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4. wanderhure

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Wen siehst du, wenn du in den Spiegel schaust?

Ich traue meinem Spiegelbild schon lange nicht mehr über den Weg.

- aus den Briefen eines Gejagten -

Es wurde dunkler, meine Schritte schwerfälliger. Mit aller Kraft versuchte ich mich selbst davon zu überzeugen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, von Ewan und Falk Reißaus zu nehmen. Ich war schon immer gut darin gewesen, auf mich allein aufzupassen. Jedenfalls so gut, dass ich allein klarkam. Und jetzt würde ich auch klarkommen. Das sagte ich mir zumindest immer wieder, während der Tag dem Abend wich und es zunehmend kälter wurde. Meine Finger und Lippen waren schon taub, der Hunger höhlte mich langsam von innen heraus aus und mein Hals war so trocken wie die Sahara. Es schien, als würde ich immer tiefer in den Wald hineinlaufen, und vermutlich war es wahrscheinlicher, dass ich bald einem Bären oder einem Hexenhäuschen gegenüberstand, als einer Landstraße.

Meine Beine waren schwer wie Betonklötze. Resigniert blieb ich stehen, warf meine Reisetasche ins Laub und sank auf ihr nieder. In dem verzweifelten Versuch, mich zu wärmen, schlang ich die Arme so fest ich konnte um meinen Oberkörper, doch es half natürlich nichts.

Wie viele Stunden streifte ich nun schon blind durch den Wald? Ich musste zugeben, dass ich mich hoffnungslos verlaufen hatte.

Nicht aufgeben, Kiara. Du bist eine Kämpferin. Keine Heulsuse, ermahnte ich mich. Vermutlich würde ich bald anfangen, Selbstgespräche zu führen, und tatsächlich hielt mich nur die Angst davon ab, von den Gesandten oder den Verdammten gehört und gefunden zu werden.

Moment mal, wie dumm war ich eigentlich? Hastig sprang ich von meiner Tasche auf und wühlte darin nach meinem Smartphone. Wir lebten im 21. Jahrhundert, verdammt! Doch meine Euphorie sank schnell gegen Null, als ich sah, dass ich hier kein Netz hatte. Mich mithilfe von google maps hier raus zu manövrieren, fiel also genauso flach wie endlich meinen Stolz herunterzuschlucken und um Hilfe zu rufen. Auch wenn ich nicht wusste, wen ich angerufen hätte – aber nun musste ich mir darüber ohnehin nicht den Kopf zerbrechen. Ich stopfte das Handy in meine Jeanstasche, zog den Reißverschluss der Tasche wieder zu und warf sie mir über die Schulter. Ich musste weitergehen, wenn ich nicht die Nacht hier verbringen wollte. Blieb nur noch zu hoffen, dass ich nicht die ganze Zeit im Kreis lief.

Mittlerweile war es so dunkel, dass ich den nächsten Baum kaum noch erkannte, bevor ich fast dagegen lief. Mein Nicht-Aufgeben-Mantra war einem Ich-bin-so-dumm-Mantra gewichen. Doch es war schon lange zu spät, um umzukehren. Vermutlich würde ich hier in diesem Wald draufgehen. Ja, hier würde Kiara Golding sterben. Nichts da mit Engeln, die nach mir suchten. Warum hatten sie mich eigentlich nicht längst gefunden? Ich war tatsächlich sauer auf die Engel, als ich hinter mir plötzlich ein Rascheln und leises Knacken hörte.

Wie angewurzelt blieb ich stehen. Es könnte natürlich ein Kaninchen sein, oder ein Reh. Es könnte aber auch jemand anderes sein. Was, wenn es nicht Ewan oder Falk war? Wenn es nicht einmal die Gesandten waren? Was, wenn es ein Psychopath mit einer Kettensäge war, der Jugendliche in Wäldern und Ferienhütten aufsuchte und massakrierte?

Ich hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit. Mein verzweifelter Herzschlag war meinen eigenen Fantasien ausgeliefert und ich verfluchte mich dafür, in meinem Leben so viele Horrorfilme gesehen zu haben. Nun holten sie mich alle ein. Ich will nicht sterben, war mein letzter Gedanke, als sich plötzlich von hinten eine Hand über meinen Mund legte.

Ich zuckte zusammen und schrie auf. Der Laut wurde von der kalten, auf meine Lippen gepressten Haut gedämpft. Ich ließ die Tasche fallen und zerrte stattdessen an dem Angreifer, in dem verzweifelten Versuch, mich aus seinem Griff zu befreien. Das jahrelange Kampftraining sollte sich eigentlich in so einer Situation bezahlt machen, doch mein Körper war steif und halb erfroren. Der lange Fußmarsch und der Durst hatten mich so geschwächt, dass ich meinen Angreifer nicht einmal über die Schulter werfen konnte.

»Pscht, hör auf«, flüsterte eine männliche Stimme an meinem Ohr. Sein Atem streifte heiß meine eiskalte Wange. Meine Glieder erschlafften und ich fühlte mich wie festgefroren in Raum und Zeit, während ich überlegte, woher ich diese Stimme kannte …

»Kann ich dich jetzt loslassen, ohne dass du schreist?«, fragte der Mann.

Ich nickte, während mein Herz noch immer raste, als würde es mir aus der Brust springen wollen. Wer zum Teufel hatte mich gefunden?

Als er mich losließ, fuhr ich augenblicklich herum und sah ihm ins Gesicht, das durch die Dunkelheit der Nacht nur wie ein bleicher Schatten vor mir schwebte.

»Milan?«

»Der Leibhaftige.«

Perplex blinzelte ich ihn an. Was tat er hier? Sollte ich erleichtert sein, dass er mich gefunden hatte, oder eher besorgt?

»So wortkarg habe ich dich gar nicht in Erinnerung«, bemerkte er, als ich immer noch kein Wort herausgebracht hatte. »Aber ich fühle mich geschmeichelt, dass du meinen Namen noch kennst.«

»Was willst du hier?«, fuhr ich ihn an und strich mir hektisch die Haare hinters Ohr.

»Was ich hier in dem Wald will? Oder generell?«

Okay, mein Fehler. Ich hatte vergessen, dass es sich bei diesem Mann um ein idiotisches Exemplar handelte, zu dessen Fähigkeiten eine vernünftige Konversation offensichtlich nicht gehörte. Ich schnaubte, griff nach meiner Tasche und ging weiter meines Weges.

»Hey, wo willst du hin?«, zischte er leise und folgte mir.

»Ich muss weiter, ich habe nicht ewig Zeit.«

»Warte.«

Ich ignorierte ihn.

»Hey!« Diesmal griff er dabei nach meinem Arm und riss mich unsanft herum.

Wütend funkelte ich ihn an. »Fass mich nicht an!«

»Du brauchst Hilfe«, sagte er, ohne meinen Arm loszulassen.

»Ach, nur weil ich abends allein durch den Wald laufe? Vielleicht liebe ich die Natur?« Ich legte den Kopf schief und verzog die Lippen zu einem gespielten Lächeln.

»Zeig mir mal deine Hand.«

»Was?«

Ohne dass ich mich wehren konnte, hob er meine Hand auf Augenhöhe und zog ein Handy aus seiner Jackentasche, mit dessen Taschenlampe er meine Finger beleuchtete. Ich kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen.

»Ich hab’ da so eine Theorie«, erklärte Milan. »Eine Frau hat ihr Leben nur dann im Griff, wenn ihre Nägel gepflegt und lackiert sind.«

Ich öffnete den Mund, ohne zu wissen, was ich darauf erwidern sollte. Was für eine schwachsinnige Theorie! Ich entriss ihm meine Hand. Meine Nägel sahen furchtbar aus. Dunkelrote Nagellackreste und Schmutz unter den Fingernägeln symbolisierten für Milan wohl das reinste Chaos in meinem Leben. Ich hatte es tatsächlich alles andere als unter Kontrolle, aber das würde ich ja bald ändern. Und dafür benötigte ich keinen Mann.

»Ich brauche keinen Ritter in schimmernder Rüstung.«

»Okay, ich hab’ Zeit«, erwiderte Milan zu meiner Überraschung. Er löschte das Licht seines Smartphones und die Dunkelheit verschluckte sein Gesicht.

»Okay.«

Und jetzt, Kiara? Ich wandte mich um und setzte erneut meinen Weg fort. Blind stolperte ich mehrere Meter vorwärts und verfluchte Milan dafür, durch den kurzzeitigen Lichteinfluss meine Augen von der Dunkelheit abgewöhnt zu haben. Wieder hörte ich seine Schritte hinter mir, doch diesmal rief er mir zumindest nicht mehr nach. Was hatte er vor? Hatte er es aufgegeben, mir seine Hilfe anzubieten? War ich zu stur und undankbar gewesen?

Ich stampfte durch das Geäst und mit jeder schweigsamen Minute kehrten die Kälte, die Erschöpfung und der Hunger zurück. Die Wut in meinem Magen wuchs, auch wenn sie sich größtenteils gegen mich selbst richtete. Für eine kurze Zeit hatte dieser blonde Verdammte mich abgelenkt, ja, mir sogar die irrsinnige Hoffnung gegeben, er würde mich hier aus dem Wald herausholen. Stattdessen hatte er sich nur für meine fehlende Maniküre interessiert.

Aufgebracht wirbelte ich zu ihm herum. Milan, der meinen plötzlichen Sinneswandel nicht hatte kommen sehen, lief in mich hinein. Meine Nase stieß gegen den Stoff seines Pullovers, der sich über seine Brust spannte. Der Geruch von Waschmittel stieg mir in die Nase. Einen Wimpernschlag später war Milan einen Schritt zurückgetreten und sah nun neugierig mit gehobenen Augenbrauen auf mich herab.

»Ich brauche keinen Stalker«, fuhr ich ihn an und hob drohend eine Hand zwischen uns. »Geh und pass lieber auf deinen Kumpel auf. Seid ihr überhaupt Kumpel? Wenn nicht, warum verfolgst du mich dann? Geh zurück in deine scheiß Villa und spiel Ausbilder für irgendwelche Menschen, die was mit der Sache zu tun haben wollen. Ich will nichts damit zu tun haben! Geh zu Paige! Wo ist sie überhaupt?«

Ich holte tief Luft und verschränkte die Arme. Okay, das waren jetzt mehr Sätze gewesen, als ich eigentlich hatte sagen wollen. Jetzt wirkte es so, als kümmere es mich, dass Paige mir in den Rücken gefallen war. Aber das tat es nicht. Paige konnte mir gestohlen bleiben. Und die Hilfe von diesem blonden, arroganten Mann ebenfalls.

Bevor Milan den Mund öffnen konnte, fuhr ich dazwischen: »Weißt du was? Du brauchst gar nicht zu antworten! Ich will die Antwort nicht hören. Lass mich in Ruhe.« Ich wirbelte herum, tat ein paar Schritte und stolperte auf einmal über eine Wurzel. Ich spürte bereits, wie ich dem Boden entgegenflog, doch dann wurde ich von hinten an meiner Jacke gepackt und zurückgezerrt.

»Bist du taub? Ich brauche deine Hilfe nicht!« Diesmal sah ich genauer hin, wo ich hinlief, bevor ich erneut losstampfte. Kaum verhallte meine Stimme zwischen den Ästen, bereute ich es, so laut gewesen zu sein. Ich musste vorsichtiger sein, wenn ich nicht von noch jemandem gefunden werden wollte.

»Wir können das die ganze Nacht machen. Kein Problem«, plauderte Milan hinter mir in gedämpftem Tonfall. Im Gegensatz zu mir schien ihn die Situation nicht aufzuregen. »Ich habe vorhin erst gegessen. Einen richtig großen, geilen Burger. Mit doppelt Fleisch. Du isst doch Fleisch, oder?«

Verarschte mich dieser Mann? Er wollte mich weichkriegen, schon klar. Vermutlich wollte er, dass ich ihn um Hilfe anbettelte. Er wollte, dass die Kälte oder der Hunger mich schwach machten, wenn es die Angst bei mir anscheinend nicht schaffte. Aber Milan kannte mich nicht. Wenn er das von mir erwartete, würde ich erst recht dagegen ankämpfen. Niemals würde ich einen Mann wie ihn um etwas anflehen.

»Oh, es ist gleich zweiundzwanzig Uhr. Paige liegt bestimmt schon in ihrem warmen Bett, hat einen heißen Kakao getrunken und kuschelt sich jetzt unter die Bettdecke, während sie vorm TV eindöst. Oder vermutlich eher vor einem Buch. Was machst du lieber? Lesen oder fernsehen?«

Seit einer Stunde plapperte Milan ununterbrochen. Wenn Ewan die schweigsamste Person war, die ich kannte, dann war Milan das genaue Gegenteil. Ich blieb dabei, ihn zu ignorieren. Auch wenn er Paige erwähnte und damit andeutete, dass sie derzeit bei ihm wohnte. Ich ließ mir nichts anmerken und fokussierte mich darauf, einen Schritt vor den nächsten zu setzen. Mittlerweile stolperte ich immer öfter, weil ich kaum noch stehen konnte. Ich hätte nicht gedacht, dass es in diesem Land so riesige Wälder gab. Ich hatte mich gnadenlos verlaufen und selbst, wenn ich Milan meine Schwäche eingestehen würde, würde es nichts mehr bringen. Er war ein Verfluchter und kein Zauberer. Er konnte nicht mit den Fingern schnipsen und uns an einen anderen Ort teleportieren. Auch wenn er, als er mich gefunden hatte, irgendwo in der Nähe ein Auto gehabt hatte, war das jetzt irrelevant, weil wir erstens das Auto niemals wiederfänden und zweitens ohnehin mehrere Stunden bis dorthin bräuchten. Und mehrere Stunden würde ich nicht mehr aushalten. Ich hielt kaum noch eine weitere Minute aus.

Ich blieb stehen, ließ meine Tasche fallen und setzte mich auf den kalten Waldboden. Ich spürte ohnehin nichts mehr. Mein Körper war so unterkühlt, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich hinzulegen und zu einer Kugel zusammenzurollen. Alles war taub und steif. Es fühlte sich gar nicht an wie mein Körper.

»Hey, was tust du da?«, hörte ich Milans Stimme von weit, weit weg.

Mit letzter Kraft zog ich mein Handy hervor und kontrollierte den Empfang. Bitte, bitte lass mich Netz haben. Ein einsamer Streifen verhöhnte mich. War das genug, um jemanden zu erreichen? Um aus diesem Wald herauszufinden? Ich würde es gleich versuchen. Mein Finger schwebte über dem Display, doch schwarze Flecken nahmen mir die Sicht. Nur eine Sekunde ausruhen …

»Kiara?«

Ich schloss die Augen und legte den Kopf zurück, doch anstatt gegen einen Stamm zu sinken, kippte ich kraftlos zur Seite.

***

Die Orgel begleitet meinen Gang zum Altar. Ich sehe zu den unzähligen Gesichtern, die mir von den Kirchenbänken entgegenstrahlen. Zwischen dem ein oder anderen Lächeln entdecke ich nasse Augen. Mein Blick wandert nach links zu dem Mann, der an meiner Seite läuft und bei dem ich mich untergehakt habe. Papa. Ich lächele rührselig, freue mich, dass all unsere Streitereien an diesem Tag bedeutungslos sind. Ich bin endlich die Tochter geworden, die er sich immer gewünscht hat. Als er meinen Blick bemerkt, drückt er aufmunternd meinen Arm. Ich sehe wieder nach vorn zum Altar, vor dem Falk bereits auf mich wartet. Er trägt einen sündhaft teuren schwarzen Anzug und seine sonst wirren goldenen Locken sind heute streng nach hinten frisiert. Er beobachtet mich, kann den Blick nicht von mir losreißen. Die Tränen in seinen Augen schnüren mir die Kehle zu. So viel Zuneigung fließt durch meine Brust, dass sie mir die Luft nimmt.

Das hier ist wahrgewordene Liebe.

Als ich direkt vor meinem Bräutigam stehen bleibe, verstummt die Musik. Die gesamte Kirche ist still und schaut zu uns hoch.

Die Worte des Pastors brechen die Stille und heißen die Anwesenden willkommen. Ich höre gar nicht richtig zu, so nervös bin ich. Ich kann nicht glauben, dass ich ab heute seine Frau sein werde. Dass ich eine Familie gründen werde. Dass ich endlich ankomme, anstatt rastlos weiterzuziehen.

»Kiara Elisabeth Golding, wollen Sie den hier anwesenden Falk Reuer zu Ihrem rechtmäßigen Angetrauten nehmen, ihn lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, so antworten Sie mit Ja, ich will.«

Mein Herz hüpft mir fast aus der Brust. Falks blaue Augen blicken direkt in meine, geben mir Halt, Sicherheit, Liebe.

»Ja, ich will.«

Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Keuchend drehte ich den Kopf in alle Richtungen und realisierte langsam, dass ich nur geträumt hatte. Ich lag in einem Bett, die Sonne schien durch das Fenster – doch nichts an diesem Zimmer kam mir vertraut vor.

Wo zur Hölle bin ich?

Ich rieb mir übers Gesicht, versuchte diesen äußerst irritierenden Traum zu vergessen und sah mich noch einmal in Ruhe um. Die Wände waren fliederfarben, schwere graue Vorhänge fielen neben dem Fenster bis zum Boden. Die Möbel waren weißes schlichtes Ikea-Mobiliar, es befand sich keinerlei unnötige Deko oder persönliche Note in dem Zimmer.

Ich schlug die ebenfalls fliederfarbene Bettdecke zurück und sah an mir herunter. Zum Glück war ich angezogen. Angestrengt versuchte ich, mich an den vergangenen Abend zu erinnern, doch immer wieder landete ich bei den Bildern meines Traums. Ich wollte mich beim Anblick von Falks Gesicht schütteln, doch stattdessen klopfte mein Herz schneller. Was war nur los mit mir? Mein Körper schien sich nicht einmal entscheiden zu können, ob ich gerade aus einem Albtraum oder einem Wunschtraum erwacht war.

Meine trockene Kehle und die dumpfe Leere in meinem Magen brachten mich zum Glück auf andere Gedanken. Ich schwang die Beine aus dem Bett und konzentrierte mich. Das Landhaus in den Wäldern. Ich hatte erneut die Flucht ergriffen. Als ich aufstand und das Zimmer durchqueren wollte, fiel mir meine Reisetasche ins Auge, die neben dem Bett am Boden lag. Ich runzelte die Stirn. In dem Moment, in dem mich der Schwindel überkam, kamen auch die Erinnerungen zurück.

»Milan!«, keuchte ich und wankte zur Tür. Der Adrenalinpegel in meinem Körper stieg schlagartig an und verscheuchte das Schwindelgefühl. Wenn dieser Mann es gewagt hatte, mich zu entführen und in sein Bett zu legen, als wäre ich eine Barbiepuppe –

Ich riss die Tür auf und sah mich auf dem Gang davor um. Obwohl alle Wände weiß gestrichen waren, fühlte ich mich, als befände ich mich in einem Haus aus Schatten. Kein Sonnenstrahl drang hier herein und es herrschte eine eiskalte Atmosphäre, als würde eine Dunkelheit auf mich lauern. Als befände sich die Gefahr bereits hinter der nächsten Ecke oder der nächsten Tür.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und schlich über den dunklen Holzboden bis zur Treppe. Von unten drangen Geräusche zu mir herauf.

»Na, endlich wach?«

Zu Tode erschrocken fuhr ich herum und entdeckte Milan, der nur ein paar Schritte hinter mir stand. Wie hatte ich ihn nicht näher kommen hören?

»Du hast mich zu dir gebracht? Ernsthaft?«, fragte ich und bemühte mich, mir nichts von meinem Schreck anhören zu lassen.

Er hob die Augenbrauen und schmunzelte. Das Grün seiner Augen funkelte verschmitzt und je länger er meinen Blick erwiderte, desto unwohler fühlte ich mich. Etwas schnürte mir die Kehle zu.

»Das war besser, als dich ohnmächtig im Wald liegen zu lassen, oder?«

Ich war mir da nicht so sicher. Milan und Ewan kannten sich. Wenn Milan mich zu sich nach Hause gebracht hatte, würde es vermutlich nicht lange dauern, bis Ewan im Schlepptau mit dem Mann aufkreuzte, vor dem ich geflohen war.

»Ich habe Ewan nichts von dir erzählt«, fügte er hinzu, als habe er meine Gedanken gelesen.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und deutete mit dem Kopf die Treppe hinunter. »Wer ist noch hier?«

»Paige. Sie macht Mittagessen. Ich nehme an, du hast Hunger?« Sein rechter Mundwinkel zuckte. Obwohl ich vor Hunger fast umkam, verspürte ich keine Eile, die rothaarige Brillenschlange wiederzusehen, die mich im Stich gelassen hatte.

Gemächlich ging Milan an mir vorbei und stieg die Treppe hinunter. Er war die Gelassenheit in Person, als wüsste er ohnehin, dass ich ihm folgen würde. Wenn ich die Augen schloss und tief einatmete, stieg sogar der Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse in meine Nase. Verdammt!

Seufzend verdrängte ich meinen Ärger und folgte meinem neuen Gastgeber.

Von den Händen eines Verfluchten wurde ich zum nächsten weitergereicht. Wer war ich – ihre billige Wanderhure? Der Gedanke gefiel mir ganz und gar nicht, doch um an meinem Schicksal etwas zu ändern, musste ich erst wieder zu Kräften kommen.

Ich ignorierte Paige. Ihre strahlende Begrüßung, ihre Frage nach meinem Wohlbefinden und auch ihre gestammelte Entschuldigung, als sie merkte, dass ich alles mit kalter Schulter abblockte. Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatte ich sie um Hilfe gebeten, weil Ewan mich fast umgebracht hätte – dann war Paige einfach verschwunden und hatte sich nie wieder blicken lassen.

Ich setzte mich stumm an den Tisch und füllte meinen Teller mit den gebratenen Ministeaks und einer Portion Nudelsalat.

»Mach dir nichts draus, Paige. Gestern war sie auch schon so zickig und undankbar«, sagte Milan und setzte sich neben mich. »Vielleicht ist das der Hunger. Wir sollten Snickers kaufen, wenn es nach dem Mittagessen nicht besser mit ihr wird.«

Ich knirschte mit den Zähnen, sagte aber nichts.

»Bist du sauer auf mich?«, fragte die rothaarige Motte, die Milan sich als Schoßhündchen hielt. »Ich habe dich nicht im Stich gelassen. Ich wollte Hilfe holen.«

»Klar, deshalb kam deine Hilfe auch nie an.« Ich trank einen Schluck und genoss das Gefühl des Wassers in meiner ausgetrockneten Kehle.

Paige stellte ein leeres Glas vor Milan auf den Tisch und schüttete ihm Cola ein. Obwohl es mir immer noch fremd war, dass Milan sich von seinen Motten bedienen ließ, beobachtete ich das Ganze mit kaltem Desinteresse – bis Paige plötzlich ein scharfes Küchenmesser in der Hand hielt und sich über ihre Fingerkuppe fuhr.

Ich verschluckte mich an meinem Wasser und stellte das Glas ab.

Ohne das Gesicht zu verziehen, ließ Paige ein paar Tropfen ihres Blutes in Milans Getränk tropfen. Dann ging sie zum Wasserhahn, ließ kaltes Wasser über ihre Hand laufen und verschloss die Wunde mit einem bereitgelegten Pflaster, als wäre das ein tägliches Essensritual.

Mein Blick huschte zu dem blonden Mann an meiner Seite, der das Glas in die Hand nahm und mir zuprostete. Sein schiefes Grinsen verriet, dass ihn meine Sprachlosigkeit amüsierte.

Ich räusperte mich und wandte mich erneut dem Essen zu. Dass Verdammte Blut tranken, war für mich nichts Neues. Lediglich die Selbstverständlichkeit oder die Alltäglichkeit dieser kleinen Geste hatte mich überrumpelt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich Ewan irgendwann nebenbei mein Blut in sein Getränk tropfen lassen würde. Ich verscheuchte diese Vorstellung und widmete mich stattdessen den köstlich duftenden Steaks. Niemals wieder würde ich einer dieser unsterblichen Kreaturen freiwillig mein Blut geben.

Das Trinken und Essen tat so gut, dass ich meine Wut auf Paige und Milan für einen Moment sogar vergaß. Vorerst schien ich hier in Sicherheit zu sein, also beschloss ich, Klartext zu reden.

»Was wollt ihr von mir?«

Der blonde gutaussehende Mann und die rothaarige Studentin tauschten geheimnisvolle Blicke. Als überlegten sie, welche Version der Wahrheit sie mir erzählen konnten, ohne dass ich schreiend hinausrannte.

»Also?« Ich hob abwartend die Augenbrauen. Es gab nun wahrlich nichts mehr, was mich noch schockieren könnte. In den letzten zwei Wochen hatten sich meine Weltanschauung und mein Leben um 180 Grad gewendet, ab jetzt konnte es nur noch normaler werden.

Milan seufzte. »Ewan hört nicht auf meine Ratschläge. Vielleicht bist du leichter zur Vernunft zu bringen als er.«

Ich runzelte die Stirn, spießte ein Salatblatt und ein Stück Fleisch auf und nahm einen Bissen, während ich seine Worte zu analysieren versuchte. »Was hast du ihm denn geraten?«, fragte ich kauend.

Milan verdrehte die Augen. »Vieles. Hätte er auf mich gehört, befänden wir uns jetzt nicht in dieser Lage. Fakt ist, dass die Gesandten nach euch beiden suchen. Um ihn zu tilgen, müssen sie dich töten. Ich biete dir meinen Schutz an. Die Gesandten können mich nicht aufspüren, hier wärst du also in Sicherheit, während Ewan eine wandelnde Zielscheibe ist.«

»Und warum ist er für die Gesandten einfacher zu finden als du?«

»Je älter Verdammte sind, desto schwieriger ist ihre Verfolgung für den Himmel, weil wir uns immer weiter von unserem menschlichen Leben entfernen. Ewans Spuren sind noch frisch – ich hingegen bin so alt, dass ich mich nicht einmal an mein menschliches Leben erinnere.«

Ich ließ mir Milans Worte und sein Angebot eine Weile durch den Kopf gehen. Mein eigener Plan – in einer Stadt ganz weit weg von hier einen Neuanfang zu wagen – hatte mehrere Risiken. Wenn himmlische Gesandte wirklich existierten und mich jagten, musste ich diese Gefahr ernst nehmen und mich erst einmal aus dieser Lage herauswinden, bevor ich irgendwo ein neues Kapitel aufschlug. Und ganz ehrlich: wollte ich wirklich zurück in meinen langweiligen, von Geldsorgen geplagten Alltag? Ich hatte immer nach mehr gelechzt und das hier war mehr. Milans Vorschlag, mir Schutz vor den Gesandten zu bieten, klang tatsächlich gut, logisch und nicht einmal allzu kompliziert. Doch jede Hilfeleistung hatte einen Haken.

»Warum solltest du mir helfen?«, fragte ich deshalb. Was hatte er davon, sich in meine Flucht vor den Gesandten einzumischen?

»Das lass mal meine Sorge sein.«

Meine Skepsis vertrieb diese Antwort erst recht nicht, doch ich beschloss mitzuspielen, bis mir ein besserer Plan einfiel.

Ich schob meinen leeren Teller beiseite und lehnte mich zurück. »Wusstest du eigentlich, dass Ewan das Buch gefunden hat?«

Als ich Milan das letzte Mal gesehen hatte, war er ganz scharf darauf gewesen, es zu finden. Ewan und Milan hatten die Absprache getroffen, dass derjenige, der es als erstes fand, dem anderen Bescheid gab. Der Art, wie Milan jedoch gerade an seinem Fleisch erstickte, entnahm ich, dass Ewan sich nicht an den Deal gehalten hatte.

»Das Buch?«, röchelte er.

»Das Schwarze Buch der Verdammten«, konkretisierte ich in einem geheimnisvollen Singsang, als würde ich für eine Geisterattraktion vorsprechen.

Milan fand diese Information weder witzig, noch nahm er sie mit Jubelschreien auf. »Wo hat der Wichser es her?«

Ich zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. »Und ich dachte, nur ich hätte ein Problem mit ihm.«

Milan knallte das Besteck auf den Tisch und schob den Stuhl zurück. Anscheinend war ihm der Appetit vergangen.

»Du musst was falsch verstanden haben. Oder er hat dich angelogen. Er kann das Buch nicht so schnell gefunden haben. Unmöglich.« Milan murmelte vor sich hin und tigerte in der Küche auf und ab. Sein Gesicht war tiefrot angelaufen.

»Meister.« Paige sprang von ihrem Stuhl auf und legte Milan eine Hand auf die Schulter, doch er schüttelte sie ab und spießte mich stattdessen mit seinem Blick auf.

»Hast du es gesehen? Hat er es wirklich?«

Ich nickte, sichtlich verwirrt, dass Milan dieses Buch so wichtig war.

»Wo ist es jetzt?«

»Darian hat es gestohlen. Ewans Bruder.«

Milan runzelte die Stirn. »Das … das ergibt alles keinen Sinn.«

Gut, dass Milan und ich uns zumindest in dieser Sache einig waren. Vielleicht war ich hier also doch gar nicht so schlecht aufgehoben. Milan hatte etwas an sich, dass er statt Angst das Gefühl in mir weckte, auf derselben Seite zu stehen. Aber das Gefühl hatte ich bei Falk auch schon gehabt …

Ich schluckte und sah hinunter auf die Maserung des Tisches. Ich hatte gerade eben erst die Lektion erteilt bekommen, niemandem mehr vertrauen zu können. Also würde ich das auch nicht mehr tun.

»Ich muss ein paar Mails checken«, sagte ich schnell und erhob mich. Ich wollte an mein Handy und ein paar Nachrichten verschicken, sichergehen, dass die Leute, die mir im Entferntesten etwas bedeuteten, in Ordnung waren. Dass die Säulen meines alten Lebens noch standen – falls ich jemals doch dahin zurückkehren wollte. Andererseits wollte ich Milans Nähe entfliehen, bevor mich das Gefühl von Vertrautheit wieder auf den falschen Weg brachte.

Ich verließ die Küche, ohne dass Paige oder Milan mich aufhielt, doch als ich am Treppenabsatz stand, griff plötzlich jemand nach meinem Arm.

»Lass uns reden«, sagte Paige. Ihre Augen hinter den Brillengläsern flehten mich geradezu an.

Ich schnaubte und entriss ihr meinen Arm. Hatte ich vorhin beim Essen nicht schon deutlich gemacht, dass ich nicht hier war, um mit ihr zu reden? Ohne ein Wort ging ich die Treppe hoch. Paige folgte mir wie lästiges Ungeziefer.

Vor dem Zimmer, in dem ich geschlafen hatte, drehte ich mich zu ihr um. »Ich hab dich früher schon nicht gemocht, aber jetzt bist du ja noch nerviger.«

Meine Worte trafen sie, das sah ich ihr deutlich an. Dabei hatte ich ihr von vornherein klargemacht, dass ich keine Freundin suchte. Die zwei Tage mit mir hätten ihr eigentlich reichen müssen, um mich so weit kennenzulernen, dass ihr das klar wäre.

»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte sie. »Du hast gesagt, ich soll Hilfe holen, als er dich angegriffen hat. Ich selbst hätte dich kaum vor ihm verteidigen können, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und betrat das Zimmer. Mit meiner Reisetasche setzte ich mich aufs Bett, doch Paige folgte mir auch hierhin.

»Du hättest hundert Sachen machen können, um mir zu helfen«, fauchte ich. »Stattdessen bist du zu Milan gerannt und hast dich hier verkrochen. Dich hat es nicht einmal interessiert, ob ich überlebt habe.« Ich zog den Reißverschluss auf und holte mein Handy heraus. Mehrere entgangene Anrufe blinkten mir vom Display entgegen: ein verpasster Anruf von meinem Vermieter, eine Nachricht von meinem Vater, vier Nachrichten und zwei Anrufe von Mia.

»Das stimmt nicht«, erwiderte Paige vehement und stellte sich vor mich. »Jetzt sieh mich gefälligst an.«

Ich hob den Kopf und bemühte mich um einen desinteressierten Gesichtsausdruck.

»Ich war besorgt um dich und habe versucht, Milan zu überreden, dir zu helfen.«

Ich verdrehte die Augen. »Also habe ich es dir zu verdanken, dass er mich im Wald aufgegabelt und hierher verschleppt hat? Was erwartest du? Ein Dankeschönkärtchen?«

Wütend presste Paige die Lippen zusammen und ballte die Fäuste. »Ich habe keine Ahnung, warum du so zu mir bist! Wenn es dir lieber ist, völlig allein zu sein, bitteschön!«

Damit wirbelte sie herum und stolzierte aus dem Zimmer. Mein schlechtes Gewissen schluckte ich herunter. Ich war es gewohnt, meine Mitmenschen zu vergraulen. Als sie voller Wucht die Tür hinter sich zuschlug, zuckte ich trotzdem kurz zusammen.

»Ich bin so oder so allein«, antwortete ich leise auf ihre Frage. Auf diese Weise wusste ich wenigstens, dass ich allein war. Das war besser, als die Illusion einer Freundschaft aufzubauen, nur um nachher enttäuscht zu werden.

Götterglaube

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