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Courage

Ein abgelegenes Dorf am Rande des Hunsrücks. Für Peter, von Beruf Industrieberater im Außendienst, hätte es keinerlei Reiz gehabt, wäre dort nicht ein ländlich-schmucker Gasthof mit einigen ruhigen, gemütlichen und preiswerten Zimmern gewesen. Und hätte es im Erdgeschoss nicht diese urige Weinstube gegeben, wo ein vorzüglicher Rheinhessen-Riesling ausgeschenkt wurde. Da es Peter häufiger in diese Gegend führte, war es kein Wunder, dass er gern hier übernachtete. Zwar kannte von den Dorfbewohnern, die sich abends gern in der Weinstube trafen, kaum einer seinen Namen, aber man kannte sein Gesicht, und begrüßte ihn daher wie einen alten Bekannten. Oft vertiefte man sich auch in Gespräche über Gott und alle Welt, mit jedem Viertel Wein pflegten dann Zunge und Wortwahl lockerer und unbekümmerter zu werden.

So war es auch an diesem Abend, als sich ein älterer Landwirt, der schon einigen Rebensaft intus hatte und den alle Josef riefen, an den Tisch zu Peter setzte, der höflichkeitshalber sogleich seine Tageszeitung beiseite legte. Langsam kamen beide über die beliebten Einsteigerthemen Wetter, Preise und Autoverkehr ins Gespräch und prosteten sich dabei fleißig zu. Am Nebentisch erhob sich ein schwarz gekleideter Herr mit weißem Kragen und verließ grüßend das Lokal.

„Unser Pastor Nottebohm”, flüsterte Josef geheimnisvoll und winkte Peter dichter zu sich heran. „Haben Sie sein brummiges Gesicht gesehen? - Dem nehmen sie jetzt seine liebsten Schäfchen aus dem Stall, wenn das stimmt, was da in der Zeitung steht.“

Peter hatte weder des Pfarrers Gesicht studiert, noch verstand er, um welche Schäfchen es hier gehen sollte. Josef bemerkte seine fragende Miene, winkte Peter noch näher zu sich heran und raunte ihm zu: „Der Papst will doch die Messdienerinnen abschaffen, - verstehen Sie?“

Peter hatte diese Nachricht zwar auch voller Unverständnis gelesen, sah aber darin für diesen Gemeindepfarrer keine Katastrophe; es sollte hier auf dem Lande doch genügend Jungen geben, die fürs Messdienern zu gewinnen wären.

Josef lehnte sich zurück und schaute sein Gegenüber mit hochgezogenen Augenbrauen verständnislos an. War dieser zugereiste Städter so schwer von Begriff?! – Ein gehöriger Schluck Wein, ein unterdrückter Rülpser, dann beugte er sich wieder zu Peter vor: „Man munkelt, also ich weiß nichts Genaues, aber man munkelt eben, dass der Pastor was mit den jungen Mädels ... Verstehen Sie jetzt?“

Peter setzte sich ruckartig aufrecht; solcher Dorfklatsch interessierte ihn nicht, so etwas ekelte ihn eher an. Abweisend blickte er zu Josef und verspürte wenig Lust, die Konversation mit ihm fortzusetzen.

„Kann man den Pfaffen doch nicht verdenken”, rief der stark angetrunkene Josef aus, so dass es alle im Saal hören konnten. „Holen sie sich eben bei den naiven Dingern, was ihnen der Papst in Rom verbieten tut!“

Augenblicklich erhoben sich drei andere Gäste, traten an den Tisch, rissen Josef unsanft vom Stuhl und bugsierten ihn gewaltsam nach draußen.

„Halt dein versoffenes Maul, alter Quatschkopf!“, zischte einer von ihnen.

Peter verspürte keinerlei Lust, eventuell Zeuge einer Wirtshausschlägerei zu werden, zahlte seine Zeche und verzog sich auf sein Zimmer.

Am anderen Morgen gab es das übliche umfangreiche Frühstück und dazu den so herrlich duftenden Kaffee, den die Wirtsfrau persönlich aufbrühte. Gestärkt trat Peter nach draußen in die kühle Morgenluft. Ein wolkenloser Himmel versprach einen schönen Tag. – Als er am Ortsausgang angelangt war, wo ein alter Steinbrunnen stand, umrahmt von vielen Blumen, da erblickte er auf der Bank davor jenen Bauern Josef, - aber wie sah der aus?!

Peter stoppte seinen Wagen und eilte zu dem Mann hinüber, dessen Gesicht übersäht war von Blessuren und Beulen. Es ginge ihm gut, er sei gestern Abend auf der Straße nur gestolpert. Und er erkannte Peter nicht wieder, - oder wollte er ihn nicht erkennen? Angebotene Hilfe lehnte er ab.

Achselzuckend fuhr Peter weiter. Was ging’s ihn an? Sollten sie ihn mit diesem makabren Bauerntheater doch in Ruhe lassen! Was kümmerte ihn dieser weinselige Dorfklatsch?

Der Pfarrer und seine Messdienerinnen, - ach Quatsch! Oder vielleicht doch nicht? Und wenn schon, - sollten die das unter sich regeln! Aber ...

Einfach weghören, wegsehen, wenn da vielleicht Kinder missbraucht wurden? Fantasie eines Besoffenen, weiter nichts!

Aber warum warfen die drei Gestalten Josef so urplötzlich aus dem Lokal? Sicher kannten sie ihn und mussten befürchten, er werde zu randalieren beginnen! Aber warum hatten sie Josef so zugerichtet? Ach ja, er war angeblich nur gestolpert!

Kriegt man solche Blessuren vom Stolpern? Waren das nicht ziemlich eindeutig Spuren von Fausthieben? Solche Gedanken schossen Peter immer wieder durch den Kopf. Als er am Abend nach Hause kam, erzählte er seiner Frau Luise die Geschichte in allen Einzelheiten. Er musste das einfach los werden.

Luise brauchte eine ganze Weile zum Nachdenken, ehe sie Peter übers Haar strich und sagte: „Verbrechen dieser Art geschehen so oft, nur weil Menschen einfach wegsehen. Wir wissen nicht, ob an der Sache was dran ist, - aber immerhin könnte es sein. Ich finde, wir sollten es der Polizei melden.“

Peter grübelte weiter nach und gab zu bedenken: „Andererseits – wenn der Pfarrer unschuldig und die Sache nur dummes Dorfgeschwätz ist ... Wir könnten den Mann ruinieren, wenn wir ihm in dieser Situation die Polizei auf den Hals hetzen. Ist das zu verantworten?“

„Auch nicht”, meinte Luise, ging ans Fenster und sah gedankenverloren in den Garten. „Also, wir schweigen und reihen uns somit unter die Wegseher ein.“

„In ein paar Tagen kommt doch Marion aus dem Urlaub. Wir sollten sie um Rat fragen”, riet Peter. „Allerdings, es ist weder ihr Ressort noch ist der Hunsrück ihre Diözese. Sie kann den Verdacht nur an ihre Kollegen von der örtlichen Polizei weiterleiten, und das läuft beinahe aufs Gleiche hinaus, als würden wir selbst Meldung machen. Nein, wir brauchen einfach weitere Informationen. Wir müssen Genaueres wissen.“

Schweigend aßen sie zu Abend. Jeder hing seinen Gedanken nach, in ihrer Fantasie geisterten scheußliche Bilder misshandelter Kinder herum. Endlich hatte Luise eine Idee: „Übermorgen ist doch ein Feiertag, und das Wetter scheint schön zu werden. Machen wir doch einen Ausflug in dieses Kaff und horchen wir uns da mal um. Ich wollte immer schon mal dein Stamm-Hotel kennen lernen. Wir müssen dort ja nicht übernachten. Fahren wir früh los, sind wir am Abend wieder zu Hause. Und vielleicht sehen wir dann etwas klarer, was wir zu tun haben.“

Peter war sofort einverstanden, ja er war geradezu erleichtert im Gefühl, nun in dieser Angelegenheit etwas aktiv anzupacken. –

Es war später Vormittag am Fronleichnamstag, als sie das Dorf erreichten. Peter parkte vor dem kleinen Gasthaus. Zu Fuß schlenderten sie an geschmückten Häusern vorbei zur Kirche in der Ortmitte. Pastor Nottebohm las in dem gut gefüllten Gotteshaus gerade eine Heilige Messe. Luise schlängelte sich nach vorn, um festzustellen, dass hier tatsächlich auch weibliche Messdiener agierten. Da mehr hier im Augenblick nicht zu erkunden war, verließen sie die Kirche wieder.

Draußen schien die Sonne prall vom Himmel. Es wurde warm, und Peter lud Luise zu einem Eis ein. „Unten an der Straße ist ein italienischer Eissalon. Vielleicht können wir die Leute dort ein wenig aushorchen.“

Aus dem Eisschlecken wurde nichts. Zwar stand an dem Haus noch in dicken Lettern „Eissalon Locarno“ geschrieben, doch waren die Fenster verhangen. Ein kleines Schild verwies darauf, dass hier jetzt eine Ballettschule Einzug gehalten hatte.

„Eine Ballettschule? Hier in diesem Kaff?“, wunderte sich Luise und sah sich das Schild genauer an: „Nur für Kinder bis zu vierzehn Jahren.“ Die Pendeltür war offen, trotz des Feiertages. Peter ging mutig voran, kam in einen kleinen Flur mit einem Tresen, über dem das Schild „Anmeldung“ baumelte.

Ein breitschultriger Mann erhob sich und fragte unwirsch, was er für sie tun könne. „Ich wollte meine Tochter anmelden”, entfuhr es Luise spontan, worauf der Mann den Kopf schüttelte und brummte, da sei vor einem halben Jahr nichts zu machen. Ob sie denn mal den Übungssaal sehen dürfe. Nein, der werde gerade renoviert. Welche Qualifikation denn die Übungsleiter hätten. Das wisse er nicht. Ob sich hier auf dem Lande denn so eine Schule rentiere? Man sei zufrieden. Ob man mit irgendwelchen kulturellen oder kirchlichen Organisationen zusammenarbeite. Der Mann kam hinter dem Tresen hervor, hielt in drohender Haltung die Tür auf und machte dazu eine eindeutige Handbewegung.

„Toll”, sagte Peter, als sie wieder auf die Straße traten. „Ein Rauswurf erster Klasse. Komm, wir gehen zu meinem Gasthof zum Mittagessen. Mal sehen, was man uns dort über diese merkwürdige Ballettschule erzählen wird.“ -

„Heute kann ich Ihnen nur einen Linseneintopf anbieten”, bedauerte die freundliche Wirtin, „an solchen Feiertagen ist die Küche eigentlich geschlossen.“ Peter und Luise waren die einzigen Gäste. Sie hatten nichts gegen einen deftigen Eintopf und lobten später das Gericht überschwänglich, um mit der Wirtin ins Gespräch zu kommen, die sehr gern und sehr viel redete, aber zunehmend einsilbiger wurde, als die Sprache auf die Ballettschule kam. Die Schule gäbe es seit einem halben Jahr, und da werde wohl gutes Geld verdient; denn die Betreiber seien nette Leute und hätten schon oft Geld gespendet für die leere Gemeindekasse, für die Feuerwehr und für die Renovierung der Polizeistation.

Donnerwetter! Müssen die in der alten Eisdiele ein Geld verdienen! schoss es Luise durch den Kopf.

„Gingen auch Spenden an die Kirche?“, fragte Peter. Das Gesicht der Wirtin verhärtete sich, sie zuckte kurz mit den Schultern und wollte sich entfernen. Peter aber rief ihr nach: „Gehen viele von den Messdienerinnen auch zur Ballettschule?“

„Das geht mich nichts an”, lautete die unwirsche Antwort. „Die kommen sowieso meist aus den Nachbarorten.“ Und damit verschwand sie in die Küche.

Luise warf Peter einen vielsagenden Blick zu. In diesem Augenblick kam von draußen mit hochrotem Kopf der Wirt herein, steuerte direkt auf Peter und Luise zu, quälte sich einen Gruß heraus und sagte: „Übernachten können Sie hier nicht; es ist leider alles belegt. Und einige Zimmer werden gerade renoviert.“

„Hier wird wohl zur Zeit überall renoviert”, bemerkte Luise ironisch. „Wir hatten gar nicht vor, bei Ihnen zu übernachten. Sie sind so festlich angezogen, als kämen Sie gerade aus der Kirche. Oder war es die Ballettschule? Oder vielleicht beides?“ -

„Das war heute unser zweiter Rauswurf”, bemerkte Peter auf der Straße. „Und der Gasthof hat soeben einen Stammgast verloren. Gehen wir nun sofort zur Polizei?“

Luise schüttelte den Kopf. „Hier zur Polizeistation, die mit ominösen Spenden gerade renoviert wurde? – Nein, ich denke, wir berichten das alles Marion, damit es in die richtigen Kanäle geleitet wird.“

Eine Woche später.

Hauptkommissarin Zelenka knallte den Hörer auf die Gabel, schlug mit der flachen Hand wütend auf den Tisch und rief dabei aus: „Das stinkt zum Himmel!“

Aufgeschreckt fragte ihr Kollege Petzold fürsorglich, ob er ein Fenster öffnen solle. Sie schüttelte den Kopf und ließ sich einen Termin geben bei Kriminalrat Dr. Sowetzko; denn sie wollte es nicht hinnehmen, von der örtlichen Polizeistelle eines kleinen Ortes im südlichen Hunsrück erst unverschämt lange hingehalten zu werden und dann nur nichtssagende Larifari-Antworten zu erhalten. „Können die da unten auf eine klare Frage nicht eine klare Antwort geben?! Die scheinen kein Deutsch zu verstehen?!“, fluchte sie. „Aber die können gern von mir Nachhilfeunterricht bekommen!“

Das hingegen sah der Kriminalrat bei der Audienz am anderen Morgen völlig anders. Er stellte zunächst fest, dass man sich hier in Duisburg befinde und Duisburg nicht im Hunsrück liege. Nach dieser kleinen Nachhilfe in Geographie polterte er dann so richtig los: „Sind Sie bei der Mordkommission nicht ausgelastet?! – Was jagen Sie wilden Gerüchten nach?! – Warum geben Sie Informationen – wenn Sie denn welche haben – nicht einfach nur an die zuständigen Stellen weiter?! – Was ist das wieder für eine verdammte Eigenmächtigkeit von Ihnen?! – Und dann legen Sie sich auch noch mit der Kirche an! – Wo kämen wir hin, wenn wir jeder Art von Gerüchten auf dieser Welt nachjagen, auch wenn die Quelle Ihre besten Freunde sind?! Bald kümmern wir uns noch um gestohlene Fahrräder in Honolulu! – Schluss jetzt mit dem Thema!“

Marion ging enttäuscht zur Tür, doch Dr. Sowetzko rief sie mahnend zurück: „Frau Zelenka, schauen Sie mich an. Der nächste Soloritt in dieser Sache steht Ihnen ja schon deutlich im Gesicht geschrieben!“ Er schüttelte voller Unverständnis den Kopf. Nein, diese Frau war manchmal ein Albtraum! „Also los, machen Sie mir einen Bericht mit allen notwendigen Angaben. Ich spreche meinen Kollegen in Koblenz an.“

„Danke.“

„Raus!“

Hart aber herzlich war der Ton hier in Duisburg. Daran änderte sich auch in den nächsten Tagen nichts, als Marion bereits zufrieden den „Fall Hunsrück“ für sich zu den Akten legen konnte. Denn als sie Dr. Sowetzko auf dem Flur begegnete, röhrte der ihr schon von Weitem entgegen: „Ja – ja – ja! Sparen Sie sich Ihre Worte! Sie haben mal wieder Recht behalten. Und kümmern Sie sich jetzt bitte um unsere Duisburger Angelegenheiten!“ Doch als er an ihr vorbei ging, klopfte er ihr anerkennend auf die Schulter. „Mädchen, was würde aus dir werden, wärst du nicht zufällig mein bestes Pferd im Stall ...“ -

Am Abend trafen sich Marion und Arno mit Peter und Luise. Sie berichtete ihnen, was aus der Hunsrück-Geschichte geworden war. „Die Ballettschule verdiente ihr Geld mit dem heimlichem Ausleihen und dem Verkauf von Porno-Videos, darunter auch verbotene Kinder-Pornografie aus dem Ausland. Im Keller produzierte man eigene Videos, auch mit Kindern. Diese Pornos lieferte man, um nicht aufzufallen, als Tauschware ins Ausland. Tatsächlich hatte der Ortspfarrer Messdiener und Messdienerinnen an die Ballettschule vermittelt, offensichtlich aber im guten Glauben und in völliger Ahnungslosigkeit, was dort mit den Kindern geschah. Er mag ein guter Christ sein, ist aber reichlich naiv. Man wird ihn wohl in Kürze versetzen, - übrigens auf eigenen Wunsch.“

„Hat denn von den Eltern zu keiner Zeit irgendwer einen Verdacht geschöpft?“, warf Luise ungläubig ein.

„Frag’ mich was Leichteres! Ich kann’s mir – ehrlich gesagt – auch nicht vorstellen. Die Gegend dort ist nicht gerade auf Rosen gebettet. Wir vermuten, dass man mit Geld und Drohungen jeden zum Schweigen gebracht hat, der unangenehme Fragen stellte. Geld regiert nun mal die Welt. Und von dem bisschen Moral, das dennoch bleibt, stellt sich so manches als verdammt verlogene Sache heraus. Glaub’ mir, in meinem Job verliert man so ganz allmählich die letzten Illusionen. Umso wichtiger sind aufmerksame Leute wie ihr, die nicht wegsehen oder weghören, sondern Courage zeigen.“

Betroffen sahen sie eine Weile schweigend zu Boden, ehe Peter sich zu dem Vorschlag aufraffte: „ Ich lade euch ein, - ins Kino. Und hinterher gehen wir gemütlich etwas essen. Meine Güte! Es gibt auch noch schöne Dinge auf dieser Welt.“

Zelenka - Trilogie Band 1

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