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Kapitel 8
ОглавлениеKiel, Mittwoch, 28. September, 21.30 Uhr.
Es kam Wind auf, der kühl vom Meer hereinblies.
Dr. Robert Snelting, angesehener Neurologe und Psychiater, befand sich um diese Zeit im Lesezimmer seines Hauses, einem länglichen Raum mit Parkettfußboden, einem dicken Teppich und Bücherregalen aus Kirschholz an den Wänden. Im hinteren Bereich des Raumes, nahe bei den großen Fenstern, bildeten ein Lesesessel aus braunem Leder und ein kleiner Tisch eine einladende Leseinsel. Eine ebensolche Leseinsel befand sich im vorderen Teil des Raumes, in Reichweite einer modernen Audioanlage.
Robert Snelting nutzte diesen Raum eher selten. War er nicht in der Klinik, so folgte er gesellschaftlichen oder beruflichen Verpflichtungen außerhalb seines Hauses. Den größten Teil der etwa zweitausend Bücher, die sich in den Regalen befanden, hatte er sich beim Bezug dieses Hauses von einem Buchhändler liefern lassen. Allenfalls ein halbes Dutzend davon hatte er selbst gelesen. Dennoch hatte dieser Raum eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Er war so etwas wie eine Höhle, in die sich der Dreiundsechzigjährige einmal in der Woche, und zwar immer mittwochs, zurückzog. An diesen Abenden war er unerreichbar für jeden.
Auch diesen Mittwochabend genoss er alleine in seinem Ledersessel, mit einem guten Rotwein und anspruchsvoller Musik.
Wie immer, auch im Sommer, waren die Fenster abgedunkelt, auf einem massiven Messingständer brannte eine armdicke Kerze, und das „Kyrie“ aus dem Requiem von Mozart erfüllte jeden Winkel des Raumes.
Für ihn hatten diese Abende einen geradezu sakralen Charakter. In einer Welt, die er sich selbst geschaffen hatte, war er dann ganz bei sich. Eine Störung gestattete er niemandem.
Das „Kyrie“ war gerade verklungen, und Robert Snelting wartete mit geschlossenen Augen auf den furiosen Beginn des „Dies irae, dies illa“, als sich aus dem Dunkeln heraus etwas rasch über ihn senkte. Er spürte die Veränderung, fuhr hoch, wurde aber im gleichen Augenblick grob und unnachgiebig in seinen Sessel gepresst. Ein Gurt straffte sich unterhalb seines Brustbeins, zwang ihn an seinen Sessel, machte ihn wehrlos, und mit dem Beginn des „Dies irae“ schrie er sein Erschrecken, seine Angst heraus.
Ein Überfall! Er war alleine im Haus. Der Gedanke füllte seinen Kopf, verdrängte alles andere. Im nächsten Augenblick ruckte er wild in seinem Sessel herum, versuchte den Gurt zu lösen und spürte, wie dieser sich noch fester um seinen Körper straffte. Er war ausgeliefert.
„Was soll das? Verdammt nochmal, was soll das? Was wollen Sie?“
Er schrie sein Entsetzen heraus, wandte den Kopf panisch hin und her, versuchte den Eindringling zu erkennen. Vergeblich.
Seine Fragen blieben ohne Antwort. Verzweifelt ruckte und riss er an der Fessel, versuchte seine Arme unter dem Gurt hervorzuziehen, stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Ohne nennenswerten Erfolg. Die Arme wurden von den Seitenwangen des Sessels an seinen Körper gepresst, er konnte sie nur wenig drehen und nach oben ziehen.
Seine Gedanken schoben sich im Kopf übereinander, hastig, fieberhaft, während er weiterhin seine Arme drehte. Es war mal Teil seines Berufes gewesen, Gewalttäter durch Gespräche von ihren Vorhaben abzubringen. Er suchte nach einer Möglichkeit, einem Gesprächsanfang.
Die Angst war stärker. Er war alleine im Haus, es würde niemand kommen. Er war ausgeliefert. Geld. Die wollten ja nicht ihn, die wollten Geld, Werte.
„Hören Sie. Ich habe Geld. Nehmen Sie das Geld!“
Er horchte, geradezu verzweifelt. Hoffte im Strom der Musik eine Antwort zu erkennen.
„Verdammt nochmal, sagen Sie etwas. Wenn Sie Geld wollen, ich habe genug im Haus. Und wenn Sie noch etwas anderes wollen, dann nehmen Sie sich das. Nehmen Sie sich, was Sie wollen, aber lösen Sie endlich den Gurt.“
Nur das „Dies irae, dies illa“ erfüllte mächtig den Raum.
Es musste doch etwas geschehen. Sein Blick hetzte herum, blieb kurz an der brennenden Kerze hängen. Die waren hinter ihm, und die bewegten sich nicht. Die rissen keine Schubladen aus den Schränken, wühlten nicht herum. Er hörte nichts.
Plötzlich war er sich sicher: Die hatten es auf ihn abgesehen. Auf sein Geld vielleicht auch, aber zuerst ging es um ihn. Ein Patient!
Für einen Augenblick saß er ganz still, versuchte mit äußerster Konzentration irgendetwas zu hören, zu erkennen. Aber lediglich das „Dies irae“ umtoste ihn. Er hielt das nicht aus.
„Jetzt reden Sie! Sagen Sie etwas! Was wollen sie?“ Er schrie jetzt, schrie endlich mit sich überschlagender Stimme. Schrie in die Stille hinein – als das Requiem abrupt aussetzte.
Er bog den Kopf weit in den Nacken, sah dorthin, wo er den Eindringling vermutete. Vergebens. Er wandte den Kopf panisch hin und her, bis sich der Bügel seiner Brille vom linken Ohr löste. Die Brille hing ihm quer über das Gesicht. Er hielt inne, einen winzigen Augenblick, schleuderte sie dann mit einer einzigen, wilden Bewegung ins Dunkle und wartete darauf, dass etwas geschah.
„Wir wollen dich, Stocher, nur dich. Es ist nicht dein Geld, was uns interessiert, Dr. Werner Stocher. Dein Geld ist uns vollkommen gleichgültig. Du selbst bist das Ziel, Dr. Werner Stocher.“
Die Stimme war hinter seinem Sessel. Ganz nah. Er spürte, dass er zitterte und verlor wieder die Kontrolle.
„Ich bin kein Ziel! Für niemanden. Sie reden Unsinn. Hören Sie auf!“ Das Letzte schrie er schon wieder, beugte dann langsam den Oberkörper vor, als habe er Schmerzen: „Ich bin Dr. Robert Snelting. Ich heiße nicht Stocher, und ich kenne keinen Stocher.“
„Das musst du wohl sagen. Aber gib dir keine Mühe. Wer dich kennengelernt hat, Dr. Werner Stocher, den kannst du nicht täuschen. Der wird dich immer erkennen. Und wir beiden, du und ich, wir hatten jeden Tag miteinander zu tun. Ich würde dich auch noch im Dunkeln erkennen.“
Die Stimme war direkt hinter und über seiner Sessellehne. Er suchte in seiner Erinnerung, die Stimme kannte er nicht. Er zitterte jetzt am ganzen Körper.
„Sie sind krank. Irre! Sie faseln dummes Zeugs“.
Abrupt hielt er inne.
„Wer sind Sie? Kommen Sie endlich vor und beenden Sie dieses alberne Theater.“
„Du irrst, Stocher. Das hier ist kein Theater, und albern ist das schon gar nicht.“
„Natürlich ist das albern! Hören Sie endlich auf mit diesem Unsinn! Ich will …“
Sein Schreien wurde jäh und stark unterbrochen.
„Schweig jetzt! Schweig! Was du hier erlebst, ist nicht weniger als der Beginn deines allmählichen Untergangs, Stocher. Wir wollen nicht dein Geld und nicht dein Leben, aber wir werden das Leben, in dem du jetzt so komfortabel lebst, zerstören.“
„Zerstören? – Sie sind ja wahnsinnig. Ja, Sie sind wahnsinnig. Jeden Tag habe ich mit Menschen zu tun, die solche Phantasien haben. Ich kenne das.“ Die Angst ließ ihn erneut losbrüllen, „Sie sind krank. Entfernen Sie sofort den Gurt.“
„Stocher, höre auf zu schreien. Ich bin genauso wenig wahnsinnig wie du. Und deshalb schleppe ich dir jetzt deine Vergangenheit hinterher.
Als du am 2. Juli 1990 aus Waldheim verschwunden bist, da warst du noch Dr. Werner Stocher, Chefarzt der Neurologie und Psychiatrie in der Klinik in Waldheim und Oberst der Stasi in Personalunion. Und als du dich am 3. Juli 1990 in Berlin angemeldet hast, da hast du das mit Ostpapieren als Dr. Robert Snelting getan. Du bist einfach ein gewissenloser und gerissener Halunke. Ein Ganove und nichts anderes.“
„Ich…“ Er war kurz davor, sich selbst zu verlieren, ballte die Fäuste, kniff die Augen fest zusammen. „Hören Sie endlich auf. Ich kann und ich will dieses wirre Zeugs nicht mehr hören. Ich bitte Sie jetzt: Hören Sie mit diesem Unsinn auf und lösen Sie den Gurt.“ Er sprach betont ruhig, saß weit vorgebeugt in seinem Sessel und bekräftigte jedes Wort durch ein betonendes Nicken mit dem Kopf: „Hören Sie endlich auf!“
Die Stimme war jetzt ganz nah, direkt über ihm. Er kniff die Augen zusammen, wartete auf eine Berührung, einen Schmerz.
„Es wird nie mehr aufhören. Ab heute, Stocher, ab heute sind wir dir immer ganz nah. Wirklich immer. Wir werden dich nach und nach entzaubern, bis kein Hund mehr einen Knochen von dir nimmt.
Nur darum ging es heute. Du sollst wissen, warum dir das alles passiert, was da auf dich zukommt.“ Bei den letzten Worten entfernte sich die Stimme über ihm, kam dann aber noch einmal zurück, ganz nah an ihn heran:
„Übrigens, du hättest die Musik nicht passender wählen können: „Dies irae, dies illa“, Tag des Zornes. Wenigstens da hast du Stil. Und jetzt sieh´ man zu, wie du da aus deinem Sessel kommst.“
Das Requiem setzte kraftvoll dort wieder ein, wo es zuvor unterbrochen wurde.
Verstört, tiefgründig erschüttert saß er einen Augenblick nur da. Immer noch vorgebeugt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Ganz langsam dann sickerte es durch seine Angstbarriere: Er war enttarnt. Das war kein Bluff, der Kerl hatte Faktenwissen. Er war aufgeflogen, und sie würden ihn mit seiner alten, abgenutzten Identität an die Öffentlichkeit zerren. Er wusste nicht, wer „sie“ waren, aber er war sich jetzt sicher: Sie meinten es ernst.
Geradezu verzweifelt jetzt zerrte er an seinem Gurt, stemmte sich mit den Füßen auf dem Boden ab, riss mit seinem Körper vorwärts, seitwärts. Hielt unvermittelt inne:
„Sind Sie noch da?“ Er lauschte, aber das Requiem überlagerte jedes Geräusch. Und es bohrte sich jetzt druckvoll von allen Seiten in seinen Kopf, quälte unablässig den Rest seiner Nervenkraft. Etwas links von ihm und nur eine Beinlänge von seinem Sessel entfernt, flackerte die Kerze, unruhig jetzt.
Was als Entspannung gedacht war, trieb ihn auf einen Nervenzusammenbruch zu. Er schrie noch einmal: „Sind Sie noch da? Lösen Sie den verdammten Gurt.“
Er wartete gespannt, horchte mit geschlossenen Augen. Nichts geschah. Er ließ sich zurückfallen, resignierte, fiel einen Augenblick spannungslos in sich zusammen. Dann raffte er sich wieder auf.
Er musste handeln. Es musste einen Weg geben, diese Irren aufzuhalten. Aufgeben war jedenfalls keine Option.
Es war genau zweiundzwanzig Uhr achtundvierzig, als er kopfüber aus dem Sessel auf den Boden fiel. Seine Armgelenke waren aufgescheuert, seine geöffnete Hose hing ihm unter den Knien, aber er hatte es geschafft. Einen Atemzug lang verharrte er mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen auf Händen und Knien, atmete schwer. Als er die Augen öffnete, entdeckte er eine Armlänge entfernt die Fernbedienung für das Audiogerät und noch einmal eine Armlänge entfernt vor einem Bücherregal seine Brille. Hastig reckte er sich, riss die Bedienung an sich, ebenso seine Brille und beendete den zweiten Durchlauf des Requiems.
Stille. Dunkelheit und Stille füllten den Raum wie eine schwere Masse. Er blieb auf dem Boden liegen, alle Sinne auf seine Umgebung ausgerichtet. Sein Atem war das einzige Geräusch, ging tief und stoßweise.
Schwerfällig richtete er sich auf, wollte zum ersten Lichtschalter und musste sich hastig am Sessel festhalten; die Hose, immer noch auf den Knöcheln, brachte ihn beinahe zu Fall. Er zog sie hoch, hielt sie nur am Bund fest und schaltete das Licht ein.
Im Raum war nur er selbst. Er brachte seine Kleidung in Ordnung, rasch, sah sich dabei im Raum um; nichts hatte sich verändert. Auf der Anrichte neben der Tür lagen sein Smartphone, seine Geldbörse und sein Autoschlüssel an ihrem gewohnten Platz. Ulrike mochte es nicht, dass er diese Dinge dort ablegte, sobald er das Haus betrat. Aber es war sein Platz. Er hatte sich das so angewöhnt, musste diese Dinge in Sichtweite haben.
Wenige Minuten später brannte Licht im gesamten Haus.
Er war zuerst direkt in seinen Schlafraum geeilt, hatte dort die Schublade seines Nachtschranks aufgerissen: Die „Glock“ lag unberührt an ihrem Platz.
Diese handliche Pistole hatte er sich sofort gekauft, nachdem er den Waffenschein gemacht hatte. Er musste das tun. Unterschwellig war es immer da, dieses Gefühl einer möglichen Bedrohung. Auch wenn er sein Leben bereinigt hatte und jeden Gedanken an die Vergangenheit sofort unterdrückte, Vergangenheit war in der Tiefe schwelende Glut, er wusste das. Und er war entschlossen, niemandem zu erlauben, diese Glut zu entfachen.
Er nahm die Waffe aus der Schublade, hielt sie in der Hand, fühlte ihr Gewicht, das kalte Metall; die Ruhe kam zurück. Entschlossen lud er die Waffe durch, legte die Sicherung um und machte sich auf die Suche. Es würde Notwehr sein.
Er ging von Raum zu Raum, schaltete überall das Licht ein, sah in jede Ecke, in die Schränke. Im Haus war niemand mehr. Im Abstellraum hinter der Garage entdeckte er ein offenes Fenster. Eines der drei hoch gelegenen, schmalen Fenster war zwar zugezogen, aber es war nicht verschlossen. Darunter stand ein Tisch. Jemand hatte den Tisch, der im Sommer auf der Terrasse und jetzt in diesem Raum stand, direkt unter das Fenster geschoben. Er sicherte die „Glock“.
In dieser Nacht schlief er nur wenig. Schlummerte immer wieder ein, trieb dann nahe unter der Oberfläche, war bald wieder wach und grübelte.
Er musste Helmut anrufen. Die Firma würde die Sache übernehmen und dann wäre der Spuk bald vorbei. Aber, wer immer sich hinter diesem „Wir“ verbarg, sie meinten es ernst, und das würde nicht nur ihm Schaden zufügen. Sie mussten diese Typen irgendwie unschädlich machen.
Helmut würde die Firma aktivieren. Er war immer noch „Führungsoffizier“ und konnte Aktivitäten in vielen Bereichen in Gang setzen. Es gab in diesem Land keine wichtige Institution, kein wichtiges Amt, in dem nicht ein Mitglied der Firma seine Aufgaben wahrnahm. Jeder Alarm, jede Suche erschien schon nach wenigen Stunden auf über hundert Smartphones und Computern. Man konnte sich auf die Firma verlassen. Das hatte die Vergangenheit gezeigt.
Er versuchte, sich mit diesen Gedanken zu beruhigen. Wälzte sich dabei im Bett von einer Seite auf die andere. Das Gefühl der Demütigung klebte in seinem Kopf wie eine schwere, dunkle Masse. Ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Sein Kopf tat ihm weh. Der Schlaf wollte nicht kommen. Er stand auf, ging hinüber ins Bad und nahm ein Aspirin.
Gleich am Morgen würde er Helmut anrufen.
In den frühen Morgenstunden schlief er endlich ein, tief und fest.
Als er erwachte, war es bereits acht Uhr.
Auf der Bettkante sitzend rief er in der Klinik an und gab die Anweisung, alle Termine zu streichen, die für diesen Tag geplant waren, Patienten nötigenfalls telefonisch davon zu benachrichtigen. Er würde an diesem Tag nicht kommen.
Es war noch nie vorgekommen, dass er seine Termine nicht wahrnahm oder nicht wie gewohnt in der Klinik erschien. Seine Sekretärin würde annehmen, dass er aus wichtigem Grund verhindert war. Was ja auch den Tatsachen entsprach.
Während er ins Bad eilte und seine Morgentoilette begann, plante er sein Vorgehen. Helmut war um diese Zeit längst in seiner Praxis, wie es sich für einen ordentlichen Internisten gehörte. Er musste ihn anrufen, vor dem Frühstück noch. Danach würde er wohl oder übel nach Hamburg fahren, um sich mit Helmut zu treffen. Sie mussten diese Sache sofort angehen.
Er wischte einen Zahnpasta-Klecks, der ihm aus dem Mund gefallen war, vom Wasserkran, sah wieder auf – und erstarrte. Einen Augenblick lang stand er ganz still, hielt die Zahnbürste im Mund, blickte in den Spiegel vor sich, senkte dann die Hand mit der Zahnbürste auf den Waschtisch.
„Wir sind dir ganz nah. Immer!“
Die Worte waren mit einem dicken, blauen Edding auf den Spiegel geschrieben worden. Das war schlimm genug: Der Kerl war in seinen Lebensbereich eingedrungen, war durch seine Wohnung gelaufen, während er schlief. Was ihn aber entsetzte und jäh seine Panik entfachte, war die Tatsache, dass diese Worte in der Nacht noch nicht dort gestanden hatten.
Irgendwann in der Nacht hatte er eine Brause-Aspirin genommen und hatte in den Spiegel geschaut, während er das Glas austrank. Im Spiegel hatte er nur sein Gesicht mit den dunklen Schatten unter den Augen gesehen. Nichts anderes!
Der war noch immer im Haus! Es war noch nicht vorbei!
Er ließ die Zahnbürste im Waschbecken liegen, spuckte den Zahnpasta-Schaum aus, hastete zurück ins Schlafzimmer und nahm die „Glock“ aus der Schublade.
Es war die pure Verzweiflung, die ihn jetzt antrieb, die ihm die Luft zum Atmen nahm, Verzweiflung und eine unbändige Wut. Nur mit seiner Pyjamahose bekleidet, den Zahnpasta-Schaum noch im Gesicht und die entsicherte Pistole in der Hand hetzte er von Raum zu Raum.
Wie am Abend zuvor durchsuchte er jeden Winkel des Hauses, stand endlich schwer atmend im Abstellraum und blickte durch ein geöffnetes Fenster in den blauen Himmel.
Sie spielten ihr Spiel mit ihm!
Er hatte das Fenster am Abend geschlossen, den Tisch an seinen eigentlichen Platz zurück geschoben. Alles hatte wieder seine gewohnte Ordnung gehabt.
Jetzt stand der Tisch unter einem anderen, dem mittleren der drei Fenster, das Fenster selbst stand weit auf.
Für einen langen Augenblick starrte er auf die Fensteröffnung. Sein Körper bebte unter dem Gefühl der Machtlosigkeit, der Furcht, aber auch des Zornes. Er wünschte sich, jetzt, in diesem Moment, würde ein Kopf in der Fensteröffnung auftauchen.
Um dreizehn Uhr traf er sich mit Helmut im Restaurant „Zum Mühlbach“.
Das Lokal lag gut erreichbar wenige Kilometer vor Hamburg, in der Nähe gab es einen Golfplatz. Eine ausgezeichnete Küche und die Möglichkeit, das bestellte Gericht in einem separaten Raum einzunehmen, machten dieses Lokal zu einem idealen Treffpunkt.
Helmut erwartete ihn auf dem Parkplatz. Einem kreisrunden Platz, der von Bäumen und dichtem Buschwerk umgeben war, als befände er sich in einem Wald. Er hatte seinen Wagen in einer Nische hinter Büschen geparkt. Von der Straße aus war dieser Bereich nicht einsehbar.
In seinem tiefsten Inneren mochte er Helmut nicht. Helmut war gut einen Kopf größer als er selbst, wirkte immer ziemlich grobschlächtig auf ihn, und er war noch fülliger geworden. Wie schon bei ihrem letzten Treffen trug Helmut einen Anzug in dunklem Anthrazit, dazu ein blaues Hemd mit rostbrauner Krawatte. Das Jackett trug er offen.
Er mochte dieses Grobschlächtige, Proletenhafte nicht, diese Art, wie Helmut jetzt mit großen, gewichtigen Schritten auf ihn zukam und ihm seine fleischige Hand entgegenstreckte. Aber Helmut war und blieb „Helmut“, und es wäre sehr unklug, ihm nicht mit dem erwarteten Respekt zu begegnen. Sein grobes Äußeres und sein derbes Auftreten täuschten schon immer darüber hinweg, dass Helmut ziemlich scharfsinnig und skrupellos gerissen war. Übergewichtig war er erst in den letzten Jahren geworden.
„Mein Lieber, du siehst ja aus, als wärest du ein paar Tage lang versackt.“ Helmut stand jetzt vor ihm und betrachtete ihn mit seinem Internisten-Blick. Er nickte mit dem Kopf zum Lokal hinüber. „Komm, lass uns erst einmal was Vernünftiges essen. Danach knacken wir die Nuss. Ich muss erst um sechzehn Uhr wieder in der Praxis sein. Wir haben also Zeit.“
Während des Essens sprachen sie nicht über das anstehende Problem. Die Abwesenheit der Frauen, die eine war zur Elchjagd in Schweden, die andere weilte zur Entspannung auf Sylt, war das Thema, mit dem sie ihr Gespräch eröffneten. Sie waren sich einig, dass solch eine zeitweilige Abwesenheit durchaus auch ihre Vorteile hatte.
Ein weitaus wichtigeres Thema waren die zwei Kongresse, zu denen sie als Ärzte eingeladen waren und an denen sie auch teilnehmen würden. Der erste Kongress fand Anfang November in Hamburg statt, und Helmut war an den Vorbereitungen beteiligt.
Für den zweiten Kongress mussten sie nach Zürich fliegen. Die Erfahrung ließ drei interessante und sehr unterhaltsame Tage erwarten.
Nach dem Essen bestellten sie noch einen Kaffee.
Helmut lehnte sich weit auf seinem Stuhl zurück, legte seine großen Hände übereinander auf den Tisch und wartete, bis die Bedienung den Raum verlassen hatte.
„So, erzähl mal: Du bist überfallen und beraubt worden?“
„Keineswegs. Ich bin nicht beraubt worden. Meine Geldbörse, mein Smartphone, Papiere, alles lag frei herum. Es fehlt nichts. Und das ist für mich das eigentlich Bedrohliche: Die Kerle meinen es ernst. Die haben offensichtlich meine Identität ausgegraben. Sie drohen damit, mich bzw. meine Existenz zu vernichten.“
„Die haben in dir also den alten Stocher erkannt. Und jetzt wollen sie dich damit erpressen. Das hatten wir schon ein paar Mal.“
„Das Ziel ist Rache. Ausschließlich Rache, für was auch immer. Für mein Geld interessieren sich diese Typen ausdrücklich nicht. „Wir werden deine Existenz nach und nach zerstören, bis kein Hund mehr einen Knochen von dir nimmt.“ Es klingt mir noch in den Ohren. Hier geht es nur um Rache. Und die meinen es ernst.“
„Das hört sich in der Tat so an. Aber was können die schon machen. Deine Papiere waren und sind absolut sauber. Du siehst halt jemandem ähnlich, aber du bist es nicht. Fertig. Rechtlich werden die dich nicht mehr belangen können.“ Er veränderte seine Haltung, nahm die linke Hand zurück auf die Stuhllehne, war jetzt konzentriert.
„Aber man weiß ja: Wenn man mit Dreck beworfen wird, bleibt auch immer was hängen. Und das ist ja auch nicht schön. Ich denke, wir sollten diese Drohung ernst nehmen. Du hast niemanden erkannt, auch die Stimme nicht?“
„Die einzige brauchbare Information war, dass sie ihre Rache aus meiner Tätigkeit in Waldheim ableiten und dass ich tagtäglich mit ihnen zu tun hatte. Wörtlich: Wir hatten jeden Tag miteinander zu tun.“
Helmut zog zufrieden die Mundwinkel nach unten, nickte einmal mit dem Kopf.
„Da hat er einen dummen Fehler gemacht. Das ist doch was. Der Kreis dürfte ja nicht allzu groß sein.“
„Mitarbeiter und Patienten. Das kann aus beiden Lagern kommen.“
„Könnte Ulrike dahinter stecken? Keiner kennt dich besser als Ulrike.“
„Ulrike.“ Stocher blickte ihn einen Augenblick lang nachdenklich an, sah mit verengten Augen an Helmut vorbei zum Fenster und kam wieder zurück. „Nein. Wohl kaum. Ulrike würde sich damit selber schaden. Außerdem ist sie nicht der Typ für hinterhältige Aktionen. Ulrike geht immer den geraden Weg. Nein, Ulrike nicht.“
„Kenn mir einer die Frauen. Irgendjemand hat mal den Spruch kreiert: Die Hölle kennt nicht solch einen Zorn wie ein verschmähtes Weib. Bei deinen erotischen Aktivitäten kann schon mal was aus dem Ruder laufen.“
„Nein, ich glaube nicht. Sie wird selber nur zu gut wissen, dass so etwas sehr ungesund für sie wäre.“
„In der Tat. Also: Ich schlage vor, du denkst mal über deinen täglichen Umgang in Waldheim nach. Sende mir das Ergebnis möglichst umgehend zu. Ich werde mal unsere Freunde in Waldheim aktivieren, die werden Augen und Ohren offenhalten. Vielleicht sollte ich dir Alex rüberschicken. Der könnte ein Auge auf dich haben, falls die Kerle nochmal bei dir einsteigen.“
„Nein. Noch nicht. Morgen wird bei mir eine Alarmanlage eingebaut, das hilft schon.“
„Gut, dann lassen wir die Firma mal arbeiten. Und du bleibst ganz gelassen. Es dürfte den Typen sehr schwer fallen, uns auf die Schliche zu kommen. Dazu müssten sie unsere Akten haben und einen DNA-Vergleich durchführen. Kaum möglich, oder?“
„Zumindest ist das sehr unwahrscheinlich.“
„Dann gehen wir das Ganze mal an.“ Helmut erhob sich, erstaunlich dynamisch in Anbetracht seines Gewichtes. Und während er den Stuhl zurück an den Tisch schob: „Niemand pinkelt einem von uns ungestraft ans Bein. Das war immer so und so bleibt das. Erst recht, wenn es um unsere Existenz geht. Wir haben da Erfahrung. Bleibe ganz ruhig.“
Helmut hielt ihm wieder seine fleischige Hand hin, während er ihn zur Tür begleitete. Die Klinke in der Hand, wandte sich Helmut noch einmal um.
„Übrigens, ist Ulrike wieder zusammen mit Anneke in Schweden?“
„Wie jedes Jahr. Das alleine ist schon meine Versicherung.“
„Eine gute Versicherung. Wir hören bald voneinander.“
Nachdem Helmut den Raum verlassen hatte, wartete Stocher noch einige Minuten, zahlte dann die Rechnung und verließ das Restaurant.
Draußen erwartete ihn ein milder Herbstnachmittag.
Zufrieden mit dem Gespräch schlenderte er den kurzen Durchgang zum Parkplatz entlang. Helmut hatte das Problem erkannt, er würde jetzt handeln. Auch wenn er Helmut nicht mochte, als Führungsoffizier machte er seine Sache gut, das musste er anerkennen. Der wusste immer genau, was in der Firma lief und hatte alle Fäden fest in der Hand. Und wenn es darauf ankam, dann war auf ihn Verlass. Seine Leute ließ er niemals im Stich. Diese armseligen Kerle werden es noch bereuen, dass sie ihm so unverschämt auf die Füße gestiegen waren.
Abrupt blieb er stehen.
Ihm genau gegenüber und nur zwanzig Meter entfernt stand sein Mercedes in der Parknische. Alleine, aber unübersehbar: Statt der dunklen Heckscheibe schrie ihm ein grellrotes Plakat entgegen. Die schwarze Schrift auf dem Plakat war auch aus der Entfernung leicht zu lesen.
„Ich bin Dr. Werner Stocher
bis 1989 Stasioberst in der Klinik Waldheim/Sachsen.“
Wir sind dir ganz nah – immer!