Читать книгу Und sie dreht sich doch! - Kurt Bangert - Страница 36
Wohin wanderten die Überlebenden?
ОглавлениеVielleicht können wir auch einiges über die Schwarzmeerkulturen erfahren, wenn wir verfolgen, wohin die Überlebenden nach der Katastrophe flüchteten und wenn wir uns anschauen, welche Kulturgruppen wir nach 5500 v. Chr. finden.
Es gibt in der Tat eine Reihe von erstaunlichen Hochkulturen, die sich nach der Schwarzmeerflut rund um das Meer entwickelt haben. Man könnte darüber spekulieren, ob sie aus den älteren, soeben erwähnten Kulturen hervorgingen oder ob sie auf die Migrationsbewegungen der Überlebenden der Schwarzmeerkatastrophe zurückzuführen sind, als die Flut-Vertriebenen nach neuen Siedlungsregionen suchten. Zahlreiche Menschen gelangten vermutlich entlang der Donau in ihre neue Heimat. So etwa die Vinca-Kultur, die ab 5400 v. Chr. auf dem Balkan erscheint. Die Vinca verfügten bereits über eine einfache Schrift, gut 2000 Jahre bevor wir die ersten Schriftzeichen in Mesopotamien und Ägypten vorfinden.
Einer der erstaunlichsten Funde aus jener Zeit ist der größte und älteste vorgeschichtliche Goldhort, der sich sogar direkt an der Küste des Schwarzen Meeres im bulgarischen Varna befindet (um 4500 v. Chr.). Auf diesem Friedhofsgelände wurde eine für das 5. Jahrtausend v. Chr. außergewöhnlich große Menge an Gold und Schmuckgegenständen gefunden, die von einem bemerkenswerten zivilisatorischen Fortschritt zeugen.
Ein zweiter kultureller Migrationsstrang dürfte sich wahrscheinlich nach Nordwesten entlang dem Dnjestr und der Weichsel bis hin nach Westeuropa verbreitet haben. Diese Kultur, nach ihrer Tonkunst Linearbandkeramiker oder LBK genannt, zeichnet sich nicht nur durch ihre besondere Keramik aus, sondern auch durch die Schweinezucht und die Domestizierung der Hirse. Die LBK kannten eine Langhaus-Architektur und benutzten Steinwerkzeuge.
Andere Kulturen, die nach 5500 scheinbar wie aus dem Nichts auftauchen, sind die Dnjepr-Donez-Kultur in der Ukraine (5500–5000), die Cucuteni-Kultur in Moldawien und in der Westukraine (4800–4500), die Karanova-Gumelnita-Kultur in Thrakien und Ostmazedonien (5000–4300), die Hamangia-Kultur an der heutigen Schwarzmeerküste (5500–4700), die Boian-Kultur in Rumänien und der unteren Donau (5000–4700), die Lengyel-Kultur im Donaubecken und in Westungarn (um 5000) sowie die Theiß-Kultur in Ostungarn (5400–3700).
Marija Gimbutas neigte dazu, die Entstehung dieser Kulturen als das Ergebnis lokaler Entwicklungen zu deuten. Sie verwies aber auch auf die Meinung anderer Wissenschaftler, die eine andere Meinung vertraten: „Das Sichtbarwerden eines ganzen Bündels von neuen Merkmalen in dieser Zeit, besonders der schwarzpolierten Töpferwaren und der Kupferartefakte, hat in der Vergangenheit viele Wissenschaftler zu der Annahme verleitet, dass Besiedlungsströme die Balkanhalbinsel überschwemmt haben müssten.“29
Es scheint, dass, je näher wir ans Schwarze Meer heranrücken, desto bemerkenswerter und entwickelter die Kulturen waren. Bemerkenswert ist aber auch, dass nach 5500 v. Chr. nur wenige Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe des jetzt salzig gewordenen Schwarzen Meers gefunden wurden. Offenbar hatte die Flut die Menschen traumatisiert beziehungsweise ihnen jedenfalls so gehörigen Respekt eingeflößt, dass sie sich zunächst von dem ungastlich gewordenen Meer fernhielten und nach gastlicheren Süßwasserstellen Ausschau hielten. Insofern muss es nicht wundern, wenn wir nach 5500 neue kulturelle Ansiedlungen entlang der Donau, dem Dnjestr, dem Dnjepr und dem Don finden. Aber auch in Richtung Süden, entlang der Flüsse Anatoliens und an den Ufern von Euphrat, Tigris und Jordan finden wir erstaunlich fortgeschrittene Siedlungen. Ein wenig später auch im Nildelta.
Einige der Kulturen, die am Rande des Schwarzen Meeres blühten, sind nach Auskunft von Archäologen offenbar über Nacht verschwunden. Für diese Fachleute war dies bisher ein ungelöstes Rätsel, das aber jetzt, in Kenntnis der Schwarzmeerflut, keine Überraschung mehr darstellt. In Unkenntnis der Schwarzmeerflut (!) schrieb Marija Gimbutas Anfang der Neunziger Jahre diese Zeilen:
Das Ende der Varna-, Karanova-, Vinča und Lengyel-Kultur in ihrem jeweiligen Hauptansiedlungsgebiet [also Schwarzmeerküste, Nordostgriechenland, Donaubecken etc.] und die gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen nach Norden und Nordwesten weisen indirekt auf eine Katastrophe von so gewaltigen Ausmaßen hin, dass sie nicht mit klimatischen Veränderungen, der Auslaugung des Landes oder Epidemien erklärbar ist.30
Die Flut hatte offensichtlich zur Folge, dass der Siedlungsbereich des Schwarzen Meeres mit seiner verlorengegangenen Süßwasser-Ökologie weitgehend an Attraktivität eingebüßt hatte – zumal ja auch wichtige Küsten- und Handelszentren gänzlich untergegangen waren. Viele orientierten sich flussaufwärts, um nach neuen Siedlungsräumen und Jagdgründen Ausschau zu halten; und vor allem: unzählige Menschen brauchten eine neue Heimat.
Nachfahren der Schwarzmeerkultur finden wir also nicht nur in Europa, sondern auch im Nahen Osten. Viele der Menschen, die einst die anatolische Schwarzmeerküste besiedelt hatten, mussten sich, da der Bosporus nun nicht mehr überquert werden konnte, fortan nach Süden und Südosten orientieren. In Mesopotamien – das Zweistromland ist ja als „Wiege der Menschheit“ gehandelt worden – tauchen die ersten Ansiedlungen etwa ab dem Jahr 5000 v. Chr. auf. Die Ubaid-Kultur (ca. 5000–4000 v. Chr.) gilt als Vorläufer der Sumerer. „Die Ubaid-Leute kamen aus dem Norden. Die genetische Untersuchung von Skeletten in Gräberfeldern hat ergeben, dass sie entfernt mit den Bewohnern des Kaukasus verwandt sind.“31 Für die Ubaidianer ist übrigens eine revolutionäre Erfindung belegt: eine runde Scheibe, die zum Töpfern verwandt wurde. Daraus ist vermutlich das Rad entstanden, eine der erfolgreichsten technischen Innovationen, die sich von hier aus über die ganze Welt ausbreitete. Könnte es sein, dass das Rad bereits von der Schwarzmeer-Kultur herrührte?
Auch in Ägypten und Palästina siedelten in der Folge die Nachfahren der Überlebenden der Flut an. Erste Anzeichen einer Landwirtschaft mit Bewässerung sind zwar schon aus der Zeit um 5500 belegt. Aber erst später entwickelte sich entlang des Nils und im Nildelta die uns sehr geläufige ägyptische Hochkultur, wie wir sie aus zahlreichen Ausstellungen, Museen und Bildbänden kennen. Zweifellos sind die Hochkulturen in Ägypten und Mesopotamien keineswegs aus dem Nichts entstanden, sondern hatten ihre Vorläufer. Es ist plausibel anzunehmen, dass sie von der untergegangenen Schwarzmeerkultur zumindest mit beeinflusst wurden, wenn nicht sogar aus diesen hervorgegangen sind.
Wir sehen also: Bereits vor der Schwarzmeerflut (bis ca. 5500 v. Chr.) und erst recht danach machen wir rund um das Schwarze Meer recht hoch entwickelte Kulturen aus. Dabei dürfen diese Kulturen Südosteuropas und Anatoliens durchaus zu den ältesten Hochkulturen überhaupt gerechnet werden. „Wie kreisförmige Wellen, die von einem ins Wasser geworfenen Stein ausgehen, breiteten sich die technologischen Innovationen zunächst in der Balkanregion, der Donauzivilisation und – mit einiger zeitlicher Verzögerung – im Vorderen Orient aus.“32
Der archäologische Befund wird heute in bemerkenswerter Weise von genetischen Erkenntnissen gestützt. In den letzten Jahren haben, wie wir oben bereits lernten, Genetiker das menschliche Genom erforscht und können Verwandtschaftsgrade von Menschen allein aufgrund ihrer Gene zurückverfolgen. Diese Humangenetiker haben zeigen können, dass der Mensch, von Afrika über die Sinai-Halbinsel nach Norden kommend, sich im Nahen Osten, in Anatolien und Europa ausbreitete, wobei der Bosporus, da er noch nicht durchbrochen war, offenbar ein ständiges Hin und Her zwischen Kleinasien und Europa erlaubte, was man daran erkennen kann, das der von den Genetikern identifizierte sogenannte mediterrane Genotyp ebenso stark in Griechenland wie in der Westtürkei vorhanden ist. Neben diesem Genotyp gibt es am Schwarzen Meer vor allem noch den sogenannten indoeuropäischen Genotyp, dessen höchste Bündelung nördlich des Schwarzen Meeres zu finden ist. Vielleicht ist das Etikett indoeuropäisch für diesen Genotyp in gewisser Weise eine Fehlbezeichnung, da es auch sein könnte, dass die Menschen südlich des Schwarzen Meeres ebenfalls indoeuropäisch gesprochen haben, oder genauer: proto-indoeuropäisch (PIE). Auf jeden Fall ist es wohl so, dass sich beide am Schwarzen Meer vorkommenden Genotypen sowohl nach Europa als auch in Richtung Mittlerer Osten und Indien ausgebreitet und dabei sowohl sprachliche wie auch kulturelle Spuren hinterlassen haben.