Читать книгу Wunder - Kurt Erlemann - Страница 59
1.7.10 Faktualität/Fiktionalität
ОглавлениеDiese literaturwissenschaftlichen bzw. erzähltheoretischen Kategorien umschreiben den Wahrheitsanspruch eines Textes.1 Vor dem Hintergrund des wissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs bilden Faktualität und Fiktionalität ein Gegensatzpaar – tertium non datur. Faktual sind demnach Texte, die sich auf ein konkretes historisches Geschehen beziehen. Faktualität ist semantisch, textpragmatisch oder durch Kontextbezug ausweisbar und ist nicht gleichbedeutend mit Faktizität. Faktizität meint die minutiös korrekte Wiedergabe des historischen Ereignisses (Zeitungsmeldung, Nachrichtensendung), Faktualität lediglich den grundsätzlichen Verweis auf eine historische Grundlage. Geschichtsschreibung, Reportagen, Zeugenberichten und Ähnlichem kommt insofern keine Faktizität zu, als sie das real Geschehene subjektiv deuten und darstellen.
Fiktional sind dagegen Texte, die sich als Phantasieprodukt zu erkennen geben (Märchen, Gleichnis, Fabel, Mythos, Roman, Lyrik, Traumvision). Fiktionalität ergibt sich aus der Semantik (z.B. die Märchen-Einleitung ‚es war einmal‘, die Überschrift ‚Gleichnis‘ u.ä.) oder aus dem unrealistisch-fiktiven Sujet (Fiktivität: Tiere als Handlungsträger, sprechende Pflanzen, Superhelden u.a.). Die ‚Wahrheit‘ fiktionaler Texte ist jenseits der wörtlichen Sinnebene zu suchen.
Ein fiktionaler Text kann durchaus reale Erzählelemente enthalten, ein faktualer Text kann auch fiktive Erzählzüge tragen. Gleichnisse erzeugen den Eindruck von Pseudo-Realistik; die alltäglich, realistisch anmutende Erzählwelt wird durch extravagante, die Realistik sprengende, Erzählzüge durchbrochen. Solche Extravaganzen fungieren als Hinweis (Transfersignal) auf eine weitere Sinnebene. Da faktuale Erzählungen immer auch fiktive, der subjektiven Deutung geschuldete, Elemente und fiktionale Texte durchaus realistische Züge beinhalten, verlaufen die Grenzen zwischen Faktualität und Fiktionalität fließend. – Aus dem Gesagten ergeben sich vier grundsätzliche Erzählmodi:
Faktuale und fiktionale Erzählungen
Anhand dieser Kategorien wird über das Verhältnis zwischen Erzähltem und Erzählung in Wundertexten nachgedacht. Konzediert wird ihnen ein faktualer Anspruch: Sie weisen auf historisches Geschehen hin (vgl. Mt 11,5; Lk 1,1–4; 4,18–21 u.a.). Dieses Geschehen (Wundertaten Jesu) wird indes kontrovers beurteilt. Seine Faktizität (genau so ist es geschehen!) wird gemeinhin bestritten. Das historische Geschehen sei allenfalls in Grundzügen real (Jesus hat erstaunliche, aber rational erklärbare Dinge getan) und hermeneutisch sei es irrelevant. Damit wird die historische Wunderfrage relativiert. Das führt zu Aussagen wie:
„Unbeschadet möglicher historischer Wurzeln ist der faktuale Anspruch allerdings ein erzählerisches Mittel im Dienst der Aussage über die Person.“2 Oder: „Die Wahrheit solcher Geschichten liegt nicht in historischen Tatsachen vor 2000 Jahren, sie liegt darin, dass, wer sie liest, selber sie wahrmacht in der eigenen Person, durch Taten im eigenen Leben.“3 Oder: „Die Wundergeschichten erzeugen mit ihren faktualen Anteilen ein Porträt des Wundertäters Jesus, das in der damaligen Alltagswelt eine plausible Realität besaß. Alle faktual berichteten Heilungen und Naturwunder waren real möglich, mussten aber nicht auf historisch verifizierenden Fakten beruhen.“4
Kritik: Wundertexte verweisen auf weiche Fakten, das heißt: Der faktuale Anspruch der Wundertexte bezieht sich auf ein historisches Geschehen, das nur subjektiv von einem Menschen (Vision, Traum, Epiphanie) oder intersubjektiv von einer Gruppe von Menschen als reales Geschehen wahrgenommen werden kann (z.B. Therapie, Rettung, Sättigung). Was für diese Menschen Realität ist, ist für andere Menschen phantastische Fiktion. Die Entscheidung über Faktualität und Fiktionalität fällt nicht in der Semantik des Wundertextes, sondern in der Optik auf die Wirklichkeit. Die historische Wunderfrage ist nicht nüchtern-analytisch, sondern religiös-mystisch zu klären und hängt von der Bereitschaft ab, die Phantastik des Erzählten als reale Erfahrung zu verstehen bzw. das ‚Unmögliche‘ des Wunderhaften für real erfahrene und real erfahrbare Wirklichkeit zu halten.
Harte Fakten, weiche Fakten und Fiktion
Die Grafik verdeutlicht den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsarten bzw. Optiken auf die Wirklichkeit (→ 3.6.2d) und der Wahrnehmbarkeit von harten Fakten (HF), weichen Fakten (WF) und Fiktion (Fi). Die Grafik zeigt, dass die kindlich-vorrationale Optik das weiteste und die nüchtern-analytische Optik das engste Wahrheits- bzw. Wahrnehmungsspektrum aufweist. Die religiös-mystische Optik bewegt sich dazwischen und erfasst auch religiöse oder mythische Dimensionen harter Fakten, was der nüchtern-analytischen Optik nicht möglich ist. Was für diese Optik irrational und fiktiv erscheint (WF, Fi), ist aus religiös-mystischer bzw. kindlich-vorrationaler Optik durchaus wahrnehmbar real. Die Entscheidung, was faktual, faktisch und fiktiv ist, wird je nach Wahrnehmungsart unterschiedlich bewertet. Dazu kommt, dass auch die nüchtern-analytische Optik nie frei von Deutung der Wirklichkeit ist. Eine Fiktion ist daher die Rede von Objektivität im Sinne unverfälschter, von subjektiven Einflüssen freier Beschreibung eines Vorgangs.