Читать книгу Wunder - Kurt Erlemann - Страница 61
Оглавление2.1 Welt- und Menschenbild
Eine Kontrastierung von antik-biblischem und neuzeitlich-modernem Welt- und Menschenbild ist nicht möglich, da beides in sich uneinheitlich ist.
2.1.1 Sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit
Das ntl. Weltbild lässt sich modellhaft als Haus mit drei Etagen (Himmel, sichtbare Welt, Unterwelt) beschreiben. Die Grenzen zwischen den Etagen sind durchlässig. Natürliche Kausalitäten können von göttlichen Kräften unterbrochen werden. Spürbare Wirkungen göttlichen Eingreifens sind z.B. Krankheiten, Wunder und Segen. Spirituell-mystische Erfahrungen mit der göttlichen Sphäre durchziehen die Bibel (z.B. Gebete, Epiphanien, Wunder, heilige Orte und Zeiten).1
2.1.2 Monotomisches Menschenbild
Die gr.-hell. Anthropologie ist dichotomisch (Körper/Seele) oder trichotomisch (Körper/Seele/Geist). Der Körper (gr. sóma) ist sterblich, Seele und Geist (gr. psyché bzw. nous) sind unsterblich.1 Laut AT und frühem Judentum ist der Mensch eine monotomische Einheit aus Körper und Seele.2 Körperliche Leiden weisen auf seelische Probleme (Sünde, Schuld) hin. An Leib und Gliedern (gr. méle) als Kontaktorganen zur Wirklichkeit vollzieht sich der kosmische Kampf zwischen Gott und widergöttlichen Mächten. Körperliche Heilung hat eine kosmische Dimension: Sie ordnet das Verhältnis des Menschen zu seiner Außenwelt heilvoll neu.3 Platonisch beeinflusst ist die paulinische Abwertung von vergänglichem Körper und Seele (äußerer Mensch) gegenüber dem unvergänglichen Geist (gr. pneúma, innerer Mensch).4 – Wunderhafte Heilungen wirken umfassend (Mk 2,1–12; Joh 5,14). Jesus ersteht auch körperlich auf (1 Kor 15,12–19).
2.1.3 Wunderglaube und Wunderkritik
Anstelle pauschaler Wundergläubigkeit oder gar Wundersucht herrschte im ntl. Zeitalter eine Mischung aus Wunderglauben und Skepsis.1 Der Glaube an Wundertaten der olympischen Götter ist Gegenstand gr. Mythendichtung.2 Als Mythen haben sie unhistorischen Charakter. Pausanias (Desc Graec 8,8,3) deutet sie symbolisch. – Ein mythisches Seenotrettungswunder dient als Beispiel:
„Damals, als das Meer heranbrauste und sich von allen Seiten auftürmte, und nichts mehr zu sehen war als das drohende Verhängnis, und schon fast der Untergang besiegelt schien: da hast Du Deine Hand dagegen erhoben, hast den verhüllten Himmel aufgehellt und hast uns das Land schauen lassen und Landung ermöglicht, so wider alles Erwarten, daß wir selbst es nicht glauben wollten, als wir auf festen Boden traten.“3
Antike Geschichtsschreiber sehen die Götter am Anfang der Weltordnung und unterscheiden zwischen unmöglichen, zu bezweifelnden Wundertaten (gr. adýnata, Totenerweckungen, Naturwunder) und möglichen, wenn auch überraschenden Wundertaten (gr. parádoxa, Heilungen u.ä.). Dieser Einschätzung folgt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus: Parádoxa des AT ordnet er göttlicher Vorsehung zu, die Glaubwürdigkeit von adýnata lässt er offen.
Die Philosophie übt am Götter- und Wunderglauben Grundsatzkritik.4 Götter seien weltabgewandte Figuren oder abstrakte Prinzipien. Die Peripatetiker und Plinius der Jüngere (ca. 61–114 n. Chr.) deuten Wunder rational, für Lukrez (ca. 99–55 v. Chr.) und Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) sind sie unglaubwürdige adýnata. Lukian von Samosata (120–vor 180 n. Chr.) deutet Wundertexte allegorisch. Rational-kritisch äußert sich Philostrat (ca. 164–244 n. Chr.): Mythische Wunderberichte seien Ammenmärchen.5 Der Mittelplatoniker Kelsos (2. Jh. n. Chr.) übt massive Polemik gegen biblische Wundertexte.6 Für ihn ist Jesus ein trickreicher Magier und die Christen sind ungebildete Naivlinge.
„Was über Heilungen oder eine Auferstehung aufgeschrieben wurde, oder über wenige Brote, die viele ernährt haben, von denen viele Reste übrig geblieben sind, oder all dies, was die Jünger phantasierend erzählt haben: Wohlan, wir wollen glauben, dass du all dies gewirkt hast. Sie sind aber mit den Werken der Zauberer gleichzusetzen, die noch wunderbarere Dinge versprechen, und mit dem, was die Schüler der Ägypter vollbringen, wenn sie mitten auf den Märkten für wenig Geld ihr ehrwürdiges Wissen abgeben: Sie treiben die Dämonen von den Menschen aus, blasen Krankheiten weg, rufen die Seelen der Heroen auf, zeigen kostbare Mahlzeiten und Tische und Näschereien und Leckerbissen, die es gar nicht gibt; sie setzen Dinge in Bewegung, als wären sie Lebewesen, die aber wirklich keine Lebewesen sind, sondern nur in der Einbildung als solche erscheinen. Da jene Leute solche Dinge tun können, müssen wir sie dann für Söhne Gottes halten? Oder müssen wir sagen, dass dies die Betätigungen von schlechten und von einem bösen Geist besessenen Menschen sind?“7
In der Volksfrömmigkeit bleibt Götter- und Wunderglaube fest verankert; das erklärt die teils massive Polemik gegen Wunder(-glauben). Selbst manche Gebildete glauben an Wunder; darüber macht sich der Satiriker Lukian lustig.8
2.1.4 Nebeneinander von Mythos und ratio
Mythisches Denken gilt heutzutage als überholt und rational denkenden Menschen unzumutbar. Doch, wie antike Texte zeigen, bestanden Mythos und ratio immer schon nebeneinander. Auch sind mythische Erklärungsmuster längst nicht passé. Das provoziert ein Nachdenken über verschiedene Weltsichten (→ 3.6.2d).