Читать книгу Ich bin nur noch hier, weil du auf mir liegst - Käthe Lachmann - Страница 9

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Neuland

Es gab einige Dinge, die ich in meinem Leben mal machen wollte. Zum Beispiel wollte ich mal nach Neuseeland. Was bei meiner Flugangst zwar schwierig, aber nicht unbedingt unmöglich war. Bestimmt konnte ich auch irgendwie anders dorthin kommen. Ich musste mir das mal auf der Karte ansehen. Und, ja, an einem Kochkurs teilnehmen – warum nicht.

»Warum nicht?«, sagte ich also auch zu Sabine, die vor mir stand mit einem Prospekt der Cooking-Academy, deren Claim »Koch dich glücklich« mir etwas übertrieben vorkam. Außerdem hätten sie ja konsequent bei ihren Anglizismen bleiben können, allerdings klang »Cook yourself happy« nicht nur irgendwie sperrig, sondern außerdem nach masochistischen Kannibalen. Wahrscheinlich war das der Grund für die deutsche Schreibweise.

Sabine strahlte. »Das wäre echt super. Ich hab dermaßen viele Abendtermine in den nächsten Wochen, und ich möchte, dass sich das mal eine von uns anguckt, bevor wir es für unsere besten Kunden anbieten. Welchen möchtest du denn ausprobieren?« Sie blätterte. »Karibik-Feelings?«

Entsetzt winkte ich ab. »Nein, da wird bestimmt mit Heuschrecken und Kriechtieren gearbeitet – ist das Dschungelcamp nicht immer in der Karibik? Das muss ich nicht haben.«

Ich nahm mir den Prospekt. Vielleicht hier, »Gutbürgerliche Küche« – ach nee, das war mit Eisbein und so. Dann schon lieber »Süße Träume« – Dessertküche. Ja, das war genau mein Ding!

»Endlich mal was anderes als Pêche Melba und Tiramisu! Das mache ich! Am Donnerstag!«

»Du kannst Tiramisu? Respekt! Lass mich mal gucken.« Sabine griff sich den Prospekt. »Hmm, mal sehen ... Süße Träume? Das ist zwar ein Kurs für Paare, aber du kannst ja deinen Freund Paul fragen. Oder Caro, ihr könnt ja so tun, als wärt ihr lesbisch ... «

»Danke, Sabine. Sehr nett, dass du mich dezent auf mein Singledasein hinweist«, fauchte ich. Seit meine Chefin auf einem Burnout-Präventionsseminar diesen Investmentbanker André kennengelernt hatte, schien sie unsere Singlefrauen-Solidarität vollkommen über den Haufen geschmissen zu haben.

»Der Richtige kommt schon noch!« Sabine tätschelte meine Hand – überheblich, wie ich fand. »Also, mach doch den Dessertkurs! Ich melde dich da plus eins an. Für diesen Donnerstag? Du schaust dir das alles ganz genau an, und dann sehen wir, ob wir Zusammenarbeiten können. Die Frau macht jedenfalls einen ganz vernünftigen Eindruck.«

Super Idee, statt der üblichen Firmenfeier mit Alleinunterhalter und Besäufnis »einen Abend lang gemeinsam kochen« mit Besäufnis anzubieten. Aber angucken würde ich mir das schon gern. Wenn ich dabei sogar noch etwas lernen konnte – warum nicht?

Ich sollte tatsächlich Paul anrufen. Wenn ich schon einen besten männlichen Freund hatte, musste ich das ausnutzen. Es war halb eins, also Mittagspausenzeit, der perfekte Zeitpunkt, um ihn in der Klinik auf dem Handy zu erreichen. Ich ließ es klingeln.

Komisch, normalerweise ging er doch viel schneller dran.

»Meierhof, hallo?«, keuchte Paul, total außer Atem.

»Mensch, Paul«, lachte ich. »Wo hole ich dich denn gerade her?«

Er atmete immer noch ganz schnell und flach. Dann geschahen drei Dinge gleichzeitig: Ich hörte ihn sagen: »Wir reanimieren gerade«, brüllte »Omeingottestutmirleid!!!« ins Telefon und legte sofort auf. Zitternd saß ich vor meinem Handy. Was, wenn ich jetzt schuld war am Tod eines Menschen? Ich sah die BILD-Schlagzeile schon vor mir: »Anruf tötet Familienvater – Fluch und Segen der Fernsprechtechnik«. Begriffe wie »lebenslänglich«, »Knasttränen« und »Hofgang«, die mir bisher nur aus drittklassigen RTL-Serien bekannt waren, konnten schon sehr bald sehr viel mit mir zu tun haben. Vielleicht sollte ich schon recht zeitnah meine Neuseeland-Pläne verwirklichen. Scheiß auf die Flugangst.

»Hast du Maschinenbau-Meyer die Rechnung schon geschickt? Ich kann sie nirgends find... Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du gerade eine Teufelsaustreibung durchlebt!«

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Sabine wieder reingekommen war. Sie schüttelte mich.

»Hallo! Was ist denn?«

»Ich ... ich habe vielleicht ein Menschenleben auf dem Gewissen!«, stammelte ich.

»Was? Du hast doch nur telefoniert! Mit wem? Was ist los?«

Mir war irgendwie schwindelig. Ich schluckte.

»Ich hab Paul angerufen. In der Klinik. Und er, er war total außer Atem. Er hat gerade reanimiert!«

Sabine setzte sich seufzend vor mir auf die Tischkante.

»Ann, denk doch mal nach. Wenn es die Situation nicht erlaubt hätte, wäre er doch nicht ans Telefon gegangen! So weit sind wir in unserer Zeit der ständigen Erreichbarkeit hoffentlich noch nicht, dass ein Arzt lieber seinen Patienten sterben lässt, als einen Anruf zu verpassen! Er wird sich bestimmt gleich bei dir melden und das aufklären.« Sie tätschelte meinen Arm und stand auf. »Und jetzt guck mal bitte, ob diese Rechnung raus ist. Und dann mailst du sie mir bitte noch mal. Damit ich sie abheften kann. Wir sind eine ordentliche Eventagentur.«

In dem Moment, in dem sie zur Tür raus war, klingelte mein Handy. Paul.

»Es tut mir leid, wirklich, ich wollte nicht ...«, schoss es aus mir heraus.

»Ann! Beruhige dich doch.« Er hatte wieder die beängstigend sanfte Therapeutenstimme, die mich manchmal an seinem Verstand zweifeln ließ, beziehungsweise mich verunsicherte, weil ich mich fragte, ob er sich damit meines gesunden Geisteszustandes vergewissern wollte. »Ann, ich war kurz draußen. Wir haben zu fünft reanimiert. Reihum. Und ich war kurz vor der Tür und hab mich erholt. Das ist wahnsinnig anstrengend. Das mache ich nicht alleine. Und ja, wir haben sie wiedergeholt.«

Er wurde immer ruhiger, als spräche er mit einem Kind. Oder wie mit einer erwachsenen Frau, die, zumindest vorübergehend, mit dem Gehirn eines Kleinkindes ausgestattet war.

Ich sah ihn direkt vor mir, wie er, eine blonde Locke hinters Ohr gesteckt, konzentriert mit seinen durchdringenden blaugrauen Augen und zusammengekniffenen Augenbrauen irgendwohin starrte, als er fragte: »Warum hast du denn angerufen?«

»Kommst du mit zum Kochkurs ›Süße Träume‹? Desserts?«, piepste ich.

»Süße Träume?« Pauls ganze Anspannung entlud sich in einem Lachkrampf. »Oh, Ann!« Er schniefte und schien sich zu krümmen vor Lachen. »Ja, ich komme mit! Natürlich! Ahhh«, er schnäuzte sich. »Wann denn?«

»Donnerstag«, hauchte ich kleinlaut.

»Donnerstag? Kann ich nicht. Da bin ich verabredet.«

Aha, Paul hatte ein Date.

»Wow, ein Date!«, sagte ich.

»Ja, mit dieser rattenscharfen Krankenschwester!«

Ich war schon etwas neidisch, gönnte es ihm aber natürlich auch. Und vor allem wünschte ich ihm, dass er endlich mal die Frau fürs Leben fände. Wir kannten uns schon so lange ... Er hatte damals in einer WG mit einer befreundeten Kommilitonin gewohnt, zu der ich heute keinen Kontakt mehr hatte, aber die Freundschaft mit Paul war geblieben, und ich hatte weiß Gott schon viele Frauen in seinem Leben kommen und gehen sehen.

»Die mit den tollen Haaren? Ich freu mich für dich!«, sagte ich und meinte es auch so. »Weißt du, wir wollen vielleicht in Zukunft auch diese Kochevents anbieten, und deshalb will ich das mal ausprobieren, und dummerweise hab ich mir einen Paarkurs ausgesucht, es geht um Desserts, und ich liebe nun einmal Desserts ...«

»Frag doch Tim.«

»Tim? Ich weiß nicht, ich hab ihn ewig nicht gesehen, und ...«

»Dann ist das doch noch ein Grund mehr! Eine schöne Gelegenheit, ihn wiederzusehen! Er freut sich bestimmt. Ich finde den cool.«

»Meinst du? Na ja. Hoffentlich sieht er das nicht als Anbaggern ...«

Natürlich hatte ich auch schon an Tim gedacht. Ich mochte ihn und seine jungenhafte Art, den Job als freier Journalist beim Radio, und natürlich fand ich toll, dass er Gitarre in einer Crossover-Band spielte. Außerdem sah er ganz gut aus. Seit er mich mal in der Videothek angesprochen und um einen Filmtipp gebeten hatte, und wir festgestellt hatten, dass wir quasi Nachbarn waren, hatten wir manchen spaßigen Abend miteinander verbracht. Er war einfach ein witziger Typ, der gute Laune verbreitete. Bestimmt würde ein Kochkurs mit ihm auch lustig werden.

»Du hast recht, fragen kann ich ihn ja. Dann reanimier mal weiter!«

»Warte, ich guck mal.« Er machte eine Pause, als müsse er sich kurz umsehen, und sagte dann: »Nee, gibt gerade nichts zu reanimieren! Und du, lern schön Desserts machen und verwöhn mich mal mit einem!«

Tim. Ja, natürlich. Es war gut, mal wieder einen Grund zu haben, ihn anzurufen. Und dass wir dann etwas zu tun hatten, wenn wir uns sahen. Bei manchen Freunden oder Bekannten war es gut, sich zu treffen, um miteinander etwas zu unternehmen. Es gab diese Freunde, mit denen ich alles machen konnte, auf ein Konzert gehen oder ins Kino, oder einfach nur zum Reden treffen, wie meine Caro oder eben Paul, und dann gab es Freunde, mit denen ich lieber etwas unternahm, wie Tim. Den wollte ich nicht einfach nur so treffen. Manchmal war es wirklich hilfreich, wenn man zusammen etwas tat, man konnte sich dann über das Tun unterhalten, also, in dem Fall etwa über die Konsistenz der zu schmelzenden Schokolade, über Desserts und Vorlieben. Bei Desserts natürlich.

Komisch, was machte ich mir denn solche Gedanken? Das ist doch nur Tim, grübelte ich, während ich die Meyer-Rechnung in meinem Computer suchte, fand und Sabine mailte. Jedenfalls freute ich mich, ihn wiederzusehen. Falls er überhaupt Zeit hatte.

Seit meinem letzten Telefonat war erst eine halbe Stunde vergangen, also war noch Mittagspausenzeit, und die Chancen standen gut, dass ich Tim auf dem Handy erwischte, ohne ihn bei lebensrettenden Maßnahmen zu stören.

»Marie, ich hab doch gesagt, ich ruf gleich zurück, ich muss da doch erst mal fragen!« Tims Stimme klang etwas unwirsch am anderen Ende der Leitung.

»Oh, hast du einen anderen Anruf erwartet? Hi, hier ist Ann!« Verdammt, warum war das Telefonieren heute denn so schwierig?

»Oh, sorry, tut mir leid, entschuldige, ich dachte, das wäre ... Hey, Ann! Du bist das! Welche Freude, schön, dass du anrufst! Pass auf, das ist gerade blöd, kann ich gleich zurückrufen? Um was geht’s denn?«

Obwohl ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte, winkte ich ab, während ich sprach.

»Ach, nichts Wichtiges, ich kann dich heute Abend noch mal anrufen, oder du mich.«

»Nein, rück schon raus, ’ne Minute hab ich für dich. Bin nur eigentlich gerade im Meeting ...« Er klang richtig fröhlich.

»O. k., ich spreche ganz schnell: Hast du Donnerstag Zeit und Lust, mit mir einen Dessertkochkurs zu machen? Von sieben bis zehn oder so?«

Tim räusperte sich. Er schien überlegen zu müssen. »Ja klar, warum nicht. Ich hol dich ab, und wir fahren da zusammen hin. Bin um halb sieben bei dir! Freu mich! So long!«

Ups, der war aber mal spontan. Ja, das mochte ich an ihm. Seine unkomplizierte, lockere Art. Neugierig auf Neues, einfach mal was ausprobieren. Jetzt hatte ich ihm aber gar nicht gesagt, dass das ein Pärchenkurs war ... War ja irgendwie auch egal.

Ich bin nur noch hier, weil du auf mir liegst

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