Читать книгу Nachtspiele - Lara Stern - Страница 10
Fünf
ОглавлениеAm frühen Abend war Sina ein gutes Stück weiter. Tilly Malorny hatte sich ausnahmsweise an die strikte Anweisung gehalten, keinen Anrufer zu ihr durchzulassen. Der linke Stoß mit fertig bearbeiteten Akten wuchs, der rechte schmolz langsam, aber beständig. Allerdings quoll der Aschenbecher neben ihr beinahe über, und die Kaffeekanne auf dem Schreibtisch war schon zum zweitenmal leer. Sina öffnete das Fenster und ließ einen Schwall kühler Herbstluft ins Zimmer. Inzwischen war es dunkel geworden; unter ihr erstrahlte der Maximiliansplatz im Lichterglanz.
Ein paar tiefe Atemzüge, dann konnte sie wieder klar denken.
Nebenan hörte sie Hanne hüsteln, und einen verführerischen Moment lang spielte sie mit der Idee, sich wenigstens auf einen Campari zum Wochenausklang mit ihr zusammenzusetzen, um herauszukitzeln, was Hanne so verdrießlich machte. Aber dann blieb sie doch in ihrem Büro. Auch wenn die Sozia still vor sich hinlitt und – typisch für sie – nichts herausließ, eigentlich konnte der Grund ihres Mißmuts nur Bill Bergis sein, ihr unberechenbarer Geliebter, beziehungsweise eine seiner zahlreichen Marotten, die immer auf Kosten anderer gingen. Ein Dauerthema, an dem Sina sich schon mehr als einmal die Zunge böse verbrannt hatte. Und wer war sie außerdem, wie Hanne erst neulich so spitzzüngig bemerkt hatte, um angesichts ihrer unübersehbaren eigenen Schwierigkeiten auf diesem Gebiet andere darüber belehren zu wollen, wo es in Liebesdingen langzugehen hatte.
Zumal noch ein wichtiges Telefongespräch aussstand, das sie ohnehin schon die halbe Woche vor sich herschob. Rita Leuthaus, Leonie Schramm und Senta Mohn-Gleibert, die drei Megaron-Partnerinnen, hatten in der Kollwitzstraße, der Renommiergegend im Ostberliner Stadtteil Prenzlauerberg, einen Altbau mit rund zweitausend Quadratmetern Wohnraum aufgetan, den sie kaufen und anschließend renovieren wollten, um alle Abschreibungsvorteile beim Aufbau Ost mitzunehmen. Die Vereinbarung mit dem Makler stand, Investoren waren gefunden, die Umgebung schien reizvoll, das gesamte Projekt mehr als vielversprechend. Zunächst hatte die Verkäuferpartei – vertreten durch den Berliner Kollegen Lauritzen – auf möglichst raschen Abschluß gedrängt, und Sina war von den Architektinnen nur gebeten worden, den Kaufvertrag auf mögliche Untiefen hin abzuklopfen. Aber es schien nicht dabei zu bleiben. In letzter Zeit waren unvorhergesehene Schwierigkeiten aufgetaucht, über die sich Makler wie Verkäuferpartei auf Nachfrage allenfalls wolkig äußerten. Fakt jedenfalls war, daß die Verhandlungen mittlerweile zum Stillstand gekommen waren. Nichts rührte sich mehr. Aus diesem Grund hatte der Makler, überzeugend den Ratlosen mimend, auf Sinas Drängen hin schließlich die Nummer eines dritten Anwalts ins Spiel gebracht; er war – eine norddeutsche Spezialität und in Bayern ungebräuchlich – gleichzeitig auch noch Notar.
Dr. Laszlo Schreck, der, wie sie dem Telefonbuch entnommen hatte, als Einzelkämpfer eine Kanzlei in Kreuzberg betrieb, war trotz der vorgerückten Stunde zu ihrer Überraschung gleich selbst am Apparat. Es schien also auch in Berlin Kollegen zu geben, die wie sie ein gebrochenes Verhältnis zu geregelten Arbeitszeiten hatten.
Sina begann mit ihren Ausführungen.
Ungehalten schnaubte er in die Muschel. »Was heißt’n hier geeinigt?« unterbrach er sie schnodderig. »Kommt ganz darauf an, was tatsächlich gezahlt werden soll. Immerhin gehört ja das Haus, das Ihre Mandantinnen käuflich erwerben wollen, nicht der Verkäuferpartei, sondern rechtmäßig meinen Mandantinnen.«
Er vertrat Mrs. Rose Feitel aus Tel Aviv und ihre Schwester Rachel Meyer, die heute in Montevideo lebte, zwei inzwischen hochbetagte Nichten des ursprünglichen Besitzers Leo Lilienthal, dessen Anwesen im Dritten Reich unter den Zwangsverkauf jüdischen Eigentums gefallen war, perverserweise im Amtsdeutsch der damaligen Zeit als »Arisierung« bekannt.
»Und was bedeutet das im Klartext?«
»Det werd’ ich Ihnen gleich sajen!« Er berlinerte unüberhörbar und schien sich in der Rolle des bösen Buben ausnehmend gut zu gefallen. Die fand Sina schon im Bett nicht immer einfach; als Vertragspartner jedoch waren sie vollends unerträglich. »Was die alte BRD bereits in den fünfziger und sechziger Jahren erledigt hat, wird in der ehemaligen DDR jetzt peu à peu nachgeholt: die Rückgabe der von den Nazis konfiszierten Immobilien an die früheren Eigentümer beziehungsweise deren Erben. Und in meinem Fall werden die Restitutionsberechtigten, wie es offiziell so schön heißt, ordentlich bedacht, darauf können Sie Gift nehmen! Ohne ein anständiges Angebot plus rechtliche Absicherung durch die Eintragung einer Grundschuld keine Zustimmung, und ohne Zustimmung kein Vollzug des Kaufvertrags – so einfach ist das! Tja, die Zeiten haben sich zum Glück seit dem Niedergang des Sozialismus auch in Ostberlin gründlich geändert!«
»Liegt denn schon ein konkretes Angebot auf dem Tisch?«
»Ein für uns annehmbares auf jeden Fall nicht, det steht fest! Die Verkäuferseite hat sich bislang – gelinde ausgedrückt – als extrem stur erwiesen. Wird ihr aber nicht viel nützen. Meine Mandantinnen haben fünfzig Jahre auf das gewartet, was ihnen zusteht, da machen ein paar Monate hin oder her das Kraut auch nicht mehr fett. Ganz im Gegensatz zur Gegenseite. Schätze, die ahnt noch gar nicht, was da auf sie zukommt, denn das ist erst der Anfang. Zudem hat nämlich auch noch die JCC ihre Hand drauf. Wie auf rund anderen 64500 ostdeutsche Immobilien, auf die sie ebenfalls Ansprüche erhebt. Vom unserem bundesdeutschen Amt für offene Vermögensfragen ganz zu schweigen – und das kann dauern! So rasch und pflegeleicht jedenfalls, wie Sie und Ihre Mandantschaft sich das vermutlich vorgestellt haben, läuft die Abwicklung mal auf keinen Fall, det kann ich Ihnen schon mal jetzt mit Brief und Siegel versprechen.«
Männliche Schnösel wie er rangierten eindeutig ganz oben auf ihrer persönlichen Minusliste. Außerdem haßte sie es, wenn Mandanten wichtige Angaben zurückhielten und sie demzufolge fehlerhaft oder unzureichend informiert war. Das waren nämlich immer die, die selbstredend optimale Ergebnisse erwarteten.
Natürlich wußte Sina von der Existenz der Conference on Jewish Material Claims against Germany, abgekürzt JCC, Sie hatte verschiedentlich darüber gelesen, daß es beim Millionenspiel um die Rückerstattung Streit ohne Ende gab: Bisherige Erben wollten nach Jahrzehnten ihre Häuser nicht räumen, selbst jüdische haderten mitunter mit der mächtigen Claims Conference, Aber beruflich hatte sie bislang noch nie mit dieser internationalen Organisation zu tun gehabt, deren deutscher Sitz in Frankfurt war.
»Also, wir hören dann von Ihnen!« Schreck schien nicht bereit, irgendwelche Details über das weitere Prozedere loszulassen. »Sprechen Sie mit den Verkäufern und Ihren Mandantinnen! Bringen Sie beide Parteien zur Vernunft, wenn Sie wollen, daß es vorangeht, und lassen Sie sich einen passablen Vorschlag einfallen. Dann finden wir vielleicht doch noch zusammen, anspruchsvoll, aber durchaus gesprächsbereit, wie wir nun mal sind.« Er war im Lauf der Unterhaltung immer mehr in Fahrt gekommen und wirkte ausgesprochen gutgelaunt, als er auflegte.
Sina dagegen hängte frostig ein, sauer über ihn, vor allem jedoch über sich selbst. Sich von einem Kollegen wie eine dumme Gans abkanzeln zu lassen – darauf konnte sie bestens verzichten! Wieso nur war ihr nicht im richtigen Moment die passende Retourkutsche eingefallen?
Manchmal war es ganz schön kräftezehrend, immer die Coole zu spielen, die auf alles eine Antwort wußte. An Abenden wie heute spürte sie die immense innere Anspannung, die sie sonst im Job erfolgreich verdrängte, und die damit verbundenen seelischen Verschleißerscheinungen überdeutlich. War das vielleicht ihre Zukunft? Nach außen immer rauher zu werden, um den inneren, verletzlichen Kern halbwegs zu schützen? Keine besonders erfreuliche Vorstellung! Angewidert trank sie den letzten Schluck kalten Kaffee.
Es gab genug aktuelle Probleme, die zunächst gelöst werden mußten. An wen beispielsweise konnte sie sich wenden, um möglichst schnell herauszubekommen, was sie über das Prozedere wissen mußte?
Vielleicht konnte ihr Louis Levin weiterhelfen, fiel ihr schließlich ein, ihr langjähriger Freund und Kollege, der zwar ein Strafrechtsas war, aber immerhin aus einer weitverzweigten jüdischen Familie stammte und deshalb womöglich mehr Zugang zur praktischen Abwicklung solcher Vorgänge hatte. Dazu hatte sie mindestens das ganze Wochenende Zeit. Diesen arroganten Schreck jedenfalls würde sie erst wieder anrufen, wenn sie ihre juristischen Hausaufgaben in Sachen Kaufvertragsabwicklung Berlin-Ost gründlich erledigt hatte.
Jetzt schaute sie doch mal schnell zu Hanne rüber, um sich ein bißchen emotional bei ihr abzureagieren. Aber die war inzwischen sang- und klanglos nach Hause gegangen, wie der Rest der Belegschaft schon längst zuvor.
Auch gut, dachte Sina grimmig, sollten sie ihr alle nur demonstrieren, wer hier der Workaholic vom Dienst war! Immer noch verärgert trödelte sie eine ganze Weile mit Schreibtischsäubern, Tassenstapeln, Blumengießen und anderen mehr oder minder sinnvollen Aufräumarbeiten in der leeren, auf einmal fast unheimlich stillen Kanzlei herum, die theoretisch natürlich ebensogut die Putzfrau am Wochenende erledigen konnte. Inzwischen hatte sie jedoch längst gelernt, daß diese auf den ersten Blick scheinbar nutzlosen Rituale zum Abschalten dringend notwendig waren. Nur heute funktionierten sie leider nicht. Ihre innere Zerrissenheit hielt sich hartnäckig.
Unschlüssig kehrte sie schließlich in ihr Büro zurück.
Doch noch eine weitere Aktenrunde?
Sie saß schon wieder halb, da fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, daß in knapp zwanzig Minuten Carlo mit seiner berühmten Florentiner Lasagne, wie stets erlesenem Rotwein und einer, wie er zumindest behauptet hatte, brandheißen Auswahl neuer amerikanischer Krimivideos bei ihr vorbeikommen wollte. Der Termin war schon seit mehr als einer Woche ausgemacht, eine Absage in letzter Minute unmöglich. Sie mußte sich im Gegenteil sputen, wollte sie noch vor ihm da sein. Ihr sonst so toleranter Freund konnte ausgesprochen nachtragend sein, wenn man seine aufwendigen Liebesdienste nicht entsprechend zu würdigen wußte.
An Taifuns vorwurfsvolle Seitenblicke gar nicht zu denken, der sich mit gezielter Seidenkissenvernichtung zu revanchieren pflegte, wenn sie ein paar Abende zu viel hintereinander nicht zu Hause war. Jetzt mußte sie doch grinsen. Kein Mann hatte sie jemals auch nur annähernd so im Griff gehabt wie er. Unter Garantie gab es kein einziges Lebewesen auf diesem Planeten, das sich beleidigter aufführen konnte, als ihr geliebter, rotzfrecher, hoffnungslos verwöhnter schwarzer Kater.