Читать книгу Zelenka - Trilogie Band 1 - Kurt Mühle - Страница 3

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Vorgeschichte

Erstaunen und Ratlosigkeit packten mich angesichts der E-Mail eines Internet-Forums, das Klassentreffen von Menschen arrangiert, die sich längst aus den Augen verloren haben. Ausgerechnet der stille Frank, der früher gemeinsamen Aktionen der Klasse meist auswich, hatte die Initiative ergriffen und einen humorvollen Einladungstext formuliert. Das letzte Treffen habe vor sage und schreibe neun Jahren stattgefunden, da sei es wohl an der Zeit, mal wieder in fröhlicher Runde zusammen zu kommen. Vielleicht wäre es ja auch der Anfang zu mehr oder minder regelmäßigen ‚meetings’. Geselligkeit, Erfahrungsaustausch, gegenseitige Hilfe, - das waren wohl Franks Gedanken für solch einen Club der Ehemaligen.

Ich schüttelte irritiert den Kopf; vielleicht hatte Frank ja nur zu viel über Logenbrüderschaft gelesen, - doch mehr noch wunderte mich die Arglosigkeit dieser Einladung. Wusste Frank denn nicht, was auf dem letzten Klassentreffen vor neun Jahren Schreckliches geschehen war?! – Ich löschte die Mail-Einladung auf meinem PC und dachte nicht weiter darüber nach.

Ein paar Wochen später kam eine erneute Einladung, diesmal mit einer Liste all derer, die sich inzwischen angemeldet hatten. Bei einigen Namen geriet ich arg ins Grübeln; denn wer war dieser oder jener eigentlich noch?

Ein Name hingegen erweckte sofort mein Interesse: Marion. Die hübsche, spröde Marion, für die so manch einer von uns damals entflammte! Diese ehrgeizige, ruhige, blauäugige Blondine, die Annäherungsversuche so schroff und kalt zurückzuweisen wusste! Andererseits zeigte sie sich oft hilfsbereit, konnte mit uns scherzen und lachen, trat engagiert Mitschülern zur Seite, falls einem seitens des Lehrkörpers mal Unrecht geschah. Dann plötzlich war sie wieder auf rätselhafte Art distanziert, unnahbar. Eine Einzelgängerin, - ja vielleicht, aber eine faszinierende. Auf der feucht-fröhlichen Abifete sah ich sie zum letzten Mal, danach sank sie nach und nach wie all die anderen bei mir ins Reich des Vergessens.. Doch nun tauchte ihr Bild wieder vor mir auf, Erinnerungen kamen zurück. Ich stützte den Kopf auf und hing verklärt alten Träumen aus längst vergangenen Tagen nach. Und meldete mich schließlich an.

Einen Monat später, an einem lauen Sommerabend, fand das Treffen statt. In einem gemütlichen kleinen Biergarten, der für uns reserviert war, versammelten wir uns an einem langen Tisch. Achtzehn waren angemeldet, vier hatten zwischenzeitlich wieder abgesagt, darunter auch Sebastian Broschowski, der sonst nie fehlte, wenn es irgendwo etwas feucht-fröhlich zu feiern galt.

Rechts neben mir saß Andreas, inzwischen Makler von Beruf, dunkler Anzug, Silberkrawatte, Kavalierstüchlein, - der alte Angeber, den Marion einst vor der Klasse ohrfeigte, weil sie seine Nachstellungen nicht länger ertragen wollte. Juliane saß mir gegenüber, sie sei Hausfrau und Mutter, habe vier Kinder. Sie sah verhärmt aus, unfähig, auch nur einmal zu lächeln über die vielen Scherze, die am Tisch gemacht wurden. Die Kopfseite des Tisches war reserviert für Dieter Rossili, unseren agilen Klassenclown, - ein Schock für uns alle, als er im Rollstuhl erschien. Es ginge ihm sonst ganz gut, er schreibe an einem Buch.

Nachdem er das akademische Viertel abgewartet hatte, sprach Frank ein paar Begrüßungsworte. Ich hörte kaum hin, sondern blickte fragend in die Runde; alle schienen da zu sein, - bis auf Marion.

Während ein Kellner die Essens-Bestellungen entgegennahm, wanderten meine Blicke von einem zum anderen. Da drüben saß Oliver, Klassenprimus, heute Zahnarzt. Neben ihm Claudia Teschner, Lehrerin, - frustriert verkündend, inzwischen dreimal geschieden zu sein. Mit ihr war Marion während der Schulzeit lange Zeit enger befreundet. Und da war Ulrich Wiethoff, einst angeblich Ingenieur in einer Eisengießerei und nun – ich wollte es kaum glauben – im kirchlichen Dienst tätig. Daneben die laut und unaufhörlich quasselnde Britta Angermann, Friseurin und wie immer flippig gestylt. Dann war da noch Heinz-Peter, von dem ich gar nichts mehr wusste, und da war Daniel, Architekt, arbeitslos, geschieden, allein erziehender Vater.

Zu meiner Linken saß Annegret Pawlak, immer noch liiert mit Maximilian Strobel – genannt Maxe -, jetzt Buchhändler. Sie trank nur Wasser; man munkelte, sie sei Alkoholikerin, - seit damals, vor neun Jahren, als es das letzte Klassentreffen gab, bei welchem Bruno spurlos verschwand.

Das Essen war so gut wie beendet, die letzten löffelten noch an ihrem Nachtisch, da kam noch jemand zu uns, klopfte zur Begrüßung einige Male vernehmlich auf die Tischplatte und sagte nur: „Sorry, hab’ mich etwas verspätet. Guten Abend allerseits. Trotzdem, - ich bin’s wirklich: Marion.“

Da stand sie am Ende des Tisches, eine auffallend hübsche junge Frau in engen Hosen, hellgrauem Pulli und einem modischen Jeans-Jäckchen darüber; ihr mittellanges blondes Haar schimmerte rötlich in der Abendsonne, aus dem schmalen Gesicht leuchtete genau wie einst jenes betörende Paar himmelblauer Augen, das uns rätselhaft streng, prüfend und beinahe misstrauisch anblickte. Oder kam mir das jetzt nur so vor?

Ohne ein weiteres Wort nahm sie Platz und musterte die Anwesenden. Meinen Wink übersah sie, kramte stattdessen einen Notizblock hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch.

Für einen Moment stockten die Unterhaltungen. Alle Augen richteten sich fragend auf Marion, die so tat, als gehöre sie nicht dazu; das kannte man vor ihr, so war sie früher schon. Also setzten wir unsere Unterhaltungen einfach fort.

Als das letzte Geschirr abgeräumt war, fragte Frank ahnungslos in die Runde: „Hat denn irgendwer von euch mal wieder etwas von Bruno gehört?“ – Auch mich interessierte diese Frage brennend, ich wollte sie aber nicht stellen, um die gute Stimmung nicht zu verderben. Achselzuckend senkten einige die Köpfe, andere blickten fragend in die Runde; eine Antwort hatte anscheinend niemand. Betretenes Schweigen.

Frank, der ebenso wie ich am Treffen vor neun Jahren nicht teilgenommen hatte, wollte es nun endlich genauer wissen. „Also”, sagte er, „sieben Leute von uns sind damals mit Ulrich in die stillgelegte Gießerei gegangen, wo’s angeblich Interessantes oder Lehrreiches zu besichtigen gab. Nun ja, Ulrich hatte in dem Laden früher mal gearbeitet. Da konnte er bestimmt so einiges erklären.“

Ulrich gab sich einen Ruck. „Ja. Anschließend fühlte Bruno sich nicht wohl. Er wollte nach Hause. Maxe und Sebastian, der heute leider nicht hier ist, haben ihn zum Bus begleitet.“

Maxe, der Buchhändler, nickte: „Wir haben noch gewartet, bis der Bus abfuhr. Seitdem fehlt von Bruno jede Spur. Alle polizeilichen Untersuchungen blieben wohl ohne Erfolg. Traurig. Aber mehr wissen wir auch nicht. Nach neun Jahren besteht da wohl auch wenig Hoffnung.“

Annegret erhob sich wortlos und verschwand im Restaurant, wohl um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Warum machte Maxe so einen langen Hals und schaute ihr misstrauisch hinterher?

Allmählich lebten die belanglosen Unterhaltungen wieder auf, die ersten frivolen Witze wurden erzählt, und der Bierkonsum hob die Stimmung und die Lautstärke. Warum war eigentlich keiner unserer Lehrer erschienen? – Hatte Frank sie nicht eingeladen?

Ehe ich ihn danach fragen konnte, saß Marion plötzlich neben mir und fragte kühl und sachlich: „Na, geht’s dir gut?“ Es klang nach formaler Begrüßungsfloskel, aber ich ignorierte es, - vielleicht wollte ich es überhören. Was ich denn beruflich so mache, wollte sie wissen, und als ich ihr erklärte, dass ich mit Automationstechnik zu tun habe, tat sie sehr interessiert, bis mir klar wurde, dass sie irgendetwas Bestimmtes im Sinn hatte. Sie fragte plötzlich ganz harmlos: „Kommst du auch mal in Eisengießereien?“ Als ich das bejahte, wollte sie wissen: „Was machen die da eigentlich mit dem ganzen Sand?“

Ich war verwundert über diese Frage, erklärte ihr aber, dass mit Sand unter Zusatz von Bentonit und Kohlenstaub die Gussformen für das flüssige Eisen erstellt werden. Anschließend würden die Formen zerschlagen und der Sand in speziellen Sandaufbreitungsanlagen regeneriert.

„Und wie nennt man die riesigen Behälter, in die der alte Sand gefördert wird?“ Sie sah mich gespannt an. Warum interessierte sie das? Hing es mit Brunos Verschwinden zusammen? Und wenn ja, - woher dieses plötzliche Interesse für Bruno? Sie hatte ihn nie leiden mögen. Außerdem hatte sie am Klassentreffen vor neun Jahren ebenfalls nicht teilgenommen.

„Altsandbunker“, erklärte ich. Marion bedankte sich kurz, erhob sich und ging ins Haus. Als sei es ansteckend, beschäftigte mich von nun an nur Brunos Schicksal und diese merkwürdige nächtliche Besichtigung einer stillgelegten Gießerei. Ich saß wohl recht grübelnd vor meinem Bier, dass mich kaum jemand ansprach oder - wenn doch – ganz schnell den Versuch aufgab, mit mir ins Gespräch zu kommen. Im Dunkeln durch eine alte dreckige Gießerei zu stapfen, - das ist doch Wahnsinn! Angeblich hatte Ulrich für jeden eine Taschenlampe und einen Schutzhelm besorgt. Trotzdem, an dem ganzen Unternehmen konnte ich weder Sehenswertes noch Lehrreiches entdecken, allenfalls das zweifelhafte Abenteuer einer Art von Geisterbahn-Grusel.

War’s eine spontane Idee gewesen, vielleicht aus einer Alkohol-Laune heraus? Nein, dagegen sprachen die Vorbereitungen: Zu erkunden, wie man auf die abgeriegelte Industriebrache gelangt, das Besorgen von Helmen und Taschenlampen. „Seid ihr nicht total eingesaut aus der Gießerei zurückgekehrt?“, fragte ich Maxe.

„Nee, da im Betriebsbüro lag noch alte Schutzkleidung herum, die wir ...“ Er stockte; denn Marion stand plötzlich vor ihm.

„Deine Freundin hockt drinnen an der Bar und besäuft sich.“ Ich erschrak, wie unsensibel, wie kalt und sachlich sie das sagte und dass sie es so laut sagte, dass es alle hören konnten. Was wollte sie? Weshalb war sie überhaupt hier? Das ganze Treffen interessierte sie offensichtlich nicht. Wir alle interessierten sie nicht. Sie hatte anscheinend ganz anderes im Sinn. Unverblümt fragte ich sie danach.

„Das wirst du früh genug erfahren.“ Schon wandte sie sich ab. Was war das denn? Es klang wie eine Drohung? Eine Drohung gegen mich?

Ich bestellte mir noch ein Bier, womit zugleich beschlossen war, dass ich mein Auto stehen lassen und mit dem Bus nach Hause fahren würde. Nie wieder zu einem Klassentreffen, schwor ich mir. Laut schluchzend kam Annegret zurück, mühsam gestützt von Maxe, der eine drohende Handbewegung zu Marion machte und etwas wie „Unverschämtheit“ rief. Auch Andreas bemühte sich sogleich um Annegret; sein alter Groll gegen Marion kam wieder hoch.

Ich schaute hilflos in die Runde. Frank versuchte, wieder ein Gespräch in Gang zu bringen. Juliane blickte irritiert von einem zum anderen. Dieter im Rollstuhl hatte einen krebsroten Kopf, auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen. Oliver versuchte, Claudia zum Aufbrechen zu überreden, während Britta bierselig zu faseln begann von Spaß, Spielchen und Sex wie damals. Ulrich wurde ärgerlich; er und Daniel versuchten vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen. Was brodelte da im Untergrund?

Marion saß wieder am Ende des Tisches. Der Vollmond spiegelte sich glitzernd in ihren Augen. Eine Katze auf der Lauer ...

Plötzlich erhob sie sich, ging einmal um uns alle herum und warf dabei einige ihrer Visitenkarten auf den Tisch.

„Vor einer Woche wurde mit dem Abriss der Gießereianlagen begonnen”, sagte sie währenddessen. „Dort werden mal Wohnungen gebaut. Beim Zerlegen des Altsandbunkers wurde ein männliches Skelett gefunden, bekleidet mit einem Plastik-Schutzanzug. Daneben lagen die rostigen Reste einer Taschenlampe.“

Ich nahm eine der Visitenkarten und las: Marion Zelenka, Leitende Hauptkommissarin K21, Kriminalpolizei Duisburg. Und während ich überrascht aufsah, fuhr sie mit schneidend scharfer Stimme fort: „Wir sehen uns wieder. Aber eines verspreche ich euch: Wenn ihr mir im Präsidium die gleichen Märchen erzählt, die ihr damals meinen Kollegen aufgetischt habt, dann - gnade - euch - Gott!“ Nun wandte sie sich direkt an mich. „Fährst du mit mir?“

Ich nickte, denn ich wollte hier so schnell wie möglich weg. Also klopfte ich kurz auf die Tischplatte und folgte ihr. Als ich neben ihr im Auto saß, holte sie tief Luft und meinte betrübt: „Ich hab’ so eine Ahnung, dass ich erst am Anfang einer verdammt unangenehmen Aufklärung stehe. Zum Glück hast du damit nichts am Hut.“

„Kannst du den Fall nicht einfach abgeben? - Ich meine, weil du ...“

„Kann ich. Will ich aber nicht“, unterbrach sie mich patzig, und ich dachte nur: typisch Marion. -

Ich weiß, dass irgendwann gegen einige meiner ehemaligen Mitschüler polizeilich ermittelt wurde. Aber ich wollte von diesem unerfreulichen Thema nichts weiter hören; denn nichts verband mich mehr mit diesen Menschen. Schlimmer noch: ich wollte niemanden von denen wieder sehen.

Die einzige Ausnahme blieb Marion. Erst Jahre später erfuhr ich, welch dramatische Folgen diese unerfreuliche Geschichte für sie noch haben sollte.

Doch viel früher schon begann ich, über diese faszinierende Frau zu schreiben.

Zelenka - Trilogie Band 1

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