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Zwei

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Der Sommer war nur noch eine blasse Erinnerung, die letzten verschwenderisch warmen Tage endgültig vorüber. Biergärten hatten zu, und nirgendwo waren die Gehsteige mehr von einladenden Tischchen und Stühlen blockiert. Selbst die weißen Zeltlinge, im Frühjahr allerorts wie Pilze aus dem Boden geschossen, waren winterfest eingemottet. Maroniverkäufer bauten ihre Stände in der Fußgängerzone auf; in den Gärten, Parks und Anlagen leuchteten bunte Baumkronen. Der Hauch herbstlicher Vergänglichkeit stand München gut, fast besser als sein protziges sommerliches Gepränge, das beinahe italienisch anmutete – aber eben doch nur beinahe.

Die Morgen begannen nun dunkel und feucht, und die Stadt erwachte fröstelnd. Im ersten Zwielicht waren nur wenige Autos unterwegs; noch gehörten die Grünstreifen Scharen frech tschilpender Spatzen. Anhaltendes Nieseln, das seit dem letzten Wochenende allen gründlich die Laune verdarb, hatte die Blätterhaufen am Straßenrand unansehnlich gemacht; die Fahrbahnen verschmierte ein fieser Belag aus Schmutz und Nässe, der viele ins Rutschen brachte.

Der schwerbeladene Kleinlastwagen, der von der Autobahn Nürnberg kam und sich vor der Tivolibrücke zum Linksabbiegen in Richtung Herkomerplatz anschickte, war eine Spur zu schnell. Ein ausländisches Modell, undefinierbar graugrün, das seine besten Tage schon eine ganze Weile hinter sich hatte. Mehr Rost als Lack. Polnisches Kennzeichen. Hinten ragte ein Satz Holztüren aus der provisorisch festgezurrten Plane hervor.

In der Kurve bremste der Fahrer ab. Die alten Stoßdämpfer ächzten. In diesem Augenblick schoß von gegenüber ein weißer Alfa über die Kreuzung, trotz roter Ampel in seiner Richtung. Er zog scharf nach links, wollte noch vor dem Lastwagen abbiegen und schlingerte.

Schwerfällig suchte der Lkw auszuweichen. Dennoch schrammte er den hinteren Kotflügel des Alfa.

Der Laster brach aus.

Kam ins Schleudern.

Knallte gegen ein halbhohes Geländer am Straßenrand. Kippte seitlich in den Graben.

Ein paar dumpfe Schläge, das Krachen von Holz. Splitterndes Glas. Ein dünner Schmerzensschrei.

Stille.

Nur kurz leuchteten die Bremslichter des Alfa auf, dann brauste er mit quietschenden Reifen in Richtung Innenstadt weiter.

Der grauhaarige Mann, der gerade aus dem frischrenovierten Eckhaus kam, warf den Schlüsselbund in seinen halbleeren Zeitungswagen und rannte kurzatmig los. Der Lkw lag auf der Fahrertür, und die Beifahrertür ließ sich, obwohl der Mann heftig zerrte, nicht öffnen. Sebastian Bauer, seit mehr als dreißig Jahren jeden Morgen mit rund zweihundert druckfrischen Exemplaren der »Süddeutschen Zeitung« unterwegs, keuchte und rang nach Luft. Er schwitzte dunkle Halbmonde unter den Achseln der zu engen Jacke und wünschte sich wieder einmal, alles wäre noch wie früher. Aber seit seinem Schlaganfall vor zwei Jahren waren schnelles Laufen, hastiges Treppensteigen und jede Art körperlicher Anstrengung reines Gift für ihn.

»Himmelherrgottsakra! Geh doch auf, du damisches Mistding, du!« Es klang, als hätte er Kieselsteine im Mund. »Ganz ruhig, keine Aufregung! Ich hab’ Sie sicher da gleich rausgeholt!«

Schließlich mußte er aufgeben. Sein Herz klopfte wie verrückt, seine Hände zitterten. Er machte ein paar tiefe Atemzüge und bückte sich abermals. Die Windschutzscheibe war zerbrochen und voller Blutspritzer. Unmöglich, drinnen etwas zu erkennen!

»Hören Sie mich?« Schwerfällig richtete er sich wieder auf. »Sind Sie verletzt? Um Gottes willen, sagen Sie etwas! Sie müssen mich doch hören!«

Alles blieb ruhig.

Bauer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er mußte dringend Hilfe holen. Aber konnte er den Unfallwagen überhaupt allein lassen? Er kannte das Revier wie seine Hosentasche. Eine Telefonzelle, nur ein paar Schritte entfernt, war seit längerem wegen Vandalismus geschlossen; die nächste stand erst am Eingang zum Englischen Garten.

Ein roter Porsche wurde langsamer und hielt schließlich neben ihm an.

»Was ist passiert?« rief ihm eine junge Frau zu, auffällig zurechtgemacht mit viel Rouge auf den Wangenknochen, falschen Wimpern und toupierter, weißblonder Mähne. Sie war die einzige, die sich um den umgestürzten Laster kümmerte. Kein anderer Fahrer hatte Anstalten gemacht, auch nur zu bremsen. »Sieht ja böse aus! Gibt es Verletzte?«

»Keine Ahnung, wie viele. Ich krieg’ nämlich die blöde Tür nicht auf. Und die da drinnen verbluten uns womöglich!«

»Ich alarmiere mit meinem Handy den Notarzt. Ist von hier aus ja nur ein Katzensprung zum Bogenhausener Krankenhaus.«

»Der weiße Alfa ist einfach abgehauen, dabei war er einwandfrei schuld, der Sauhund! Ich hab’s genau gesehen, wie er bei Rot rübergebrettert ist, ohne zu schauen. So eine feige Unfallflucht!«

»Haben Sie das Kennzeichen notiert?« fragte die Frau, nachdem sie telefoniert hatte, und stieg aus, ohne sich um den feinen Sprühregen zu kümmern. Ihr heller Swinger blähte sich im Wind und enthüllte einen knappen Tigermini. Sie trug keine Strümpfe, obwohl es empfindlich kühl war, dafür aber schenkelhohe Schaftstiefel aus schwarzem Lackleder. Mit ihren Highheels überragte sie den stämmigen Mann um gute fünfzehn Zentimeter.

Er starrte sie von oben bis unten an wie eine Erscheinung. Nicht schwierig zu erraten, was in seinem Kopf vor sich ging.

»Dann haben die Bullen ihn ziemlich schnell am Wickel«, fuhr sie fort. »Schätze, die sind ohnehin gleich hier.«

In der Ferne hörte man das Martinshorn.

»Na, wer sagt’s denn – dein Freund und Helfer!« Ihre Stimme klang rauh, wie von exzessivem Reden und zu vielen Zigaretten. Sie ignorierte sein Starren, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Manteltasche und zündete sich eine an.

»Sie auch?«

»Um Gottes willen, nein! Schon seit zwanzig Jahren nicht mehr!« Zumindest die Sprache schien er wiedergefunden zu haben. Er warf sich leicht in Positur. »Das Kennzeichen? Notiert nicht in der Hektik, aber natürlich gemerkt! M – ML 34 …« Er hielt inne, schlug sich gegen die Stirn. »Warten Sie, nur ein Momentchen! Gerade war es noch da.« Fassungsloses Kopfschütteln. »Eine Schnapszahl. Etwas, das man auf Anhieb behält. Aber jetzt ist alles wie weggeblasen! Das gibt’s doch nicht!«

»Fällt Ihnen schon wieder ein, keine Bange!«

Die Frau warf die Zigarette weg und öffnete ihre Wagentür. Als sie saß, rutschte der Rock noch weiter nach oben. Ihre Schenkel waren schlank und sanft gebräunt.

Sein Blick bekam erneut etwas Stieres.

Sie lächelte leicht. Auf einmal sah sie sehr müde aus.

»Ich mach’ mich jetzt lieber mal ganz schnell auf die Socken. Dann können Sie sich schlagartig besser konzentrieren. Wetten?«

Der Krankenwagen war schon auf der Tivolibrücke. Aus dem abgestellten Streifenwagen gegenüber stiegen zwei jüngere Beamte.

»Aber das geht doch nicht!« protestierte er matt. »Wollen Sie denn nicht wenigstens warten, bis die Polizei mit uns beiden gesprochen …«

»Will ich nicht«, sagte sie nachdrücklich, »schließlich sind Sie der Zeuge. Und ich hab’ ja nichts gesehen.« Sie ließ den Motor an und gab Gas. »Nicht ganz mein Fall, Sie verstehen?«

Nachtspiele

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