Читать книгу Götterglaube - Kristina Licht - Страница 8
1. gone too far
ОглавлениеWarum darf Gott über das Schicksal einer jeden Seele entscheiden?
Warum dürfen die Menschen nicht wissen, dass es den freien Willen nicht gibt?
- aus dem Schwarzen Buch der Verfluchten -
Jeder träumt in seinem Leben von einem Abenteuer, das er nicht vergisst. Ein Abenteuer, bei dem wir uns lebendiger fühlen als je zuvor, das die Schatten der Vergangenheit verdrängt. Eine Erinnerung an eine Zeit, die uns auch in der Zukunft, wenn es gerade mal nicht so rosig läuft, aufatmen lässt, die uns Gerüche, Gefühle und Bilder zurückschenkt, in die wir jederzeit wieder eintauchen können.
Ich war als Teenager oft vor meinem Leben geflohen, um mich in Abenteuer zu stürzen. Denn in diesen adrenalingeladenen, einzigartigen Momenten fühlte ich mich lebendiger als in meinem tristen Alltag, der von Leid geprägt war. Von Verlust. Von Leere.
Keines meiner damaligen Abenteuer ließ sich mit dem jetzigen vergleichen. An Ewans Seite hatte ich mich so lebendig gefühlt wie seit Jahren nicht mehr und das, obwohl ich dem Tod näher war als jemals zuvor. Ewan war gleichzusetzen mit Lebensgefahr. Trotzdem klammerte ich mich an seine Gegenwart, weil ich gar nicht anders konnte. Mein Herz schlug schneller, wenn ich bei ihm war. Und dann manchmal wiederum blieb es fast stehen. Doch das Wichtigste war: Ich hatte mich auf dieser Reise frei gefühlt, obwohl ich im Grunde nicht viel mehr als eine Gefangene war.
Jetzt kannte ich auch den Grund für meine widersprüchlichen Gefühle; warum ich mich früher immer eingesperrt gefühlt hatte, eingeengt von meinem eigenen Sein, unfähig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, ständig mit dem Gefühl, an meinem Leben nichts verändern zu können. Als hätte ich es tief im Inneren schon immer gewusst: Menschliche Seelen waren in einem Kreislauf gefangen, den sie immer und immer wieder durchlebten. Dasselbe Leben hundertmal. Millionenmal. Ohne je etwas davon zu merken. Doch nun war etwas anders. Ewan hatte mich aus meinem Kreislauf gerissen. Ich war frei, traf Entscheidungen, die ich nie zuvor getroffen hatte, beschritt Wege, die meine Seele noch nie passiert hatte, fühlte Dinge, die ich nie hätte fühlen sollen.
Ich wusste, was es bedeutete, dass Ewan mich aus meinem Kreislauf gerissen hatte. Er hatte sich wie ein Fremdkörper darin eingenistet und alles zerstört. Er tat Dinge, die er nicht hätte tun dürfen. Führte mich in eine Welt, von der ich nie hätte erfahren sollen. Das bedeutete für mich, dass ich nach meinem Tod ebenfalls von den Göttern verdammt werden würde. Dazu verdammt, meinen Platz im System für immer zu verlieren, eine Ewigkeit zu existieren, für immer auf der Flucht. Auf ewig im Verborgenen.
Als mir das in dieser Nacht klar wurde, verspürte ich dennoch keinen Hass gegen meinen Befreier. Nicht einmal Angst. Ich sollte wütend auf Ewan sein, weil er mich da mit hineingezogen hatte. Doch ich war es nicht. Denn mit dem Wissen, das ich jetzt hatte, eröffneten sich mir so viele neue Möglichkeiten. Plötzlich wurde mir bewusst, worüber ich früher immer nur frustriert gewesen war. Jetzt ergab alles einen Sinn.
Die Menschen waren nur kleine, bedeutungslose Rädchen in einem Uhrwerk von etwas Größerem. Und ich war nun Teil dieses Etwas. Ich war endlich frei. Wie ein Tier, welches seinem Käfig entkommen war.
Als ich zu mir kam, dauerte es mehrere Sekunden, bis die Erinnerungen sich zusammenfügten wie verlorengegangene Puzzleteile eines Gesamtbildes. Schwerfällig hob ich die Lider und Sonnenlicht flutete meine Netzhaut. Die Bilder vergangener Nacht kamen nur stockend, wie Wellen, die das Ufer erreichten. Sie spülten Erinnerungsfetzen an Land: Das Gespräch mit Ewan in seinem Zimmer. Die Nacht, die ich erneut neben ihm in einem Bett verbracht hatte. Mein Traum. Viele silberne Kreise, die ineinander gehakt waren und sich zu einem unendlich großen, schimmernden Gebilde zusammenfügten. Die Wirklichkeit.
Plötzlich war ich hellwach und setzte mich auf. Mein Kopf fuhr in alle Richtungen und obwohl ich davon Kopfschmerzen bekam und mir schwindelig wurde, hatte es das gewünschte Resultat: Ich wusste, wo ich mich befand.
Ich war nicht mehr in dem dunklen Raum, in dem sich alles so unwirklich angefühlt hatte, der kein Ende und keinen Anfang besessen hatte. Der einfach nur da war. Ich war zurück in dem Gästezimmer, in dem Falk und ich unsere erste Nacht in der Hütte verbracht hatten.
Ich wollte gerade vom Bett aufstehen, als ich die Handschellen bemerkte. Nicht schon wieder. Fluchend sah ich mich in dem Zimmer um.
Von Ewan und Falk war keine Spur. Die Tür zum Zimmer war geschlossen. Durch das kleine Fenster schien die Mittagssonne.
Während ich versuchte, mein Handgelenk zu befreien, überrollten mich auch die restlichen Erinnerungsfetzen. Die wunderschöne Blondine, mit der Ewan gesprochen hatte. Und Falk. Diese Welle war es, die mir bereits im Traum den Boden unter den Füßen weggerissen haben musste. Im wachen Zustand war die Erkenntnis nicht weniger schmerzhaft. Falk war nicht der, für den er sich ausgegeben hatte. Die ganze Zeit über hatte er mir etwas vorgespielt.
Ich muss hier weg!
Endlich quetschte ich mein zierliches Handgelenk durch den metallischen Ring. So dünn zu sein, hatte auch seine Vorteile. Da fiel mein Blick auf etwas auf dem Bett. Ein Collegeblock lag neben dem Kopfkissen. Es war der Block, in dem ich Falk zuvor hatte zeichnen sehen. Ich griff danach und blätterten durch die Seiten. Viele davon waren lediglich mit einer unordentlichen Handschrift bekritzelt. Ich hatte nicht die Zeit, mir alles durchzulesen. Ich blätterte weiter und fand ein Bild von drei Worten, das mich stocken ließ. Sie waren kunstvoll ausgearbeitet und erstreckten sich über die gesamte Seite.
GONE TOO FAR.
Ich starrte eine gefühlte Ewigkeit darauf, während tausend bittere Gedanken meinen Geist tränkten. Ja, Falk, du bist zu weit gegangen. Definitiv. Ich wollte den Block gerade zurücklegen, als ich eine weitere Seite umblätterte und mein Blick an einem Porträt hängen blieb. Mein eigenes Gesicht, mit Kugelschreiber skizziert, starrte mir entgegen.
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Was hatte Falk für ein Spiel gespielt? Seit wann war er ein Verfluchter? Und obwohl ich dachte, der Schock könnte nicht noch tiefer gehen, wurde ich eines Besseren belehrt, als ich dahinter eine weitere Zeichnung fand. Ein Arm, auf dessen Unterseite eine Reihe von Zahlen tätowiert war: 12.12.12.
Ich schmiss den Block zurück aufs Bett, als hätte ich mich daran verbrannt. In Rekordgeschwindigkeit ratterte mein Gehirn alle Erinnerungen der letzten Tage durch, auf der Suche nach einem Moment, in dem ich Falk die Zahlen auf meinem Arm gezeigt hatte. Mir fiel keine Situation ein, in der er sie hätte sehen können. Mein Blick glitt meinen Körper hinunter: Ich hatte nur eine Jeans und ein Top an, genauso wie ich mich gestern mit Ewan ins Bett gelegt hatte. Je nachdem, wie lange ich bewusstlos gewesen war, hätte Falk demnach in den letzten Stunden oder Minuten meinen Arm betrachten können. Doch war die Zeichnung wirklich so neu? Hatte er sie angefertigt, während ich bewusstlos gewesen war?
Hektisch sah ich mich im Zimmer um, während ich versuchte, meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Das Wichtigste war, dass ich hier wegkam. Gestern hatte ich es noch akzeptiert, von nun an mit Ewan zu reisen, als ‚Doppelpack’ durch die Weltgeschichte zu bummeln, wie er es ausgedrückt hatte. Doch dass Falk viel tiefer in der Sache mit drinsteckte und offensichtlich ein falsches Spiel mit mir gespielt hatte, änderte für mich alles. Ich wusste nicht, ob Ewan jetzt auf Falks Seite sein würde, weil sie beide verflucht waren. Dieses Risiko konnte ich nicht eingehen. Falks Verrat saß so tief, dass ich nicht einmal daran denken wollte, ihn wiederzusehen. Es war keine harmlose Lüge gewesen, sondern eine Lüge, die ihn zum schlimmsten Bösewicht der Geschichte machte. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen, würde ihm nie wieder trauen können. Dabei war er der einzige Mensch, dem ich gern vertraut hätte. Wie paradox.
Ich eilte zu meiner Reisetasche und packte ein paar Sachen aus dem Koffer um. Ein paar ließ ich absichtlich zurück, um auf meiner Flucht keinen unnötigen Ballast mitzuschleppen. Schnell kontrollierte ich, ob ich Handy und Portmonee dabeihatte, dann zog ich die Lederjacke über das Top, schlüpfte in meine Turnschuhe und schlich zur Tür. Ich presste mein Ohr gegen das Holz und lauschte. Nichts. Keine Stimmen, keine Schritte. Doch das hieß nicht, dass die beiden Männer außer Haus waren.
Ich wandte mich um und eilte zum Fenster. Das war definitiv der sicherere Ausgang und die zwei, drei Meter würden mich nicht umbringen. Ich riss das Fenster auf, warf einen Blick hinunter und schmiss die Reisetausche hinaus. Mit einem dumpfen Plopp landete sie auf dem Rasen. Ich sah mich draußen um, doch außer der kleinen Grasfläche um das Haus herum erkannte ich nichts als Wald. Es schien zumindest niemand in der Nähe zu sein. Tief durchatmend nahm ich all meinen Mut zusammen und schwang ein Bein aus dem Fenster. Vorsichtig kletterte ich über den Rand und ließ die Beine in der Luft baumeln, während ich mich mit den Händen an der unteren Fensterkante festhielt.
Eins, zwei, drei.
Ich ließ los und der Wind zischte mir um die Ohren, während mein Magen einen Salto vollführte. Als meine Fußballen auf den Boden trafen, beugte ich mich vor und rollte mich über den Rücken ab, um den Aufprall abzuschwächen. Aufgrund von mangelnder Übung ging das nicht ganz schmerzlos über die Bühne, doch das kümmerte mich jetzt nicht. So schnell wie möglich stand ich wieder auf, griff nach meiner Tasche und rannte in den Wald.
Ich rannte, bis die Bäume mich verschluckten, bis das Sonnenlicht das Blätterdach nicht mehr durchdrang und bis ich mich umblicken konnte, ohne etwas anderes als Baumstämme zu sehen. Die Bäume verloren bereits langsam ihr Laub und ich lief wie auf einem gelben Teppich. Nach einer Weile drosselte ich mein Tempo und grübelte darüber, wo ich hinwollte. Denn jetzt hieß es nach vorne blicken und nicht mehr zurück. Ich durfte nicht einmal daran denken, was passieren würde, wenn ich einem der beiden Männer in die Arme lief. Oder einem von dreien, falls Ewans Bruder immer noch in der Nähe war.
Falk, der Lügner.
Ewan, dem ich noch nie über den Weg getraut hatte. Seit er in dieser komischen Traumwelt seine Geliebte wiedergetroffen hatte, wollte ich erst recht Abstand zu ihm und dieser ganzen Sache gewinnen. Ich musste mein Herz und mein Leben schützen, das hatte oberste Priorität.
Und Darian? Er hatte uns bestohlen und war ohne ein Wort verschwunden, hatte mich bei Ewan zurückgelassen, obwohl er mir angeblich hatte helfen wollen. Auch er hatte sich in Lügen gekleidet. Was er wirklich vorhatte, wusste ich nicht. Und solange ich das nicht wusste, müsste ich mich auch vor ihm in Acht nehmen.
Fuck. Meine Lage war ganz schön beschissen.
Hinzu kam, dass die Kälte mit jeder Minute schneidender wurde. Mein Atem bildete weiße Wölkchen vor meinem Gesicht und meine Beine waren ermüdet von dem Sprint, den ich zu Anfang hingelegt hatte.
Dieser Wald müsste doch irgendwann ein Ende finden? Ich würde auf einer Landstraße herauskommen und mich per Anhalter in die nächste größere Stadt fahren lassen. Oder noch weiter weg. Und dann müsste ich mir einen neuen Job suchen. Doch je tiefer ich in den Wald eindrang, desto schneller schlug mein Herz. Es war nichts zu hören außer dem Knacken der Äste oder dem Rascheln der Blätter unter meinen Sohlen. Nicht einmal Vögel zwitscherten.
Plötzlich kam mir ein neuer Gedanke. Was, wenn mich noch jemand anderes fand? Jemand, den ich bisher nicht bedacht, nein, nicht einmal gesehen hatte.
Die Gesandten.
Ein eiskalter Schauer jagte meine Wirbelsäule hinunter, doch ich schüttelte die Vorstellung ab. Bisher hatte noch kein Gesandter meinen Weg gekreuzt, ich konnte nicht einmal sicher sein, dass diese himmlischen Wesen überhaupt existierten. Was für ein Pech müsste ich haben, dass sie mich ausgerechnet jetzt fänden?