichen anderen war Rees freiwillig den Trommeln gefolgt, als diese mit den Herbstwinden durchs Land zogen, da König Edward III. ungeachtet eines vereinbarten Waffenstillstands seine bedrohte Machtstellung in Frankreich zu verteidigen suchte. Wenig später marschierten sie auf dem bretonischen Festland ein, unter dem Befehl von Lord William, dem damaligen Lehnsherr von Cyfrinshire. Bei der Belagerung der Stadt Vannes stellte Rees sein Können mit dem Langbogen unter Beweis und als einer der Besten wurde er dadurch entlohnt, dass der Graf ihm das Land von Ffermunig als Freihufe zusicherte. Den betagten Lehnsherrn selbst sollten die Scharmützel letztendlich das Leben kosten. Damit das gegebene Versprechen des Grafen dennoch eingelöst wurde, hatte sich Cyril ap Mabryn beim Erzbischof für Rees verwendet. Der Geistliche war der jüngerer Bruder von Rees, der dem Bischof einige Zeit in St Davids gedient hatte und mittlerweile zum Dekan berufen war. Als zusätzliche Gegenleistung wurde Rees die Treue abverlangt, abermals in den Dienst Seiner Majestät einzutreten, falls es erneut zu Auseinandersetzungen mit Frankreich kommen sollte. Und dies war bereits abzusehen. Bereits im Jahre 1340 hatte Edward sich zum rechtmäßigen König von Frankreich erklärt, es bisher nicht durchsetzen können. Nur wenige ahnten, dass dieser vorgebliche Anspruch ein Grauen heraufbeschwor, das über lange Zeit französische Landstriche mit Blut tränken sollte.

Die geringe Ackerfläche von Ffermunig bewirtschaftete Rees zumeist allein. Kein anderer Landmann hatte je Bedarf an dem hügeligen Land gezeigt, zumal der angrenzende Obsthain ungeschützt am Waldrand lag und das Rotwild im Herbst die Äpfel von den niedrigen Ästen fraß. Aber Rees besaß eiserne Zielstrebigkeit; innerhalb einer Jahresfrist hatte er zum Schutze der uralten knorrigen Bäume einen Wall aus Feldsteinen und Gehölz errichtet, der ihm selbst bis zur Hüfte reichte.

Derweil nun der Karren unter dem sternenlosen Himmel zum Dorf hinausschaukelte, schwächten vermehrt Schleierwolken das Licht des Mondes. Bei der Hauptstraße angelangt, lenkte Rees das Pferd in nördliche Richtung und trieb es in den schnellst möglichen Lauf. Nach und nach verschwanden die Umrisse des Gefährts in der Dunkelheit. Kurz war noch entferntes Rumpeln zu vernehmen, bevor jeglicher Laut hinter einer Wegbiegung verhallte und sich nächtliche Stille über die unwirkliche Landschaft ausbreitete, deren harte Schemen vom bläulichem Federstrich des Mondes gezeichnet waren.

Als das brave Zugtier schließlich den Zuweg nach Ffermunig passierte und den Karren am seichten Hang hinunterzog, ging aus finsteren Wolken plötzlich ein heftiger Sturzregen hernieder. Launenhafte Windböen peitschten einen stechenden Regen unbarmherzig über Mensch und Tier und zwangen die nächtlichen Fuhrleute, die Kapuzen überzuwerfen. Rasch griff Almina nach dem Beutel und barg ihn unter dem Mantel. Innerhalb eines Atemzugs wurde der Mond ausgelöscht, sodass Rees jeweder Helligkeit beraubt war und für den Rest des Weges absteigen musste, um das Pferd vorsichtig durch die Dunkelheit zu führen, kannte er doch jeden Stein hinab zum Hof. Dicht am Eingang zum Haus zügelte Rees das Pferd und öffnete die Tür, damit Almina ein wenig Licht bekam und absteigen konnte. Triefend vor Nässe betraten Rees und Almina die einzige Stube, die sie mit angenehmer Wärme empfing.

Bevor Rees die verletzte Frau zurückließ, hatte er ein schwaches Feuer entfacht, das durch niedriges Mauerwerk geschützt in einer hinteren Ecke der Stube brannte,. Im Gegensatz zu den üblichen Wohnhäusern, wo der Rauch einer schlichten Feuermulde den ganzen Raum verqualmte und nur über eine zugige Öffnung im Dach entweichen konnte, hatte Rees sein handwerkliches Wissen dafür genutzt, einen Herdplatz mit schlichtem Rauchfang aus Stein zu errichten. Dies war wesentlich sicherer als ein offenes Feuer in der Mitte des Hauses. Hiernach hatte Rees zum Strohdach eine Holzdecke einziehen können, durch die ein oberes Stockwerk entstanden war, wenn auch niedrig und nur zum Lagern genutzt.

Das flackernde Licht des Feuers warf gespenstische Schatten auf die bedauernswerte Gestalt, die nahe dem Herdkamin auf der Schlafstatt lag, unkenntlich in den Wollmantel gewickelt und auf Schaffell gebettet. Beim Eintreten schob Almina die durchnässte Kapuze vom Kopf und ging sogleich zu ihr hinüber. Rees schloss die Tür und blieb dort hilflos stehen. Derweil Almina die starke Schwellung in dem blassen, verschmutzten Gesicht begutachtet, wies sie Rees an, zu helfen.

»'nen Kessel heißes Wasser brauch'n wir, schnell, hol' Wasser. Und bring' große, flache Steine, tunlichst aus'm Bach.« Mit einem Seufzen öffnete Rees die Tür, er schien erleichtert.

»Bedeck' se mit kalt'm Wasser«, rief sie ihm nach, kurz bevor der Riegel einrastete.

Ihren Beutel breitete Almina auf der großen, länglichen Eichenplatte aus, die auf zwei Böcke gelegt als einziger Tisch in der Mitte der Stube stand. Zu beiden Seiten waren Holzbänke daran gestellt. Zu allererst tropfte Almina der verletzten Frau aus einem Fläschchen einen stark verdünnten Sud in den Mund, gebraut aus den Blättern des schwarzen Bilsenkrauts. Eine geringe Menge des Gifts würde sie alsbald in einen tiefen Rausch versetzen und ihr die Schmerzen nehmen, ohne ihr dabei zu schaden. In dem geschwächten Zustand war die Arme kaum in der Lage, zu schlucken, doch Almina hatte die stärkste Mischung gewählt, und schon bald würde sich die Wirkung von ihrer Zunge auf den gesamten Körper ausbreiten. Mit geschlossenen Augen holte Almina tief Luft, bevor sie das Wollvlies aufdeckte.

Es dauerte nicht lange, bis Rees mit zwei schweren Holzeimern zurückkehrte. Als sich die Tür öffnete, zog Almina hastig die grobe Wolldecke über den entblößten Körper. In seiner Abwesenheit hatte sie die Verletzungen ausreichend untersucht, um entscheiden zu können, was zu tun war. Die klaffende Schnittwunde am Oberschenkel musste genäht werden. Danach würde sie die verletzte Scham von außen mit einem Kräuterverband behandeln, in der Hoffnung, dass innere Verletzungen von selbst heilen würden. Am wichtigsten war, zuerst den Schmutz aus den Wunden zu waschen.

»Häng'n Kessel möglichst tief übers Feuer, Junge, damit's schnell kocht, 'n andern gib‘ her zu mir.« Rees stellte den Eimer neben ihr ab und sie nahm einen der nassen Steine heraus, trocknete ihn ein wenig mit einem Leintuch und drückte ihn dann sanft gegen die starke Prellung auf der linken Gesichtshälfte. Derweil goß Rees Wasser in einen Kessel und hängte diesen über das Feuer.

»Glück hat se, der Schnitt is' wohl tief, doch de Klinge hat 'ne große Ader im Bein verpasst. Gut war's, dass du's stramm abgebund'n hast«, meinte sie anerkennend. Dabei betrachtete sie aufmerksam, wie der erschöpfte Mann vor der gemauerten Nische hockte und das Feuer unter dem Kessel mit Reisig schürte. »Besser is', du gehst jetzt raus.« Dies ergänzte sie mit Bedacht, da Rees ihr jetzt nicht weiter würde helfen können.

Die Bewegung, mit der Rees sich aufrichtete, ließ unverrückbare Entschlossenheit erkennen, und als ob er Almina an seinem Innersten teilhaben lassen wollte, sah er ihr einen Moment lang direkt in die Augen. Durch den schwachen Feuerschein verbarg sich das erdige Grün seiner Augen hinter weit geöffneten Pupillen und ließ seinen Blick schwarz schimmern. Obgleich Almina nur vermuten konnte, was sein weiteres Vorhaben betraf, gab sein Ausdruck ihr deutlich zu verstehen, dass es unvermeidlich war. Sie seufzte tief.

Daraufhin nahm Rees einige Kerzenstumpen von einem Wandbrett neben dem Herd, stellte diese auf den Tisch und entzündete sie mit einem Kienspan, damit es für Alminas Arbeit hell genug war. Anschließend schritt er zur gegenüberliegenden Längsseite des Hauses, wo sich ein Durchgang zum angrenzenden Stall befand, verdeckt durch eine schmale Stiege, die auf den kleinen Dachspeicher führte. Nachdem er die Pforte leise hinter sich geschlossen hatte, hörte Almina es nebenan rumoren, leises Wiehern drang durch das Holz. Almina wußte, dass seit ihrer Ankunft keine Zeit geblieben war, das Kaltblut aus dem Karren zu spannen und zurück in den Stall zu bringen. Fast hätte die Neugier sie überwältigt. Doch wäre sie aufgestanden, um vorsichtig nachzuschauen, hätte sie Rees womöglich das Gefühl gegeben, dass sie ihm misstraute.

Stattdessen richtete sie ihre Gedanken auf die Vorbereitungen, den tiefen Schnitt wie die Naht eines Kleides mit einem Faden zu verschließen. Als draußen vorm Haus Geräusche zu hören waren, konnte sie ebensowenig sehen, was dort vor sich ging, da die kleinen Fenster mit Schlagläden verschlossen waren. Vermutlich brachte Rees den Karren in den Stall.

Zuerst spülte Almina alle Wunden mit warmen Wasser, wusch sie dann mit Wein und bedeckte die vier Zoll lange Naht mit sauberem Tuch, belegt mit Kamille und Schafgarbe. Einstweilen öffnete Rees kurzzeitig die Vordertür, blieb im Durchgang stehen und deutete mit Handzeichen an, dass er nochmals fortreiten würde. Almina wusste es längst, und bestätigte mit leichtem Kopfnicken, dass sie verstanden hatte. Kurz darauf hörte Almina, wie das Stapfen der Hufe von der durchweichten Erde gedämpft wurde und dennoch verriet, dass mehr als ein Pferd hinaus in den dunklen Regen trabte.

Erst im Zwielicht des Morgens kehrte Rees zurück. Längst hatte der Regen aufgehört, Almina saß auf dem alten Baumstumpf vorm Haus und wartete seit einiger Zeit. Müde stieg Rees vom Pferd und führte es am Zügel zu ihr herüber. Seine Kleider waren arg verschmutzt und Almina entdeckte den Spaten, der unter dem Sattelriemen klemmte und ebenfalls mit Lehm beschmiert war. Sie würde nicht fragen, wo er gewesen war. Rees griff sacht ihren Arm, als sie sich mit schwerfälligen Gliedern erhob.

»Werd' des Abends wiederkomm'n.« Auch ihre Stimme klang erschöpft. »Gib‘ ihr bis dahin dreimal vom Saft. Und versuch', ihr möglichst viel Wasser einzuflöß'n. Se fiebert.« Ein Moment des Schweigens trat ein, da Almina zögerte, Rees an ihren Überlegungen teilhaben zu lassen. »De Weiblichkeit is' nich' so schlimm verletzt, nich' so, wie ich's befürchtet hatt'. Recht früh muss wer's widerwärtige Tun gestört hab'n.« Augenblicklich senkte Rees den Kopf und schaute zu Boden. Anscheinend wollte er sich ihrem Blick entziehen, und Almina begriff, er wußte mehr. Sie wandte sich zum Gehen, Rees deutete auf das Pferd.

»'s kurze Stück werd'n de Füß' mich schon trag'n, mein Junge«, meinte sie fest. »Ihr seid de ganze Nacht geritt'n, Mann und Tier müss'n endlich ruh'n. Sollt' mich jemand frag'n, kann ich immer sag'n, ich hätt' im Steinwald Kräuter gesucht.« Am kummervollen Ausdruck in seinen Augen erkannte sie, dass Rees auf ermutigende Worte hoffte, bevor sie fortging. Sie legte ihre knochige Hand auf seinen Arm und sprach beruhigend.

»Jung is' se, mein lieber Rees. De Wund'n werd'n heil'n.« Dann kehrte sie ihm den Rücken und begab sich auf den Anstieg. Nach wenigen Schritten hielt sie kurz inne und drehte seitlich den Kopf, damit Rees ihre Worte verstehen konnte. »Nur bei der Seele, da bin ich nich' so sicher.«

Im selben Moment brach eine blasse Morgensonne durch die kahlen Bäume am östlichen Horizont und fing seinen Blick, weit entfernt über der Kuppe eines niedrigen Hügels. Noch wärmten die Strahlen nicht, doch schon bald würde dank ihrer Kraft alles neu zum Leben erwachen.

Im Licht des anbrechenden Tages stieg Almina schwerfällig den einzigen Pfad hinauf, der zur Hauptstraße führte, und überließ Rees seinen Gedanken, was immer diese von nun an beherrschen würde.

Beim Dorf angelangt kehrte Almina nicht sogleich in ihr bescheidenes Heim zurück, sondern lief entlang der nördlichen Gehöfte in Richtung Osten. Das Dorf Hencod war ein idyllischer Flecken fruchtbarer Erde; knapp vier Meilen südlich der Stadt lag es unweit des Flusses Awen oberhalb des östlichen Ufers; eine Ansammlung ähnlich gearteter Gutshöfe, die in ihrer Mitte mit schiefen Weidenzäunen den Dorfanger umgrenzten: eine kleine Kirche, einen hübschen Teich und dazwischen eine große, alte Eiche.

Rechter Hand verzweigte sich bald ein breiter Weg und führte Almina die leichte Anhöhe hinab zum Hause ihrer Schwester. Gwenifer war um einiges jünger als Almina und bewirtschaftete mit ihrem Mann Siorus den schön gelegenen Hof Weatlys auf der Ostseite von Hencod. Im Umkreis vieler Meilen war ihr Mann einer der wohlhabendsten Pächter. Die Töchter waren unlängst aus dem Hause und hatten geheiratet. Alle, bis auf Meredith, die jüngste, und die hübscheste.

Almina fand die rüstige Landfrau beim Geflügelhaus, wo sie soeben die Hühner fütterte. Ein dunkler Weidenkorb, gefüllt mit frischen Eiern, stand neben ihr auf dem festgetretenen Lehmboden. Die Verwandtschaft der Frauen war unübersehbar, beide hatten die gleiche knochige Zeichnung, eine knubbelige Nase und schmale Augen. Warmherzig begrüßte Almina die Schwester. »Gut'n Morgen, liebste Gwenifer.«

»Gut'n Morgen, Almina«, erwiderte diese freundlich. Obwohl Gwenifer lächelte, überdeckte dies nicht jene tiefe Traurigkeit, die sich in ihre Züge gegraben hatte. »Bist früh unterwegs. Dabei schauste sehr müd'. Is' was passiert?«

»Möcht' nich' viel sagen, Liebes«, erklärte Almina. »Manchmal is's besser, selbst unwissend zu bleib'n.« Sie stockte, denn sie war unsicher, ob sie geradewegs sprechen sollte. Doch es musste sein. Gwenifer blickte sie fragend an.

»Ich brauch' Kleider - von Meredith, mein' ich.« Seit letztem Frühsommer bewahrte Gwenifer die Kleider ihrer jüngster Tochter in einer kleinen Eichentruhe, seit jenem Morgen, als das Mädchen verschwand. Bei der Suche hatte ein jeder aus dem Dorf geholfen, meilenweit waren sie gegangen, tagelang. Wäre dem Mädchen ein Unglück geschehen, wie ein Sturz oder ein wildes Tier, sie wäre gefunden worden, das war ohne Zweifel. Doch nichts war von ihr geblieben, außer jenen ordentlich gefalteten Kleidern und der zermürbenden Ungewißheit, welch schlimmes Unheil dem jungen Ding widerfahren war. Gwenifer wurde blaß, ihr schien die Stimme zu versagen.

»Wozu? Für wen?« Almina merkte, dass sie ihrer Schwester wenigstens eine grobe Erklärung schuldete.

»Rees hat im Wald 'ne junge Frau gefund'n.« Möglichst wenig wollte sie kundtun. »Schlimm wurd' se zugerichtet. Ihr einzig Kleid is' zerriss'n und getränkt mit Blut.« Entsetzen spiegelte sich auf dem Gesicht der Schwester.

»Weiß Rees, wer's war? Hat er was gesehen?«

»Rees schweigt.«

»Rees schweigt immer.« Gwenifer wirkte verdutzt. »Hast du's überhaupt wissen woll'n?«

»Hab's anfangs versucht, als er mich mit'm Karren zum Hof brachte. Aber du kennst ja sein Benimm, wenn er nix hör'n will.« Rees machte stets eine deutliche Geste, um unerwünschtes Gerede zu beenden; begleitet von heftigem Kopfschütteln fuhr er mit der Hand quer durch die Luft, als wolle er etwas vom Tisch wischen.

»Glaubste, 's war der von - damals?« Gwenifers Stimme war nur ein Flüstern. Alminas Antwort kam behutsam.

»Nie werd'n wir's erfahr'n, denk' ich. Von ganz'm Herzen wünscht' ich, dir ein wenig vom unsäglich'n Schmerz nehm'n zu könn'n.« Da sie keine Tränen zulassen wollte, schnürten ihr die Worte die Kehle zu. Almina drehte den Kopf zur Seite, denn die Schwester sollte nichts bemerken. »Könn'n nur bet'n und hoff'n, dass 's arme Kind nicht lang gelitt'n hat.« Sie musste einige Male schlucken, bis sich der innere Aufruhr gelegt hatte, danach klang ihre Stimme wieder fest und bestimmt. »Gewiß is' jedoch, dieser wird's nie wieder tun.« Leichtes Entsetzen stand Gwenifer ins Gesicht geschrieben, dennoch blieb sie still, wohl wissend, dass Almina keine weitere Erklärung liefern wollte. Trotz allem zögerte sie noch. »Ich bitt' dich inständig, Gwenifer. De junge Frau wird's dir dank'n.« Für einen kurzen Augenblick verharrten beide schweigend in diesen Worten. Gwenifers Stimme klang belegt, als sie die Stille brach.

»Komm' ins Haus, de junge Frau darf nich' ohne Kleider bleib'n.« Still gingen die Schwestern zum hinteren Eingang des Hauses und Almina konnte auf Gwenifers Wangen die stillen Tränen sehen.

Als sie eine hinreichende Ausstattung ausgewählt hatten, packten sie die Gewänder zu einem Bündel. Zwei lange Kleider gab Gwenifer her, ein leichtes in Taubenblau und ein braunes aus gröberer Wolle, sowie zwei Unterkleider. Der Tag zeigte sich zunehmend freundlich, als sie aus dem Landhaus in den lichten Morgen traten. Die Regennässe dampfte auf den Feldern und im Licht der zaghaften Frühlingssonne glitzerten die Tropfen an den Zweigen wie kleine Sterne. Es sollte der erste warme Tag des Jahres werden. Gwenifer begleitete Almina bis zur Umzäunung des Hofs und beobachtete die ältere Schwester aus den Augenwinkeln, als sie Worte sprach, von denen sie wusste, dass diese Alminas Zorn erregen würden.

»Und wenn doch...der Wolf unsre Meredith geholt hat?« Unablässig nagte diese dämonische Vorstellung an ihr, durch den Kummer war sie außerstande, derartige Gedanken zu verwerfen. Gereizt machte Almina ihrem Unmut Luft.

»Wie kannste nur solch Ammenmärch'n glaub'n!« Gwenifer wollte sich verteidigen.

»Is' nich' der Wolf Gehilf' des Teufels, denn wohl kann er den Kopf nich' wend'n...« Mit Zornesfalte zwischen den Brauen wartete Almina ungeduldig, dass ihre Schwester den Aberwitz zu Ende führte. »...und wer nich' zurückblick'n kann, handelt ohne Reue.« Damit gab die Schwester jene Worte wider, die ein blindwütiger Bettelmönch dereinst lauthals auf dem Marktplatz verkündet hatte. Almina schnaubte.

»Haste schon mal 'nen Wolf geseh'n, der 'n Kopf nich' dreh'n kann?«

»Hab' noch nie 'nen Wolf geseh'n.« Zu jener Zeit waren die Leute unkundig, was den Anblick eines Wolfes betraf, war er doch in den Wäldern kaum mehr zu finden, so gnadenlos hatte der Mensch ihn gejagt. Dennoch gab es zweifelsohne einen Wolf im Alten Steinwald, falls das Tier nicht längst gen Norden zu seinesgleichen gewandert war. Almina war ihm ein einziges Mal begegnet. Damals war das Tier noch jung und tapsig gewesen, tiefschwarz war sein dichtes Fell und es wirkte wohl furchteinflößend, mit Augen wie geschliffenes Malachit. Niemandem hatte sie davon erzählt, insbesondere nicht der Schwester, da sie ahnte, was es bedeutet hätte. Almina begann zu schimpfen.

»Grausame Kreatur'n, de Jungfrau'n in Höhl'n schlepp'n! Gleichwohl's bei dieser Frau bestialisch aussieht, kann's nur eine Art von Tier tun, und zwar das im Manne! Oder wahrhaftiger, der Teufel in ihm, denn Getier is' von Natur aus weder gut noch bös'.« Eindringlich sah sie ihre Schwester an. »Glaubste denn wirklich solch Schauergeschicht'n?«

»Nee, Recht haste, wie immer. Is' töricht. Aber wenn mir sonst nix bleibt?« Almina wusste, darin lag das Unglück. Voller Mitgefühl fasste sie Gwenifer am Arm, Verständnis hatte ihren Zorn beschwichtigt.

»Ich dank' dir recht herzlich, Gwenifer. Und bitt' dich, liebe Schwester, erzähl' keiner Menschenseele, was gescheh'n is'. Auch nicht dem Siorus.«

Von der Pforte sah Gwenifer ihr nach. Almina spürte dies, obgleich sie es nicht sehen konnte. Reglos und verloren würde die Schwester auch dann noch dort ausharren, wenn Almina ihrem Blick längst entschwunden war. Wie oft hatte Gwenifer an dieser Stelle gestanden und gehofft, ihr kleines Mädchen würde eines Tages auf diesem Weg zurückkommen. Gewiß war es ein unerträgliches Greuel, welches jener fremden Frau letzte Nacht widerfahren war. Doch für Gwenifer würde es kaum ein Trost sein, dass der Schänder zu Tode kam, denn ihren unendlichen Schmerz konnte dies nicht lindern.

Wolfes Schuld

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