Читать книгу Nachtspiele - Lara Stern - Страница 9
Vier
ОглавлениеBlanche hatte ihre geheimnisvollen Ankündigungen tatsächlich wahr gemacht und war bis jetzt nicht zur Arbeit erschienen. Instinktiv wußte Rosalie, daß ihre Partnerin nicht mehr kommen würde. Heute abend nicht. Und wenn alles nach Plan lief, mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht mehr. Behutsam rückte sie die Aschenbecher auf dem spiegelblank polierten Tresen zurecht, jeden halben Meter mindestens einen, wie die interne Vorschrift lautete, beseitigte einen imaginären Schmutzfleck durch Hauchen und Reiben und unterdrückte gerade noch rechtzeitig ein Gähnen.
Null Bock, sich von diesem Sascha wieder zur Sau machen zu lassen!
»Du wach, ja?« brüllte er jedes Mädchen an, das ihm unliebsam auffiel, mit seiner blechernen, unsympathischen Stimme. »Du ruhen zu Hause – nicht hier! Sonst kein Geld, verstehen? Fliegst raus auf Stelle!« Der baumlange Kerl, der sie immer so komisch ansah, hatte seine Augen überall. Nichts entging ihm, kein Fehler, kein Versehen, nicht einmal die kleinste Unaufmerksamkeit. Niemand wußte, ob er tatsächlich Russe war, wie manche behaupteten; über seinen Jähzorn aber und die Treffsicherheit seiner Linken gingen die wildesten Gerüchte um. Probleme im Club ging er direkt an, egal, welcher Art. Ganz offenbar arbeitete er hier nicht nur als Barmann und Rausschmeißer, sondern war als eine Art Faktotum dem schweigsamen Boß Oleg in vielerlei Hinsicht unentbehrlich.
Sie hatte schlecht geschlafen, seit Tagen schon, fühlte sich müde und ausgelaugt. Dabei hatte die Schicht gerade erst begonnen, und lange, anstrengende Stunden lagen noch vor ihr. Freitag abend, kurz vor einundzwanzig Uhr, war der Laden noch beinahe leer. Nur an einem der hinteren Tischchen vor der Spiegelwand saßen zwei Männer, tranken Cognac, rauchten und schienen trotz erheblicher Bemühungen von Yvette und Nicole kein großes Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft zu haben. Binnen kurzem würde es hier anders aussehen. Der lokale Wetterbericht Berlin-Brandenburg hatte Wind, Nieselregen und für die Jahreszeit zu niedrige Temperaturen vorausgesagt. Was erfahrungsgemäß spätestens um Mitternacht ein rappelvolles Haus bedeutete.
Langsam ging sie nach hinten, in den Ruheraum, wo ein paar der Mädchen noch mit ihrem Make-up beschäftigt waren. Das Erfolgsrezept des Clubs beruhte auf eingespielten Duos, zwei möglichst unterschiedlichen Frauen, die auf Wunsch auch gemeinsam einen Kunden betreuten und ihm damit die Erfüllung seiner geheimsten Phantasien garantierten. Deshalb hatte der Boß als Ergänzung zu Juliette, einer künstlichen Wasserstoffblondine aus Armenien, die als silbrige Schlangenfrau auftrat, eine neue Stripperin engagiert. Die junge, gertenschlanke Mulattin, die angeblich aus Tobago stammte, tupfte sich gerade konzentriert Goldpuder auf die Lider. Rosalie hatte schon ein paar Sätze mit ihr gewechselt. Talent schien sie zu besitzen, wie ihre Tanzprobe vorhin gezeigt hatte, und einen makellosen Körper dazu. Der winzige Bikini, den sie unter einer offenen Baumwollbluse trug, über und über mit goldenen Pailletten besetzt, verhüllte kaum die Scham und preßte ihre vollen Brüste provozierend zusammen.
Allerdings stammte die Kleine nicht aus den Tropen, sondern aus Dessau, war die Tochter eines nigerianischen Ingenieurs, der sich längst wieder in seine Heimat abgeseilt hatte, und einer sächsischen Mutter. Sie hieß ebensowenig Desirée wie sie Rosalie. Alles nur Schein. Wie der ganze Club. Oder die frivole Ausgelassenheit, der raffinierte Sex, der hier sündhaft teuer verkauft wurde. Hurenbiographien – wen interessierte das schon?
Rosalie war sich nicht einmal sicher, ob sich die Kunden für Details wie diese affigen französischen Namen, die alle hier bei ihrem Eintritt verpaßt bekamen, überhaupt interessierten. Irgendwann hatten sie spaßeshalber damit begonnen, sich auch untereinander damit anzureden, wenn keine Freier da waren. Besonders Blanche hatte ihre Freude daran gehabt, weil sie sich ärgerte, daß man ihr zu Hause in Polen über dem Taufbecken einen so stockkatholischen Namen verpaßt hatte.
Vor ein paar Monaten allerdings waren es noch russische Namen gewesen; da hatte sich das Etablissement noch nicht »Chez Mimi«, sondern »Club Natascha« genannt. Aber seitdem sich die Berichte und Artikel über kriminelle Aktivitäten der Russenmafia in Berliner und anderen deutschen Zeitungen häuften, war man zum Bewährten zurückgekehrt. Paßte auch besser zu diesem vornehmen Villenviertel im Südwesten der Hauptstadt, wo man um keinen Preis zu sehr auffallen durfte, wollte man den exquisiten Standort auf Dauer halten.
Dennoch waren die meisten Mädchen nach wie vor Russinnen oder Polinnen wie ihre Freundin Blanche; andere kamen aus Tschechien, Ungarn oder Lettland wie Rosalie selbst. Der Osten war auf einmal nah, und der Vorrat an willigem Frischfleisch schien unerschöpflich. Oleg hatte mehr als einmal beste Kontakte durchblicken lassen, die den reibungslosen Nachschub garantierten. Wurde ein Mädchen zu gegebener Zeit ausgetauscht, rückte die nächste nach. Allerdings stellte der Boß hohe Ansprüche, nicht nur, was Aussehen, Aufmachung und Umgangsformen betraf. Auch Intelligenz war gefragt. Ein paar Abende Spezialtraining, darauf legte er Wert, dann wußten die Mädchen, wie der Laden lief; was verlangt, was gefordert, vor allem jedoch, was streng verboten war.
Beispielsweise, sich privat mit Kunden zu treffen.
Ob Blanche es wirklich so gut erraten hatte?
Ein Kerl mit seltsamen Vorlieben, hatte sie gesagt, ein bißchen wild, sehr eigen, aber eigentlich ganz lieb. Klang nicht besonders beruhigend. Sie wußten beide ganz genau, was Blanche damit meinte. Und wie gefährlich das sein konnte. Eine Art Dauerjob, du verstehst? Zwei Monate, vielleicht drei, mal sehen, wie es läuft, dann hab’ ich zusammen, was ich brauche. Dann kann ich endlich das machen, was ich mir schon immer gewünscht habe!
Mit Kost und Logis?
Niemand konnte so lachen wie Blanche!
Ja, könnte man beinahe sagen. Weißt du, soviel Glück hat man einfach nur einmal im Leben. Ich bekomme eine Menge Geld.
Und muß keinen Pfennig an jemanden abgeben.
Einmal?
Wieder dieses ansteckende Lachen, das einzige, was dunkel an Blanche war. Ein Mädchen wie aus Milch und Honig. Helle Haare, helle Haut, ein sonniges Gemüt. Sogar ihre Wimpern waren wie feine Goldfäden.
Pro Monat natürlich, du Schäfchen! Und für alle Sonderleistungen gibt es extra! Das ist fest vereinbart.
Hast du keine Angst?
Angst? Ich habe niemals Angst!
Das war nicht einmal die halbe Wahrheit, und beide wußten es. Eine kurze Pause entstand. Es fiel Rosalie schwer zu fragen, aber nach einigem Zögern tat sie es doch. Zweimal schon war sie dabeigewesen, als es Blanche so richtig gepackt hatte. Das Keuchen, das Röcheln, vor allem die Augen, die ganz und gar nicht mehr strahlend, sondern auf einmal eng und ängstlich dreinschauten.
Und wenn es dir nicht gutgeht? Wenn du einen Anfall bekommst? Das passiert doch immer mal wieder! Was willst du dann machen …
Blanche hatte sie ungeduldig unterbrochen, fast so überdreht, wie sie manchmal war, wenn sie versehentlich zuviel von ihrem Spray erwischt hatte.
Glaubst du, ich hätte mein Aerosol nicht immer dabei, egal, wo ich gerade bin? Na, also! Kann doch gar nichts schiefgehen!
Rosalie hatte sich vor einen der Spiegeltische gesetzt. Mit ihren rostroten Locken, dem frischen, sommersprossigen Gesicht und den braunen Augen sah sie wie ein Mädchen vom Land aus. Die Naive eben, ein Typ, der besonders nicht mehr ganz junge Männer unwiderstehlich anzog.
Klingt ja beinahe wie das Märchen vom Weihnachtsmann!
Aber sie war alles andere als naiv und wußte, ein paar Jahre älter als Blanche, ein ganzes Stück mehr vom Leben.
Warum soll ausgerechnet mein Märchen nicht wahr werden? Kannst du mir das mal verraten?
Das weiße, beinahe durchsichtige Minikleid und die ebenfalls weißen Schaftstiefel bildeten dazu eine aufregende Irritation. Alles makellos, kein Fleck, nicht eine Falte, die dort aufgesprungen wäre, wo sie nicht hingehörte.
Weil sich in unserem Job Weihnachtsmänner meistens sehr schnell als Knecht Ruprechts entpuppen. Mit der Rute. Den Ketten. Und dem großen Sack. Was machst du, wenn der Kerl durchdreht?
Wird er schon nicht!
Jetzt hatte Blanche nicht mehr gelacht. Und beinahe so bedrückt dreingeschaut, wie sie es immer tat, wenn sie von zu Hause erzählte. Der armen, schmuddeligen Stadt, in die sie niemals mehr zurück wollte. Dem kleinen, inzwischen baufälligen Haus, das ihr Vater mit eigenen Händen gebaut hatte. Von Mama und Tante. Und ihrem jähzornigen großen Bruder, der sie fast so eifersüchtig bewachte wie ein Liebhaber.
Halt den Mund! Ich will nichts mehr davon hören! Wenn Blanche zürnte, wirkte sie alles andere als nett und lieblich.
Aber ich will ja nur nicht, daß du …
Neidisch, ja? Meinst du vielleicht, ich laß mir von einer wie dir alles verderben?
Diese Sorgfalt war Oleg seiner Klientel schuldig, wie er zu sagen pflegte, keine Proleten, wie sie in den Puffs rund um Ku’damm und Lietzenburger Straße zu finden waren, keine Möchtegerns, die dicke Scheine im »Scotch Club« oder »Bel ami« im Hagenschlößchen ließen, sondern gediegenes Publikum, solvent, diskret und äußerst anspruchsvoll. Stammgäste die meisten, die die Clubadresse ausschließlich an Bekannte und Geschäftsfreunde weitergaben: Noblesse oblige.
Sie brachte es inzwischen nicht mehr fertig zu lächeln, wenn Olegs ständig zitierter Lieblingssatz fiel. Dabei hatte sie es in diesem Laden wirklich nicht schlecht getroffen. Keines der Mädchen, die es bis hierher geschafft hatten, dachte daran, einen Spitzenjob wie diesen so schnell wieder aufzugeben.
Bis auf Blanche. Die hatte mehr gewollt. Vom ersten Tag an.
Ihre hellen, unruhigen Augen, nicht blau, nicht grün, nicht grau, sondern von einem seltsamen Nixenton, die weiße Haut, die Goldhaare – sie hätte spielend der Star im »Chez Mimi« werden können, um den sich alle Kunden rissen. Sinnlich, kokett, schamlos. Aber ihr war der Club nicht genug, nichts als eine lästige Übergangsstation. Sie wollte an schnelleres, dickeres Geld, um sich endlich ihren Traum zu erfüllen.
»Wo ist andere? Deine Freundin, die Polin?«
Keines der Mädchen mochte es, wenn Sascha in den Ruheraum kam. Aber natürlich hielt jede den Mund. Zumal, wenn er ausgesprochen schlechter Laune war wie beispielsweise jetzt.
»Weiß nicht.« Rosalie zuckte die Achseln und versuchte, so gleichmütig wie möglich dreinzuschauen.
»Hat telefoniert?«
»Mich hat sie nicht angerufen. Sie vielleicht? Oder den Boß?«
»Gibt großes Ärger, du kannst sagen ihr. Einmal noch, dann Schluß. Endgültig!«
Sie wich seiner feuchten Aussprache aus. Wieder einmal war er ihr wie zufällig zu nahe gekommen. Sie wußte, daß er seit Wochen hinter ihr her war. Und tat, als würde sie nichts bemerken. Wieso ließ er sich nicht wenigstens das schadhafte Gebiß richten, das seinen Atem so streng machte?
Er plusterte sich vor ihr auf, versuchte mit allen Mitteln, sich wichtig zu machen. Es gab neue Mädchen en gros, das wußte er so gut wie Rosalie, aber nicht viele, die so sexy wie Blanche waren und bei den Kunden so gut ankamen. Deshalb würde er so schnell nicht aufgeben. Und der Boß erst recht nicht.
»Ist doch total früh, Sascha, noch nix los vorn im Laden!« Das kam von Nathalie, links von ihr, einer zierlichen Brünetten aus Prag, die Vor Jahren nach Berlin gekommen war und schon eine ganze Weile hier arbeitete, aber noch immer nicht gelernt hatte, rechtzeitig die Klappe zu halten. »Bei dem Wetter kommen die immer erst später. Und Blanche auch. Die taucht wieder auf, wenn’s erst voller ist, wirst schon sehen! Bestimmt nur ein dummer Zufall, nichts weiter!«
»Glaube nicht an Zufall.« Wenn Sascha die Muskeln anspannte, sah er noch gefährlicher aus. Das dunkelblaue taillierte Sakko war im Schulterbereich viel zu knapp – wie fast alles, was er trug. »Prinzipiell nicht.«
Trotzdem gab es etwas in seinem Tonfall, was Rosalie stutzig werden ließ. Wieso konnte er sich so sicher sein? Ahnte er doch etwas? Und wenn ja, wer hatte es ihm gesteckt?
Es gab nur einen Weg, das herauszubekommen. Und der Preis dafür war hoch. Aber wenn es unbedingt sein mußte, war sie bereit, ihn zu bezahlen.
Sascha warf einen letzten, wütenden Blick auf Rosalie, die angestrengt weiter in den Spiegel starrte, und ging endlich hinaus.
Sie hatte sehr wohl eine Ahnung, wo Blanche steckte. Aber sie konnte schweigen.
Und sie würde schweigen.
Allerdings mußte sie sich taktisch klug verhalten. Denn die Freiheit hier im Club hatte enge Grenzen. Immerhin gab es noch den Keller, unten im Haus. Früher für Russenhühner, die nicht auf Anhieb gespurt hatten, jetzt nur noch gelegentlich in Betrieb.
Rosalie fröstelte beim Gedanken an den muffigen, dunklen Raum hinter der Eisentür. Wer da reinkam, wurde gemunkelt, war verratzt und verraten.