Читать книгу Tod eines Agenten - Lars Gelting - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеDer folgende Samstagmorgen ließ noch nichts von dem Potential erahnen, welches er im Laufe des Tages noch entfalten sollte. Das begann schon mit dem Wetter, das sich diesig verhangen zeigte, als die Frauen in der Frühe das Haus verließen.
Erik hatte versprochen, nach dem Frühstück ein wenig aufzuräumen. Ein leicht zu erfüllendes Versprechen. Lediglich der Windfang verlangte nach etwas mehr Zuwendung, da hier Schuhe und Stiefel abgestellt wurden und sich ein wenig Schmutz sammelte.
Danach widmete er sich seinem Smartphone und schaltete es wieder ein. Eine notwendige Aktion, wie sich sofort zeigte. Kaum eingeschaltet, warnte es ihn mit Dringlichkeit, dass ihm die Energie ausginge und meldete sich sogleich wieder ab. Ohne Zögern nutzte er Ulrikes Ladekabel, das gleich neben ihm noch in der Steckdose steckte, rief das Smartphone zurück ins Leben und checkte die eingegangenen Mitteilungen.
Es war nichts dabei, was seinen Adrenalinspiegel auch nur hätte beeinflussen können. Die Werkstatt in Arjäng ließ ihn wissen, dass sein BMW wie vereinbart am Montag abgeholt werden könne. Mehrere Verlagsnachrichten und Terminvorgaben zur laufenden und zu geplanten Reportagen. Sein Freund Sven, der IT-Könner in ihrer Clique, hatte seinen neuen iMac für das Netzwerk eingerichtet. Alles lief perfekt. Svens glänzenden Augen konnte er sich gut vorstellen. Enttäuscht wollte er sich abwenden, als neue Mitteilungen eintrafen. Kirsten sandte ihm ein Foto. Aufgenommen auf der Insel Madeira. Es schien ihr gut zu gehen. Löschen!
Und endlich Kai!
Keine Suchergebnisse zu „Dr. Werner Stocher“ aus der Zeit nach 1990. Auch aus der Zeit davor nur magere Ausbeute: Der Kerl war Stasi-Oberst in seiner Funktion als leitender Arzt der Psychiatrie. Merkwürdigerweise sind kaum weitere Angaben zu finden. Kann nur bedeuten, dass seine Schweinereien vergraben wurden. Jedenfalls ist der Kerl unter dem Namen „Stocher“ aktuell nicht existent.
Zu Ulrike Teisch: Gut gehende neurologische Praxis in Kiel. War bis 1989 übrigens Ärztin im Krankenhaus in Waldheim. Ab 1991 niedergelassene Ärztin in Kiel. Lebt mit einem Dr. Snelting zusammen. Das war’s.
Diese Anneke aber ist der Hammer. Die hat dir Nebelkerzen vor die Füße geworfen. Mitnichten handelt die mit Erotikspielzeug. Sie und ihr Mann sind Inhaber einer Sicherheitsfirma: „SE.Protect“ – vollkommen unerotisch. Das ist eine Riesen-firma, die im ganzen Land aktiv ist – auch für die Regierung. Ihr wird Rechtslastigkeit nachgesagt. Die Vita dieser Anneke ist übrigens nur geschlagener Schaum. Würde mich sehr wundern, wenn die nicht auch dem Land „der blühenden Landschaften“ entstammt. Annäherung also nur mit dem Elektroschocker – gibt’s vielleicht ja in Form von Erotikspielzeug.
Mit dem „Stocher-Ergebnis“ bin ich auch nicht zufrieden. Wenn du ein Foto von ihm gesehen hast, muss es ihn ja auch geben – unter anderem Namen vielleicht. Mal sehen.
Ich grüße dich. K.
Anneke! Konnte das sein? Diese reizvolle, smarte Frau? Handel mit Sexspielzeug, das mochte er sich bei Anneke gut und gerne vorstellen. Aber das jetzt. Wow! Die Munition im Handschuhfach erschien so in einem ganz anderen Licht.
Im gleichen Augenblick zog sich in seinem Bauch etwas zusammen:
Das wäre gut für dich!
Warum hatte Anneke das gesagt? Wäre es aus ihrer Sicht vielleicht schlecht für ihn, wenn sie wüsste, dass er an der Pizzeria war? Dass er das Geschehen als Zeuge hautnah miterlebt hatte?
Verdammt! Er rutschte immer tiefer in diesen ganzen Mist. Wo war er hier hingeraten? Er würde sich vorsehen. Bis Montag noch.
Im nächsten Augenblick drohte ihm der akute Herzstillstand: Eine Nachricht von Sture Bengtson!
Die Nachricht war vom 16.09.2016 – 13:38 Uhr.
„hau ab. komm nicht her.“
Er ließ das Smartphone los. Ließ es auf den Tisch fallen, als wäre es plötzlich elektrisch geladen.
Der arme Kerl hatte genau gewusst, was da auf ihn zukam. Der hatte ihm, quasi bevor die Kerle ihn in die Mangel nehmen konnten, noch eine Warnung gesandt. Etwa um diese Zeit war er schon auf dem Parkplatz gewesen.
Sture, es tut mir leid! Und es tut mir leid für dich.
Er riss das Ladekabel vom Gerät, schob das Smartphone in die Tasche. Alles war wieder da. Wie im Zeitraffer gestaucht geschah alles noch einmal, hatte er alles vor Augen: den dunklen Van, die rennende Frau mit Kind, das Dach, wie es mit ungeheurem Druck in die Luft flog, und diese Kerle, wie sie in den Van stiegen.
Er musste raus, sofort. Raus an die Luft. Sein Körper reagierte, ließ sich nicht beherrschen, bebte und zitterte. Irgendetwas musste er jetzt tun. Irgendetwas ganz anderes. Bevor die Frauen zurückkamen, musste er sich selbst und die Gedanken wieder in den Griff bekommen. Anneke! Die war ohnehin misstrauisch gewesen. Holz hacken! Läge jetzt Holzschnitt da draußen, er würde glatt eine Stunde lang Holz hacken.
Erik lief über die Wiese zum See hinüber. Folgte dort, ohne besonderes Ziel, einem schmalen, unbefestigten Fußweg am Ufer entlang. Als der Weg nach zehn Minuten vom See abbog und in den Wald führte, lief er einfach weiter. Lief den buckeligen, von unzähligen Wurzeln durchzogenen Weg eine lange Steigung hinauf und dann ein ganzes Stück durch den Wald, bis er an die Straße kam. Es gab nur diese eine Straße, die hier durch den Wald führte, und er glaubte zu wissen, wo er sich gerade befand. Die Straße führte von hier aus in einem langen Bogen zum Haus zurück. Er wandte sich um, lief den Weg durch den Wald zurück.
Als er die Wiese hinter dem Haus wieder erreichte, wurde er langsamer, stand endlich einen Augenblick vornübergebeugt und hungerte nach Luft.
Der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht, sein Hemd war durchgeschwitzt, seine Schuhe und seine Hose nicht mehr vorzeigbar, aber seine Gedanken flossen wieder in geordneten Bahnen. Er konnte wieder klar denken.
Er richtete sich auf, sah noch einmal über den glitzernden See hinweg zum anderen Ufer. Es war ein schöner Spätsommertag geworden, mit wenigen Wolken, einem schwachen Wind, der auf der Oberfläche des Sees nur hier und da das Wasser kräuselte, und es war warm.
Er wandte sich dem Haus zu, begann damit, sein durchgeschwitztes Hemd auszuziehen.
Die Angst war immer noch da, er fühlte das. Sie lauerte unter der Oberfläche, bereit, jederzeit über ihn herzufallen. Er musste hier fertig werden, Montag, und dann ganz schnell weg.
Seine Gedanken stockten, er blieb stehen, wenige Schritte vom Haus entfernt. Etwas stimmte nicht. Er scannte seine Umgebung, zog dabei das Hemd ganz aus.
Der große Range Rover. Ulrikes Range Rover stand vor dem Haus. Um diese Zeit am falschen Ort, es war gerade elf Uhr.
Anneke. Nach dem, was Kai herausgefunden hat, konnte er sich durchaus vorstellen, dass sie ihm noch einmal auf den Zahn fühlen wollte.
Er entschloss sich, die Hintertür zu benutzen.
Behutsam näherte er sich dem Haus, alle Antennen ausgefahren. Öffnete vorsichtig die Tür, horchte. Im Haus war es still. Vielleicht kein gutes Zeichen. Er ließ die Tür leise ins Schloss gleiten, stand angestrengt lauschend im halbdunkeln Flur. Wenn beide Frauen im Hause waren, dann würden sie miteinander reden. Es blieb still. Entweder war nur eine Frau im Haus: Anneke. Oder es war etwas geschehen und niemand war im Haus.
Er ging durch zur Wohnstube, schob die Tür auf. Niemand war im Raum.
Hinter ihm schob jemand einen Stuhl über den Boden.
Im Bad. Im Bad gab es einen schweren Holzhocker, der einem oft im Wege stand. Ulrike oder Anneke, eine von beiden war im Bad. Er würde es an der Kleidung oder an den Jagdstiefeln erkennen.
Draußen vor der Tür standen Ulrikes Stiefel, bis oben hin voller schwarzem Morast, von innen durchnässt. Ihre Jagdhose lag daneben, im gleichen Zustand, schwarz und vollgesogen.
Irgendwo war sie hineingerutscht oder hineingefallen. Er ging zurück, klopfte an die Tür zum Bad. Keine Antwort. Im Bad war niemand. Drei Minuten zuvor war Ulrike noch im Bad gewesen, ganz sicher. Sie musste ihn gehört haben. Er verstand das Spiel, sah den Flur hinunter. Die Tür zum Schlafraum der Frauen war nur angelehnt.
Er könnte jetzt wie ein Pudel durch den Reifen springen. Das lag ihm nicht. Außerdem klebte noch der Schweiß an seinem Körper. Er hatte sich inzwischen abgekühlt und fühlte sein Hemd kalt auf seiner Haut.
Für schwedische Verhältnisse war das Bad ziemlich groß und die Dusche mit einer zwei Meter langen Glas-Trennscheibe hell und modern. Es hing noch der Dampf vom Duschen in der Luft. Er schmunzelte.
Der warme Duschstrahl tat ihm gut. Einen langen Augenblick stand er ganz still, genoss das herablaufende warme Wasser.
Ulrike war schon eine Sünde wert. Sie war um einiges älter als er, aber eine begehrenswerte Frau mit der richtigen Genussreife. Dass sie diese fürchterliche Kehrseite, ihr Betonmischer-Wesen, wie ein Logo vor sich hertrug, musste eine Ursache haben. Eine Maske war das.
Er wusch die Seife vom Körper, stellte das Wasser ab, verließ die Dusche und stellte fest, dass sein Badehandtuch nicht auf dem Hocker lag, wo er es abgelegt hatte.
Sie stand im schmalen Türspalt, bekleidet nur mit einem weißen Slip.
Die Arme vor dem Körper verschränkt, das Badehandtuch locker darüber hängend, betrachtete sie ihn ungeniert.
„Ich denke, ich habe, was du brauchst.“
„Das hast du unbedingt.“ Er streckte den Arm nach dem Handtuch aus.
Sie schob die Tür mit dem Ellenbogen zu, ignorierte seine Hand und legte ihm das Handtuch über die Schulter. Als wäre er ein Kind, trocknete sie ihm behutsam die Schultern, den Rücken und überließ ihm das Handtuch für den Rest, während sie sich seitwärts von ihm auf den Hocker setzte. Lässig, die Beine übereinander geschlagen, saß sie leicht vorgebeugt da, ihr Kinn in der rechten Hand abgestützt, und sah ihm zu.
Sah ihm aufmerksam zu, wie er seine Haare rubbelte und sie dabei betrachtete, wie er sein Gesicht, seine Arme, seinen Oberkörper trockenrieb, während er sie nicht aus seinem Blick ließ. Sah zu, wie sein Blick einen Atemzug lang auf ihren Brüsten verweilte, endlich zu ihrem Gesicht fand, wie er das Handtuch zur Seite legte.
Nur einen Augenblick noch sah sie zu ihm hoch, offen, bereit. Dann stand sie auf, legte ihm den Arm um die Hüfte.
„Komm!“
Die nächsten Stunden verbrachten sie in ihrem Bett. Liebten sich zunächst mit einem Heißhunger, der dem eines Schmachtenden entsprach, der das erste Stück Brot, welches er in die Hände bekommt, zerreißt und verschlingt. Danach lag Ulrike in seinem Arm, ihr Kopf auf seiner Brust, ihre Finger spielten mit seinem krausen Brusthaar. Er fühlte sich wohlig gut, war rundum zufrieden – und doch irritiert.
„Du verunsicherst mich, weißt du das?“
„Nein. Glaube ich auch nicht. Tu ich das wirklich?“
„Von Montag bis gestern gibst du mir den grollenden Eisberg, und dann erlebe ich dich hier als himmlische Femme fatale. Wie soll ich das jetzt verstehen?“
Sie richtete sich etwas auf, stützte sich auf ihren Ellenbogen, zupfte mit ihren Lippen an seiner Brustwarze.
„Warum willst du das überhaupt verstehen? Musst du doch gar nicht.“
„Sag´s mir trotzdem.“
„Warum? Weil wir so wirklich guten Sex miteinander hatten?“ Sie hatte ihren Oberkörper aufgerichtet, sah ihn mit ärgerlich gefurchter Stirn an. „Vielleicht habe ich ja nur eine Schutzhaltung eingenommen. Ist das so wichtig? Was immer es war, es ist Vergangenheit. Vergiss es, ja?“
Sie schlang ihren Arm um seinen Körper, kam über ihn und begann eine sanfte Intensivbehandlung zur Wiederbelebung.
Erik war eingeschlummert. Lag auf dem Rücken, genoss das Schweben unter der Oberfläche und kam zurück, als ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Sie stand bereits sehr tief, und ihr warmes Licht strömte durch einen Spalt im Vorhangstoff ins Zimmer
Neben sich hörte er Ulrike ruhig und tief atmen. Sie schlief abgewandt auf der Seite, etwas eingeknickt, ihr Po nahe bei ihm.
Vorsichtig erhob er sich, verließ das Zimmer für einen Augenblick. Als er es ebenso leise wieder betrat, hielt es ihn an der Tür. Einen langen Augenblick genoss er das Bild, welches Ulrike ihm bot.
Zwischen zusammengeknautschten Decken lag sie ihm jetzt zugewandt. Lag im Bett halb auf der Seite, so als habe sie mitten in der Drehbewegung innegehalten. Das untere Bein hatte sie angewinkelt, ebenso den Arm, auf dem ihr Kopf lag. Um den Kopf herum verteilte sich wirr die blonde Haarpracht. Ein betörendes Bild, dessen Wirkung durch das schräg einfallende Sonnenlicht auf erregende Weise verstärkt wurde. Eine Vorlage für den „Liegenden weiblichen Akt“ von Lovis Corinth.
Behutsam zog er sein Smartphone aus der Hosentasche. Diese Bilder zumindest würden ihm gehören. Niemals würde er sie jemandem zeigen. Aber durch diese Frau hatte er eine neue, unbekannte erotische Dimension erreicht und genossen. Er wollte sich an sie erinnern können.
Er schlüpfte zurück ins Bett. Stellte sich schlafend, als Ulrike bald darauf wach wurde, das Zimmer kurz verließ und sich danach eng an ihn schmiegte. Unmöglich, diesem Körper zu widerstehen, dieses Geschenk nicht anzunehmen.
„Montag fährst du wieder?“ Ulrike wickelte einige Spaghetti auf ihre Gabel, sah kurz zu Erik herüber.
Der Hunger hatte sie in die Küche und an den Tisch getrieben, wo sie sich leicht einigten auf Spaghetti auf in Butter angebratenen Schinkenstreifen, Zwiebeln, Knoblauch und Kalamata-Oliven und ein Glas Rotwein.
„Vielleicht sollte sich die Werkstatt ruhig noch ein paar Tage Zeit lassen. Ich könnte das am Montag arrangieren.
Nein, geht nicht. Ich muss was tun, unbedingt. So schön wie es auch ist.“
Ulrike nickte leicht, wickelte ihre Nudeln auf, „Ja, es ist schön.“ Einen Augenblick sah sie ihn ruhig an, während sie auf ihren Nudeln herumkaute. „Dann haben wir ja noch den ganzen Sonntag.“
„Falls ich das durchhalte. Was ist eigentlich mit Anneke?
„Anneke bleibt das Wochenende über bei Ulf.“ Sie schob sich eine Gabel mit Nudeln in den Mund, sah ihn verschmitzt an. „Ulf organisiert hier die Elchjagd und ist so ein richtiger Urschwede. Den braucht Anneke einmal im Jahr, genauso wie die Elchjagd.“
„Und dieser Urschwede ist nicht verheiratet?“
„Doch, doch. Mit Astrid, einer sehr netten und gut aussehenden Schwedin. Astrid macht am Wochenende immer durchgehend Dienst im Krankenhaus. Praktisch für die beiden. Das machen die schon seit Jahren so.“
„Hm. Ehe auf Schwedisch halt. Besucht ihr euch häufig in Kiel oder Göteborg, Anneke und du?“
„Nein, eigentlich gar nicht. Wir treffen uns hier einmal im Jahr zur Elchjagd. Das ist immer eine sehr schöne Auszeit, aber mehr ist da nicht. Ihr Mann und mein Mann, mein Lebensgefährte, wie man so sagt, die beiden kennen sich von früher, und die treffen sich häufiger mal.“
Er nahm einen Schluck Rotwein, hielt das Glas in der Hand. „Ich denke, Anneke hat mich ganz schön an der Nase herumgeführt.“
Ulrike unterbrach abrupt ihr Nudelwickeln, „Was meinst du damit?“
„Nun ja, auf mich machte sie, insbesondere am ersten Abend, den Eindruck einer blitzgescheiten, liebenswürdigen, eher gefühlvollen Frau, die hier mit ihrer Freundin auf der Elchjagd ist, ihren Ehemann im Hinterkopf.“
„Blitzgescheit ist die. Ganz sicher. Aber ansonsten liegst du mit deiner Einschätzung total daneben. Anneke ist der Typ, den du mit fünf tasmanischen Teufeln gemeinsam in einen Käfig sperren kannst. Die ist knallhart bis skrupellos. Alles andere ist perfekte Tarnung.“ Sie nahm einen Schluck Wein, genoss ihn ausgiebig.
„Für ihren Mann ist Anneke zu allererst Geschäftspartnerin und Anteilseignerin der Firma. Was sie sonst noch bewegen mag, holen sich die beiden woanders. Und es scheint ihr Leben zu sein.“
„Und was ist dein Leben?“ Noch während er die Worte aussprach, spürte er, deutlich, dass er jetzt zu weit ging. „Entschuldige. Das war unüberlegt. Ich sollte das nicht fragen.“
„Genau.“ Sie nahm die letzte Gabel mit Nudeln, schob den Teller etwas von sich. „Aber du hast es gefragt.“
„Jaa, es tut mir leid. Nach dem Gespräch über Anneke ist mir das einfach so rausgerutscht. Du bist halt eine interessante Frau. Ich möchte einfach mehr über dich erfahren, wer du bist, wie du lebst. Das ist doch ganz normal.“
„Ich hoffe, ich habe mir jetzt keinen Stalker eingehandelt.“ Ulrike sah ihn unter den Augenbrauen hervor fragend an.
„Quatsch! Ich fahre am Montag, und das war´s dann wohl. Leider. Aber, wir müssen ja auch nicht darüber reden.“
„Bist du verheiratet oder in einer Beziehung?“
„Verheiratet nein. Die Beziehung ist vor vierzehn Tagen zerbrochen.“
Ulrike schob ihren Kopf weit über die Unterarme hinaus über den Tisch, sah Erik fragend an. „Und wann hast du das letzte Mal Sex gehabt?“
„Solltest du die Frage stellen?“
„Wenn wir jetzt schon mal dabei sind.“
„Denke dann bitte daran, dass du mir noch eine Antwort schuldig bist. Okay? Also, das letzte Mal war an einem verregneten Sonntagnachmittag. Das ist jetzt drei Wochen her.“
„Das habe ich mir gedacht. Das erklärt, warum du so ausgehungert, so aufgestaut warst.“
„Hm-hm, war ich das? Wundert mich, dass du das überhaupt gemerkt hast. Du bist abgegangen wie ein junges Fohlen. Für eine Frau deines Formats sehr ungewöhnlich.“ Erik schaute sie übertrieben fragend an.
Ulrike saß unverändert, sah ihn lange mit verengten Augen an, nachdenklich, überlegend.
„Meines Formats. Ich hätte wohl reservierter sein sollen. Mich vornehm zieren, bis du mich dann hoffentlich auf den Rücken geworfen hättest. Das meinst du doch, wenn du von Format sprichst.“ Sie lehnte sich auf den Stuhl zurück, ihre rechte Hand spielte auf dem Tisch mit der Serviette.
„Dass ich dich heute Morgen geradezu genötigt habe, war diesem besonderen Ort, der Gelegenheit und meinem Hunger geschuldet. Ich wusste nicht, dass ich das tun würde. Ich habe es nicht geplant, aber ich habe es getan.“
„Bitte? Was ist jetzt los? Du bekommst doch jetzt keinen Gewissenskasper, oder doch?“
„Du verstehst das nicht, Erik. Ich habe mich dir wie eine reife Frucht angeboten. Du brauchtest mich nur zu nehmen und zu genießen. So etwas habe ich noch nie getan und nur ganz selten gedacht. Es gehört nicht zu mir, aber es war richtig.
Du hast heute etwas in mir wachgerufen, von dem ich gar nicht wusste, dass es noch in mir schlummerte. Ich lebe noch und habe mich gefühlt, als wäre ich gerade erst dreißig. Du hast mir das Gefühl gegeben, dass alles möglich ist, dass ich mich absolut gehen lassen kann, dass ich mich vergessen kann. Ein Gefühl für die Ewigkeit und das war sehr schön.“
Sie sah ihn direkt und gerade heraus an, „Ich bin das letzte Mal von meinem Partner beschlafen worden am Samstag, den zweiten Juli. Wir haben das fünfzehnte Jahr unserer offiziellen Beziehung gefeiert. Am zweiten Juli.“
Erik sah sie einen Atemzug lang sprachlos an, schüttelte leise den Kopf.
„Was ist denn das für eine Beziehung? Entschuldige, aber dein Partner erscheint mir wie ein Clochard mit einer gefundenen Rolex am Arm. Ist das dein Leben?“
„Willst du jetzt wissen, ob ich glücklich bin? Was ist schon normal, was ist Glück? Ich hab´s vergessen und mich in meinem Leben eingerichtet.“
„Warst du vor deiner jetzigen Beziehung mal verheiratet? Wäre ja möglich.“
„Na hör mal, du stöberst in meinem Leben herum, Erik. Warum sollte ich dir sowas erzählen?“
„Ich weiß nicht. Tu es doch einfach. “
Sie beugte sich wieder weit über ihre Arme hinaus zu ihm vor, sah ihn mit lächelnd staunendem Gesicht an. „Was machst du junger Kerl mit mir?“
„Diese Unterscheidung passt überhaupt nicht, meine Liebe. Er schob ihr sein Gesicht ein wenig entgegen: Was kümmern mich die Jahre, wenn du mir deine Schönheit, deine Lust und Leidenschaft nur schenkst.“
„Wow. Du bist ja ein Multitalent, vollendeter Liebhaber, Frauenversteher und dann auch noch Poet. Das war sehr schön.“
Sie lehnte sich zurück, sah einen langen Augenblick auf ihre Hände, die auf dem Tisch ruhten. Dann, als würde sie sich einen Ruck geben, sah sie ihn direkt an, kühl.
„Ich war nie verheiratet, nie fest gebunden. Das, was mich jetzt bindet, habe ich mir selbst angelegt. Ich hätte gewarnt sein können.“
„Weil es angeblich anderen Frauen auch so geht und die Männer alle Verbrecher sind?“
Sie lacht. „Du Verbrecher weißt bald mehr über mich, als ich mir selbst jemals klargemacht habe. Nein. Weil ich mich habe blenden lassen. Ich war jung und fühlte mich ungeheuer gut, als der Herr Chefarzt sich ausgerechnet für mich Assistenzärztin interessierte. Ich habe mich dann ein wenig in ihn verliebt und wir hatte damals eine wirklich gute Zeit: Verbotene Liebe hinterm Zaun. Wie in einem kitschigen Arztroman.“ Sie stieß die Luft durch die Nase aus, „Und jetzt beenden wir die Graberei in unseren Beziehungstiefen. Du weiß schon mehr über mich, als guttut.“ Sie stand auf und brachte ihren Teller hinüber zur Spülmaschine.
„Du hast mir noch nicht gesagt, warum du hättest gewarnt sein können.“
„Das werde ich dir auch nicht sagen.“ Sie stand mit dem Rücken zu ihm, hatte das ganz spontan gesagt und wandte sich nun um.
„Erik, an dieser Stelle ist unbedingt Schluss. Wir haben nur noch einen gemeinsamen Tag. Ich möchte mich nur auf mich und auf dich konzentrieren, nur auf das, was zwischen uns passiert. Es ist kostbar. Lass die Schatten draußen.“
„Okay. Ich werde mal kurz hinüber gehen zum See, und wenn ich wieder zurück bin, könnten wir doch ins Theater oder ins Kino gehen. Was meinst du?“
„Sehr gute Idee. Hier draußen im Reservat gibt es das ultimative Angebot.“ Ulrike blickte an ihm herunter, tat irritiert. „Du solltest dir nur vorher noch etwas anziehen.“
Der BMW sah wieder aus wie neu. Er stand auf dem Hof der Werkstatt und blinzelte ihm frisch gewaschen entgegen, so als wäre nie etwas gewesen. Damit war das erlebte Abenteuer endgültig beendet – dachte Erik.
In den folgenden Tagen arbeitete er seine Termine ab, führte Gespräche mit Journalisten, mit Vertretern der wichtigsten Parteien und der Antifa-Bewegung. Am Freitagabend nahm er die Fähre von Göteborg nach Kiel.
Was ihm die ganze Zeit nicht aus dem Kopf ging, war die „Verbotene Liebe hinterm Zaun“. Waldheim!