Читать книгу Wolfes Schuld - Kristin Veronn - Страница 9
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ОглавлениеCyril ap Mabryn stand am Schreibpult und tauchte sorgsam den Federkiel in ein Tintenfaß, bevor er das nächstfolgende Wort auf ein Pergament schrieb. Er war dankbar für die wollenen Beinlinge unter seinem schwarzen Habit und die festen Lederschuhe an seinen Füßen, denn die Holzladen der hohen Burgfenster standen weit offen und das zaghafte Feuer im Kamin vermochte der kühlen Frühlingsluft keine ausreichende Wärme entgegenzusetzen; allerdings brachte die frühe Mittagsstunde nicht nur Kälte mit sich, sondern auch ein helles und freundliches Licht. Gelegentlich hob Cyril den Blick und schaute hinüber zur Fensterfront der Stube. In einer der Nischen lehnte halb sitzend der junge Graf Evan und beobachtete vom oberen Stockwerk das rege Treiben im schattigen Burghof. Allmorgendlich übten sich dort die Gefolgsleute der Grafschaft Cyfrinshire im Schwertkampf und mit jedem Hieb hallte das Klirren von Stahl zu ihnen herauf. Neuerdings wurden die Kettenrüstungen der Ritter an wichtigen Stellen durch Platten verstärkt, was den Kampf ohne Schild ermöglichte; derart gerüstet erprobten die Männer am heutigen Tage die neuen Langschwerter, die aufgrund von Größe und Gewicht nur mit beiden Händen zu führen waren.
Die Festung zu Castellyn war keine Stadtburg im üblichen Sinne, sie lag außerhalb der großen Siedlung, die denselben Namen trug. Erbaut auf den flachen Felsen einer niedrigen Anhöhe stand sie in einer Biegung am südlichen Ufer des Flusses Awen, der sich an dieser Stelle von Osten durch die weite Ebene schlängelte. Zu Beginn stand die rechteckige Anlage allein, umgeben von vereinzelten Landhäusern und weitläufigen Wiesen und von jeher bewacht von den Zinnen der vier mächtigen Rundtürme. Doch über die Jahrzehnte siedelte immer mehr Volk an dem fischreichen Gewässer und so war eine Viertelmeile südöstlich der Burgmauern eine Stadt herangewachsen.
Einziger Zugang zur Burg war das Haupttor auf der Ostseite, das nur über eine schmale Vorburg erreicht werden konnte, die sich vom südlichen Wehrturm bis zum nördlichen Flügel zog. In diesem vorgelagerten Schutzbau befanden sich hinter niedrigen Mauern die Schmiedestätten und ein Backhaus sowie die Stallungen für Pferde und Fuhrwerk. Dahinter erhob sich das beeindruckende Mauerwerk des Ostflügels mit einem fünfkantigen Kapellenturm, der weithin sichtbar in den Hof der Vorburg ragte. Die Wohnbauten der Nord- und Westflanke besaßen keinen äußeren Zugang und wurden zusätzlich durch die Biegung des nahen Flußlaufs geschützt. Auch im südlichen Mauerwall gab es kein Tor, das die Wehrhaftigkeit beeinträchtigen konnte. Zudem hatten es die Burgherrn stets für sinnvoll erachtet, dass die Festung für sich blieb und nicht durch nördliche Ausdehnungen der Stadt in deren Mauern einbezogen wurde. Somit erstreckten sich weitere Ansiedlungen ostwärts und entlang des Flusslaufs, der ursprünglich von Süden kam. Die Stadt erhielt eigene Wehrtürme und Mauern, von deren nördlichem Zugangstor ein gewundener Hauptweg bis zum Torhaus der Vorburg führte.
Erneut blickte Cyril auf und legte die Feder aufs Pult. Das Schreibwerk war fertiggestellt und musste einen Moment trocknen. Schweigend betrachtete er die jungenhafte Gestalt des Grafen. Mehr als ein Jahr war bereits vergangen, seit Evans Vater, der ehrbare Lord William, vor den Toren einer französischen Stadt den Tod gefunden hatte. Als getreuer Vasall war er damals seiner Verpflichtung nachgekommen, den König beim Einmarsch in die Bretagne zu unterstützen. Die Machtverhältnisse in diesem Herzogtum waren ständig umstritten und König Edward wollte Vannes zurückerobern, um bei der Fehde wieder die Oberhand zu gewinnen. Deshalb landetet Lord William im Nebelmond 1342 in Brest, auf einem Schiff mit walisischen und englischen Bogenschützen, denen seit der siegreichen Seeschlacht von Sluis ein furchteinflößender Leumund vorauseilte. Kaum hatte das englische Herr die besagte Stadt erreicht, schickte der König von Frankreich, Philip VI., zu ihrem Schutz ein mächtiges Heer, unter dem Befehl des Herzogs der Normandie. König Edward blieb nicht anderes übrig, als seine Truppen bestmöglich zu befestigen und abzuwarten. Nach einigen Wochen entsandte der Papst zwei Kardinäle als Legaten, die zwischen den Heerführern Friedensbedingungen aushandeln sollten. Anfangs zeigten sich beide Seiten verstockt, und immer wieder gab es zwischen den Truppen kleinere Gefechte. Erst mit der Zeit brachten die zermürbenden Zustände in den Lagern die Befehlshaber zur Vernunft. Es regnete unaufhörlich, Mensch und Tier wurden krank und die Franzosen hielten die Versorgungswege zum Meer bewacht. Zu allem Unglück wurde Lord William zum Ende der Belagerung schwer verwundet und erlag nach wenigen Tagen des Hoffens und Bangens seinen Verletzungen - kurz bevor König und Herzog im Eismond des Jahres 1343 auf eine fragile Waffenruhe von drei Jahren schworen.
Am Tage der Trauerbotschaft stand Evan plötzlich allein und sah sich, mit siebzehn Wintern und ohne jegliche Erfahrung, den Aufgaben eines gräflichen Lehnsherren gegenüber. Traditionell wäre ihm der Lebensweg eines Ordensbruders vorgezeichnet gewesen, da er in der Erbfolge an zweiter Stelle geboren war. Doch bereits in jungen Jahren hatte sein älterer Bruder Oswin den Vater um Erlaubnis gebeten, an seiner Statt dem Augustinerorden der nahegelegenen Haverfordwest Priory beitreten zu dürfen. Lord William hatte Oswin seinen tief frommen Wunsch gewährt, großmütig und in stiller Dankbarkeit, zumal Evan in Temperament und Geschick seit jeher in der Nachfolge passender erschienen war.
Ehemals war auch Cyril ein Bruder dieser Ordensgemeinschaft. Nach einigen Jahren des klösterlichen Studiums musste er feststellen, dass er mehr den weltlichen Dingen zugewandt war als innerer Einkehr. So beschloß er, die Abtei wieder zu verlassen. Auf Veranlassung des Priors verbrachte er daraufhin einige Zeit in der brüderlichen Gemeinschaft von St Davids, wo er auf eigenen Wunsch von Bischof Henry Gower höchstselbst zum Priester geweiht wurde. Kurz darauf berief dieser ihn zum Dekan von Cyfrinshire, und seit bald drei Wintern oblag Cyril nun schon die verantwortungsvolle Aufgabe, von seinem Amtssitz in Castellyn die angeschlossenen Pfarrgemeinden zu beaufsichtigen und dem Bischof entsprechend Bericht zu erstatten.
Darüber hinaus gab Cyril dem unerfahrenen Evan einen wichtigen Rückhalt, seitdem der ehrenwerte Lord William gefallen war. Da es dem jungen Grafen in der Ausführung öffentlicher Angelegenheiten oftmals an Sicherheit mangelte, half Cyril beim Verfassen wichtiger Schriften und stand bei rechtlichen Verhandlungen stets an seiner Seite. Evan war äußerst dankbar, dass der Geistliche, der kaum zehn Jahre älter war als er selbst, in gewisser Weise jene schmerzliche Lücke füllte, die der frühe Tod des Vaters gerissen hatte. Im Zuge all dessen wurde Cyril für Evan ein verläßlicher Freund sowie Berater, wenn auch die beiden Männer nicht immer dieselbe Meinung teilten.
Am diesem Morgen genoß Evan sichtlich, wie die gewinnende Kraft der blassen Frühlingssonne erstmals wieder sein Gesicht wärmte. Zur dieser Stunde fielen die Strahlen geradewegs durch die oberen Fenster des nördlichen Gebäudes. Dennoch war der junge Mann überaus missgestimmt.
»Bereits am gestrigen Abend hätte Sir Vance zurückkehren sollen!« Im Grün seiner klugen Augen blitzte Verärgerung auf.
Obgleich in vielen Adelshäusern die Konversation noch immer auf Französisch geführt wurde, sprach Evan mit Cyril Englisch, genau wie sein Vater zuvor. Cyril stimmte es freudig, dass die gemeine Sprache des Volkes an Gewicht gewann. Der König selbst bevorzugte das Englische, obschon er Französisch als Muttersprache erlernt hatte.
»Ich befürchte, Mylord, dieses Mal werden wir eine Eskorte nach Haverfordwest entsenden müssen, um Sir Vance aus dortigen Hurenhäusern zu zerren.« Cyrils Erwiderung klang gleichmütig.
»Mir wurde berichtet«, gab Evan wieder, »dass in unserer Stadt kaum eine Metze mehr bereit ist, mit Vance das Lager zu teilen - für kein Gold der Welt. Doch manches Mal erkennen die Weiber zu spät, auf wen sie sich eingelassen haben.«
Bis zu einem gewissem Punkt teilte Cyril die Meinung seines Grafen. »Hier in Castellyn werden sie ihn ausmachen, vielleicht sogar in ganz Cyfrinshire, selbst wenn er im schlichten Gewand erscheint. Daher kam ihm ein Botengang außerhalb der Grafschaft gewiss sehr gelegen. Leider gibt es viele Weiber, denen keine andere Wahl bleibt; sie müssen jedes Wagnis eingehen. Und seid versichert, Mylord, Sir Vance findet stets verwahrloste Gassen, wo ihm das Elend in die Hände spielt; bei solchen, die nichts von seiner unberechenbaren Neigung wissen.«
Indes Cyril behutsam das fertiges Pergament einrollte und mit einem Lederband umwickelte, betrachtete er versonnen das wohlgestaltete Gesicht des jungen Grafen. Noch hatten die wenigen Lebensjahre keine Spuren in seinen jugendlichen Zügen hinterlassen. Im Licht der Sonne schimmerte sein kinnlanges, braunes Haar fast blond, und einen Augenblick lang erschien Evan trotz sauber gestutztem Bart unwirklich wie ein Engel. Der dunkelgrüne Samt seines gesteppten Wams, dessen goldene Knopfleiste bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, betonte die Farbe von Evans sanften Augen.
Wonne und Wehmut zugleich durchfluteten Cyrils Seele, denn er liebte dieses junge Gesicht. Wenn er hingegen seinem eigenen Antlitz in einer Spiegelung begegnete, so betrübte ihn der Anblick stets aufs Neue. Helles kupferrotes Haar umrandete seine Tonsur und klebte ihm in kurzen Strähnen dicht am Kopf, seine Nase wirkte plump und sein Mund weibisch, lediglich die großen, wasserblauen Augen brachten eine gewisse Anmut in das breite Gesicht. Die helle Haut war übersät mit kleinen rotbraunen Flecken, darunter war sie farblos und wirkte durch das harte Schwarz seines Habit derart blass, als würde das Leben durch ihn hindurch scheinen. Ein bleicher Geist, dem es auf ewig versagt bleiben würde, zu leben wie er empfand; denn als größten Makel quälte Cyril, dass er von männlicher Natur war.
»Es ist einfach widerlich!«, entfuhr es dem Grafen unvermutet. »Stets frage ich mich, was der Anlass für solch zügelloses Wesen sein mag. Warum prügelt Vance die Frauen? Bereitet es ihm Genuß?« Fragend blickte er zu Cyril. »Und wieso läßt der Herrgott so etwas geschehen, Hochwürden?«
»Richtig gefragt wäre, warum Ihr es geschehen lasst, Mylord«, korrigierte Cyril ihn vorsichtig. »Ist es im Sinne Gottes, wenn ein Graf seinen Mannen solche Untaten durchgehen läßt? Ihr solltet mehr Respekt und Anstand einfordern.«
»Was könnte ich dagegen tun?« Evans Erwiderung enthielt kaum Trotz, wusste er doch sehr wohl, dass Cyril recht hatte. »Einem Schlachtroß werden mehr Rechte zugesprochen als einer Hure. Vermutlich würde hinter meinem Rücken gelacht.« Cyril seufzte und nickte betroffen.
»Gott sei's gedankt, dass es nur selten geschieht«, schloss Evan. »Und keine ist je zu Tode gekommen.« Cyril Blick verfinsterte sich und er sah den Grafen prüfend an.
»Seid Ihr sicher, Mylord!?« Unschlüssig zuckte Evan mit den Schultern. Cyril konnte dies nicht auf sich beruhen lassen.
»Kaum eine Handvoll Jahre sind seither verstrichen, Mylord. Vermutlich erinnert Ihr Euch. Ihr selbst wart - fast dreizehn Winter alt? Aus meinem Dorf wird keiner diesen Morgen jemals vergessen - ganz gleich, wie viele Jahre vergehen mögen.«
An jenem Sommermorgen hatte die Hitze bereits diesig über den Feldern am Fluss gestanden, als einige Landleute aus Hencod die geprügelte Frau tot aus den Fluten des Awen zogen. Zur gleichen Zeit war Cyril mit einem Bündel über der Schulter unterwegs, die Pflicht berief ihn zurück nach St Davids. Nur wenige Tage hatte er damals in Hencod geweilt, um dafür zu sorgen, dass sein Vater, der alte Mabryn, ein angemessenes Begräbnis bekam. Seit dem Tode der Mutter war Mabryn mehr und mehr zum Trunkenbold geworden. Eines Tages konnte er nur noch tot geborgen werden, nachdem er volltrunken vom Scheunenboden gestürzt war. Auf seinem Rückweg entlang des Flusses kam Cyril ein aufgebrachter Fischer entgegen, packte ihn grob beim Arm und schrie ihm die grauenvolle Entdeckung ins Gesicht. Und Cyril ging hinunter ans Ufer, um zu schauen; um die gepeinigte Frau mit den schützenden Worten eines Gebets in die Hände Gottes zu geben; um die armen Landleute zu beruhigen; um ihnen allen beizustehen, der Toten sowie den Lebenden, die sie umringten. Niemals würde er den Anblick aus seinen Erinnerungen wischen können. Das Mädchen hatte so wunderbar rotes Haar, dunkel wie Blutbuche.
»Das Urteil oblag damals Eurem Vater.« Cyril wusste wohl, dass der angedeutete Vorwurf Evan aufbringen würde.
»Mein Vater gab damals eine öffentliche Erklärung ab.« Evans Stimme hob sich. »Vance konnte nichts nachgewiesen werden.«
»Weil er mögliche Zeugen zum Schweigen gebracht hat, mit Münzen - oder Schlimmerem.« Cyril war nicht bereit, von seiner Überzeugung abzurücken, seine Stimme hallte lauter. »Doch der Leib der jungen Frau trug seine Handschrift. Ein jeder ahnte, dass er dieses Mal zu weit gegangen war.«
Evan ließ sich nicht drängen, jene Entscheidung aus der Vergangenheit, die nicht einmal seine eigene war, zu rechtfertigen. Statt dessen untermauerte er den Nutzen des gegenwärtigen Zustands. »Eingesetzt von meinem Vater, Hochwürden, ist Sir Vance Befehlshaber der Stadtwache, und unser bester Mann im Kampfe. Wir brauchen ihn.« Vance war ein bemerkenswerter Kämpfer, kaum zu besiegen, das stand außer Frage. Überdies stets höflich und mit tadellosen Manieren erschien er recht charmant, im Gegensatz zu der vorlauten Art seines jüngeren Bruders Cole.
»Dann sollten wir nicht weiter mutmaßen, sondern hoffen, dass der unverzichtbare Ritter sich im Zaume hält.« Cyril lag es fern, den Unwillen seines Grafen herauszufordern. Versöhnlich reichte er Lord Evan den Federkiel. »Würdet Ihr bitte unterzeichnen, Mylord.«
Nachdem Evan eine vereinbarte Erbschaftsregelung mit seiner Unterschrift beurkundet hatte, nahm Cyril das Schriftstück, streute ein wenig Sand darüber, um die Tinte zu trocknen, und versiegelte es schließlich. Evan wandte sich erneut ans Fenster und blickte hinaus.
»Falls Sir Vance am morgigen Tag nicht bis zur Mittagsstunde zurückgekehrt ist, werde ich zwei Reiter aussenden, um ihn an seine Pflichten zu erinnern.«
Die Schriftstücke in der Hand stand Cyril bereits an der Tür. »Mylord.« Er neigte den Kopf und verließ mit einer leichter Verbeugung den Raum.
Am folgenden Morgen ließ Lord Evan zeitig nach Cyril rufen, denn er hatte soeben erfahren, dass beim Dorfe Glynllys das Ross seines Hauptmanns gefunden wurde. Vier Wegstunden von Castellyn entfernt hatte ein Landmann kaum seinen Augen getraut, als er das stattliche weiße Tier auf der Brache weiden sah.
»Das verheißt nichts Gutes«, meinte Cyril nachdenklich. Er stand neben dem jungen Grafen in der großen Halle, wo Evan zur Mittagsstunde die Männer der Gefolgschaft versammelt hatte.
»Sonst wurde nichts gefunden?« Lord Evan schien fassungslos. »Habt Ihr auch alles abgesucht?«
»Wir haben jeden Strauch in der Nähe des Hofs durchkämmt, Mylord«, versicherte ihm Sir Norwood. Der weißbärtige Ritter war schon recht betagt und erfahren, sein Wort wog schwer. Da sein weißes Haar allmählich schütter wurde, trug er es entgegen der Gepflogenheit ungewohnt kurz und kämmte es auf dem Schädel keck über die kahle Stelle. Kraft seines Amtes als Bailiff oblag ihm seit langem die oberste Strafverfolgung in Cyfrinshire, in deren Ausübung er dem Sheriff von Pembroke unterstand, und bei der Aufklärung von Unrecht und Frevel war Norwood äußerst gründlich.
»Und keiner hat etwas gesehen?« Ungläubig blickte Evan in das silberbärtige Gesicht seines Lehnsmannes.
»Nein, Mylord. Den Leuten dort, außerhalb der Grenzen von Cyfrinshire, ist der Name Sir Vance nicht vertraut. Niemand kennt ihn.«
»Die gesamte Gegend von hier bis Glynllys muss abgesucht werden«, platzte Junker Cole unaufgefordert heraus. Er war bekannt für sein hitziges Gemüt. Obgleich ihn mit Vance mehr brüderlicher Wettstreit als Freundschaft verband, ging es hier um den Verbleib seines älteren Bruders, womöglich sogar um dessen Leben.
»Junker Cole, Ihr habt nur zu sprechen, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet.« Cyril versuchte, seiner Stimme die Schärfe zu nehmen. Er konnte den ungezügelten Kerl nicht leiden, und das nicht nur aufgrund seines unangemessenen Benehmens. Nichtsdestotrotz sollte Cole in wenigen Wochen den Ritterschlag erhalten, wenn er im Erntemond sein einundzwanzigstes Lebensjahr vollendete.
Evan beschwichtigte Cyril. »Lasst Milde walten, Hochwürden. Schließlich handelt es um das Wohl seines Bruders. Da ist es nur recht und billig, dass Junker Cole aufgebracht ist. Wir sollten in dieser außergewöhnlichen Sache gemeinsam beraten, was am besten zu tun sei. Ein jeder darf frei sprechen.«
Cyril bewunderte stets, wie geschickt Evan verstand, seine Unerfahrenheit mit Großmut zu tarnen und sich dadurch Respekt bei den Männern zu verschaffen. Lord William hätte Cole hinauswerfen lassen, offene Mitsprache in wichtigen Belangen wäre kaum denkbar gewesen, höchstens leise Ratschläge hinter vorgehaltener Hand.
»Möglicherweise wurde das Pferd erschreckt und ist mit Sir Vance durchgegangen«, mutmaßte Sir Norwood. »Und er selbst wurde dabei abgeworfen und verletzt.«
»Das Dorf, in dessen Nähe das Ross gefunden wurde, liegt oben im Norden, weit ab des ursprünglichen Weges«, warf Cyril ein. »Vielleicht ist es schlicht davon gelaufen.«
»Oder es wurde gestohlen, während es in einem Stall von Haverfordwest untergebracht war«, schlug Raven vor. Der dunkelhaarige Junker war der jüngste unter den Männer, ein äußerst hübscher Bursche mit hellen blauen Augen, vollen Lippen und starkem Ausdruck. Wenn er durch die Gassen von Castellyn schritt, drehten die Weiber sich um, ganz gleich, welchen Alters sie waren.
»Das ist ein kluger Gedanke«, meinte Lord Evan.
»Und warum hat sich Sir Vance nicht ein neues Pferd beschafft und ist nach Castellyn zurückgekehrt?«, entgegnete Sir Byron. Seine Stimme hallte tief aus einem immensen Brustkorb. Durch seine überragende Erscheinung wirkte der rotblonde, langbärtige Ritter selbst dann furchteinflößend, wenn er jedermann wohl gesonnen war. Bedingt durch einen ähnlich mächtigen Bauchumfang hatte Byron für ein neues Kettenhemd zuletzt zwanzig Shillinge berappen müssen, fast das Zweifache von dem Preis, den ein Kämpfer üblicherweise zahlen musste.
»Vielleicht wurde er in der Stadt überfallen und ihm ein Leid zugefügt«, konterte Raven.
»Auf jeden Fall müssen dort weitere Nachforschungen angestellt werden!«, entschied Lord Evan. »Sir Norwood, Ihr werdet das übernehmen, Ihr reitet nach Haverfordwest; drei weitere Männer sollen Euch begleiten, damit die Stadt zügig erkundet wird.«
»Sehr wohl, Mylord. Ich werde sofort aufbrechen.« Mit diesen Worten verbeugte sich Sir Norwood und verließ starken Schrittes die Halle. Lord Evan wandte sich an Cole.
»Und Ihr, Junker Cole, sucht auf den Straßen zwischen Haverfordwest und Glynllys. Es scheint naheliegend, dass Sir Vance auf diesen Wegen ein Unglück widerfahren ist. Zwar seid Ihr noch kein führender Kopf der Gefolgschaft, da die Zeit bis dahin jedoch nicht mehr lange währt, betraue ich Euch mit dieser Aufgabe. Nehmt Junker Raven mit Euch, und auch Sir Byron möge Euch zur Seite stehen.«
»Wie Ihr befehlt, Mylord, ich danke Euch für Euer Vertrauen.« Cole verbeugte sich tief. Sir Byron hingegen rollte mit den Augen; er hatte sichtlich wenig Freude an der Vorstellung, dass der Jungspund den Suchtrupp anführen sollte. Lord Evan nickte ihm wohlwollend zu, Sir Byron bestätigte dies mit einem Seufzen.
»Nun denn, zu den Pferden, Junker!« rief er, woraufhin jeder einzelne sich mit einer Verbeugung vom Grafen verabschiedete. Nachdem die Gefolgsleute die Halle verlassen hatten, blieb Cyril mit Evan allein zurück.
»Glaubt Ihr, Mylord, die Erkundungen werden erfolgreich sein?« Cyril versuchte, die Regungen im Gesicht seines Grafen zu deuten.
»Ich schwanke, was ich glauben soll - oder hoffen. Alles erscheint äußerst eigentümlich, umsponnen mit einem Hauch von Verhängnis. Unter uns gesprochen, Hochwürden - ich habe kein gutes Gefühl.«
»Womöglich wäre es das Beste, wenn auch ich mich umhöre«, meinte Cyril. »Längst habe ich den üblichen Ritt zu Pfingsten vorbereitet. Unter diesen Umständen wäre es eine zusätzliche Möglichkeit, in den Gemeinden etwas in Erfahrung zu bringen.«
»Gewiß, Hochwürden, das solltet Ihr tun! Falls unsere Bemühungen jedoch erfolglos bleiben, und wir in zwei Tagen noch immer keine Nachricht von Sir Vance haben, zwingt mich die Not, einen Reiter zur Burg Carreglas zu schicken. Falls Sir Lenox es nicht zuvor aus anderer Quelle erfährt, bin ich verpflichtet, ihn in Kenntnis zu setzen, dass sein ältester Sohn ernstlich vermisst wird.«
Cyril zog die Augenbrauen hoch. »Woraufhin er hier erscheinen wird, befürchte ich.«
Evan sah ihn verkniffen an. »Ja, das befürchte ich auch.«