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Kapitel 7

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Freitag, 23.09. 10.00 Uhr. Kiel empfing ihn mit grau verhangenem Himmel, und als Erik aus dem Bauch der Fähre nach draußen rollte, klatschte der Regen gegen seine Windschutzscheibe. Es war, als begrüße ihn ein alter Feind. Kurz entschlossen änderte er Plan und Ziel.

Er suchte nicht danach, wo Ulrike mit diesem „Clochard“ wohnte, er verließ Kiel und fuhr in dichtem Regen Richtung Greifswald. Er musste mit Rudi sprechen.

Rudi war sein Großvater, aber nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte, wurde Rudi so etwas wie sein Ersatzvater. Rudi erkannte damals, dass seine Tochter mit ihren Kindern nach Stochers Verschwinden unterzugehen drohte und holte sie in sein Haus nach Greifswald. Und ab diesem Zeitpunkt war sein Vater nur noch „der Stocher“. Bezeichnungen wie „mein Mann“ oder „mein Vater“ verschwanden bald vollkommen aus ihrem täglich benutzten Vokabular. In Großvaters Haus wurde „der Stocher“ zur Hassfigur schlechthin.

Rudis Haus war sein Zuhause und er hatte eine ganz besondere Beziehung zu diesem alten Haus. So nah am Fluss, mit seinem dicken, weit überstehenden Reetdach, seinen niedrigen Räumen und seinen blanken Holzfußböden.

Wenn früher im Herbst und Winter oft die Nebelschwaden vom Fluss hochzogen, war das für sie als Kinder etwas sehr Spannendes. Sie beobachteten dann, wie die Nebelgeister flach über den Boden ans Haus herankrochen. Wie sie um das Haus herumwaberten, bis sie es ganz eingeschlossen hatten. Sie waren dann von Geistern umgeben, aber in ihrem warmen Haus waren sie geschützt und für niemanden sichtbar.

Im Sommer knarrten die Dielen an manchen Stellen, wodurch er immer früh genug wusste, wann Helga, seine Großmutter aus dem Garten ins Haus kam oder sich seinem Zimmer näherte.

Damals war Rudi noch Meister im Bahn-Ausbesserungswerk Greifswald. Ein stattlicher Mann, dessen Wort etwas galt. Mit großer Geduld und Weitsicht übernahm Rudi ganz selbstverständlich die Vaterrolle. Und obwohl Rudi ziemlich unwirsch und aufbrausend sein konnte, er war ihm ein guter, verlässlicher Vater. Und es gab wohl niemanden, der mehr Hass für den Stocher empfand, als Rudi. Der zusehen musste, wie Kathrin, seine Tochter, nach dem brutalen Verschwinden ihres Mannes in einer schweren Depression versank, ohne dass er ihr helfen konnte. Und Rudi konnte auch seiner Enkelin Mona nicht helfen, als diese am Verlust ihres Vaters zerbrach. Gerade vierzehn Jahre alt geworden, sprang sie in Süderholz von der Autobahnbrücke vor einen LKW. Rudi musste auch das schlucken. Er setzte, wie gewohnt, einen Fuß vor den anderen, hielt sich an seine Prinzipien, und ging seinen Weg, immer einen Fuß vor den anderen. Aber alle diese Ereignisse hatten ihm zugesetzt, hatten ihn verändert. Rudi wurde bald achtzig und wirkte heute oft abwesend, in sich gekehrt, gleichzeitig aber auch unbeherrschter als früher.

Aus all diesen Gründen musste Rudi erfahren, dass es diesen Stocher noch gab. Dass er sich heute vermutlich in Kiel aufhielt und dass er dort lebte wie die Made im Speck. Ihm zu allererst würde es ein Bedürfnis sein, dieser Made den Speck zu versalzen. Und damit waren sie schon zu zweit.

Als er an Wismar vorbeifuhr, hörte es auf zu regnen. Die Straße war absolut trocken und die Bereiche neben der Straße hätten gut einen kräftigen Schauer gebrauchen können. Er blickte in den Rückspiegel, sah die dunklen Wolken hinter sich, im Westen.

Sein Smartphone summte. Kai!

„Hallo, bist du noch in Schweden?“

„Ich bin auf dem Weg nach Greifswald und fahre gerade auf Rostock zu.“

„Sieh an. Da kommst du ja ganz schön rum in der Welt. Hier wartet man übrigens auf deine Reportage. Verlier die nicht aus den Augen, bei deinen Familien-Projekten.“

„Ich verliere nie etwas aus den Augen, aber ich musste den Artikel ziemlich aufpolieren. Ihr habt den Text morgen auf dem Server.“

Aufpolieren? – Hört sich nicht gut an.“

„War auch nicht gut. War eine Katastrophe. Mir ist meine Primärquelle mitsamt einer Pizzeria um die Ohren geflogen. Wäre ich zum verabredeten Zeitpunkt im Lokal gewesen, würde ich dich jetzt vielleicht als Engelchen umkreisen.“

„Interessante Vorstellung. Warst du vor Ort, als die Bude hochging?“

„Ich habe davor gewartet, weil mir die Sache nicht koscher erschien. Und plötzlich ging das Ding hoch. Noch nie in meinem Leben habe ich solch eine Panik gespürt. Und: Nein. Ich habe diese Sache nicht konkret in meiner Reportage verwendet. Ich war zu hautnah dran.“

„Sollten wir doch immer sein.“

„Ich war aber noch näher dran, hautnah – Stichwort Anneke Berg. Du erinnerst dich vielleicht.“

„Jaaa, das war die Frau, die dir erzählt hat, sie handelt mit Sexspielzeug, die aber in Wirklichkeit mit Handgranaten um sich wirft. Okay Erik. Wir reden noch mal darüber, wenn deine Reportage auf dem Tisch liegt. Vielleicht kann man diese Sache doch noch verwenden.“

„Kai, das war keine Abrechnung unter Gangstern. Dahinter steckt eine ziemlich hohe Hausnummer. Haltet mich da aus der Schusslinie.“

„Okay. Lassen wir das jetzt so stehen. Zu deinem ödipalen Drama: Vielleicht sind wir schon fündig geworden.“

„Aha. Wer ist wir?“

„Ich habe Ullas Hilfe in Anspruch genommen. Ist ja ihr Beruf, herauszufinden, wie solche Ganoven ticken. Hast du was dagegen?“

„Wie sollte ich. Ich denke, das ist eine gute Idee.“

„Also, die erste Erkenntnis: Ulrike Teisch lebt in fester Lebensgemeinschaft mit einem Dr. Robert Snelting in der Bismarckallee in Kiel. Nicht mit Werner Stocher.“

„Klar. Wäre wohl auch zu einfach gewesen.“

„Es ist einfach, Erik. Kein Mensch lebt und verschwindet hier spurlos.

Ulla ist runtergetaucht in die Melderegister und hat sich da mal auf die Spur von diesem Snelting geklemmt.“

„Wow. Was deine bezaubernde Ulla so alles kann.“

„Werde ich dir hier nicht auf die Nase binden. Tatsache ist, dass Ulla gar nicht suchen musste. Bei genauem Hinsehen ist diese Snelting-Spur sofort auffällig. Pass auf:

Der Kerl hat sich 1990, am 06. August, mit festem Wohnsitz in Kiel angemeldet. Abgemeldet hat der sich zuvor am 03. August in Berlin.“

Berlin. Kai, mein Vater hat nicht in Berlin gelebt. Nie!“

„Der Snelting ja. Und zwar auf den Tag genau einen Monat.

Der hat sich am 03. Juli mit Ostpapieren in Berlin angemeldet. Am 03. August hat der seine Westpapiere bekommen und – hat sich umgehend wieder in Berlin abgemeldet. Am 06. August taucht der dann in Kiel wieder auf. Also, mich macht das schon ein wenig skeptisch. Der Snelting hätte ja gleich nach Kiel durchfahren können – oder?“

„Konntet ihr schon herausfinden, wo der Snelting gelebt hat, bevor der nach Berlin gekommen ist? Wo war der im Osten registriert?“

„Das ist die Schlüsselfrage. Hier versandet die Spur. Aber Ulla versucht alles. Vielleicht findet sie ihn ja noch. Immerhin war im DDR-Regime ja jeder und alles peinlich genau registriert. Irgendeine Spur muss es von dem geben.“

„Kai, tu mir einen Gefallen und schick mir mal diesen chronologischen Ablauf. Ich will mir den noch mal in Ruhe ansehen. Gibt es eigentlich keine Fotos von diesem Snelting? “

„Das ist auch so eine Sache, Erik. Von dem gibt es aus der gesamten Zeit von 1990 bis 2016 kein einziges öffentliches Foto. Nirgendwo. Das ist doch mehr als ungewöhnlich, oder?

Normalerweise wachsen diese Weißkittel an Größe und Wichtigkeit, wenn sie ein Presseobjektiv auf sich gerichtet sehen. Der Snelting muss sich richtig angestrengt haben, um nur ja nicht vor ein Objektiv zu laufen.

Überleg mal: Der hat 2010 eine Privatklinik eröffnet. Alle Blätter haben mit Bild über diese Eröffnung berichtet. Ich meine: Die Klinik und das Team wurden in einem großen Foto vorgestellt. Aber den Snelting, den Besitzer und Leiter der Klinik, den suchst du auf diesem Foto vergebens. Der Kerl will einfach nicht, dass er gesehen wird. Also, kein Foto.“

„He, Erik? Bist du noch da?“

„Bin ich, aber das musste ich gerade erst einmal verdauen: Der Kerl ist Klinikinhaber? Das ist ungeheuerlich, Kai.“

„Langsam. Du weißt ja überhaupt noch nicht, ob dieser Dr. Snelting und der Stocher die gleiche Person ist.“

„Zweifelst du wirklich daran? Dieses ganze Verwirr- und Versteckspiel von diesem Snelting passt doch zu all den anderen Puzzlesteinen, durch die ich überhaupt auf seine Spur gekommen bin.

Aber es stimmt schon; das alles beweist noch gar nichts. Verdammter Kerl. Wir werden das schon noch rauskriegen. Übrigens habe ich Ulrike Teisch näher kennengelernt. Ich habe also schon damit begonnen, ihm etwas zu nehmen, falls...“

„Vorausgesetzt, der merkt das vorerst nicht. Auch wenn der Kerl öffentlichkeitsscheu ist, der ist in Kiel und darüber hinaus sehr gut vernetzt. Seinen Namen findest du eigentlich bei allen Clubs und Organisationen mit Rang und Einfluss. Ärztegemeinschaften, Rotarier, Bruderschaft, Wirtschaftsclub, Segelclub und dann habe ich noch eine Gemeinschaft gefunden, deren Sinn und Zweck ich noch nicht ganz verstehe. Aber immerhin, er ist kein kleines, unbekanntes Tier. Bedenke das, bevor du dich noch einmal zu seiner Frau aufs Lager legst.

So, mein Lieber, vergiss die Reportage nicht. Wir sehen uns nächsten Donnerstag beim Griechen, oder?“

„Kai, ich danke dir. Wir sehen uns. Und sende mir bitte das Foto von der Klinikeröffnung mal mit.“

Eine Viertelstunde später hatte Erik den zeitlichen Ablauf, in dem sich dieser Snelting in Berlin an- und abgemeldet und dann in Kiel wieder angemeldet hatte und das Foto auf seinem Smartphone. Er mochte sich das nicht ansehen während der Fahrt und bog bei Tessin ab auf einen Parkplatz. Rollte dort an mehreren polnischen LKWs vorbei und fürchtete schon, keine freie Parkbucht mehr zu finden. Schließlich parkte er seinen BMW fast in der Ausfahrt, stieg aus, schlenderte einige Schritte hinüber zu einer Sitzgruppe und lehnte sich dort gegen den Betontisch.

Das Foto war Teil eines Berichts über eine Klinikeröffnung 2010 in Kiel. Es zeigte das Behandlungsteam der Klinik vor deren Eingang. Alle 17 Mitglieder dieses Teams trugen weiße Hosen und meerblaue Polohemden und im Gesicht ein gewinnendes Lächeln.

Er zog das Foto ein wenig auseinander. Zoomte das Team nah heran, sah sich die Gesichter der einzelnen Personen genau an; der Stocher war tatsächlich nicht darunter.

Erik sah hinüber zur Autobahn, auf der in rascher Abfolge die Fahrzeuge durch sein Blickfeld jagten, ohne dass er sie wahrnahm.

Wenn der Klinikchef bei der Eröffnung seiner eigenen Klinik nicht sichtbar ist, und wenn der auch sonst jedes Fotoobjektiv meidet, dann hat der noch mehr zu verbergen als nur eine zurückgelassene Familie. Ich muss das herausbekommen.

Er zoomte das Foto auf die Originalgröße zurück und fand sofort, was ihm zuvor, mit Focus auf den Stocher, entgangen war. Am linken Bildrand, neben dem aufgestellten Team, befand sich die Infotafel mit dem Namenszug der Klinik:

Privatklinik Dr. med. Robert Snelting.

Klinik für Psychiatrie / Psychotherapie

Im Hintergrund war der Eingang der Klinik und ein Teil des Klinikgebäudes zu sehen, alles modern in Glas und Stahl gehalten.

Wenn du dich dahinter verbirgst... Deine Angriffsfläche wird immer größer, deine Absturzhöhe immer höher. Das alles hätten wir auch gemeinsam machen können. Du hast uns als Ballast abgeworfen. Du verdammter Egoist.

Erik schloss das Foto und ging zurück zum BMW.

Um dreizehn Uhr fünfzig erreichte er Greifswald.

Er hatte sein Kommen nicht angekündigt und Rudi war nicht zu Hause.

„Er ist geflüchtet und sitzt wahrscheinlich mit seinem Freund Horst unten an der alten Hütte. Unten am Bodden. Das macht er immer, wenn ihm hier die Decke auf den Kopf fällt. Komm Erik, setz dich, trink einen Kaffee mit mir und erzähl mir ein bisschen was.“ Helga zog einen Stuhl unter dem großen, massiven Küchentisch hervor, an dem sie früher als Familie gemeinsam gegessen und an dem er während seiner Schulzeit täglich seine Hausaufgaben gemacht hatte.

Helga war seine Oma und gerade in der Zeit, als alles um ihn herum zerfiel, war sie sein seelisches Wärmekissen. Oma Helga hatte immer Zeit, wusste immer Rat und hatte das feine Händchen, ihn auch in seinen schwierigen Zeiten immer sanft in der Richtung zu halten. Helga war eine kluge, ziemlich listige Frau, die ihre Gutherzigkeit und Sanftmut auch schon mal ganz bewusst als Waffe einsetzte, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Wenn es sein musste, konnte Helga bretthart sein. Das war etwas, was er erst sehr spät erkannt hatte.

Und auch jetzt spürte sie schon wieder, dass etwas in der Luft lag. Er sah das an ihren Augen, die dann immer betont sanft und gleichmütig dreinschauten, dahinter aber hellwach blitzten. Er kannte das.

Helga schüttete Kaffee aus einer Thermoskanne in eine Tasse und stellte diese vor ihm auf den Tisch. „Ich habe ihn gerade erst gemacht. Du kannst ihn also ruhig trinken.“ Sie lächelte verschmitzt. Helga war leidenschaftliche, um nicht zu sagen süchtige Kaffeetrinkerin. Immer hatte sie eine Thermoskanne mit Kaffee auf dem Tisch stehen. Und es konnte schon einmal passieren, dass die dunkle, nicht mehr heiße Rest-Flüssigkeit, die sie einem in die Tasse goss, nicht mehr als Genussmittel durchging.

„Wie geht es Kathrin, geht’s ihr gut?“ Er wollte ihrer Frage zuvorkommen. Sie würde alles aus ihm herauskitzeln, wenn sie nur Zeit genug hatte. Aber er wollte zuerst mit Rudi sprechen.

„Ja, Kathrin geht es gut, es geht ihr sehr gut. Du hast schon länger nicht mehr mit ihr gesprochen?“ Helga strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht und stützte sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab.

„Ich denke, es sind jetzt drei Wochen. Aber ich konnte nicht eher, ich saß in Schweden fest.“

„In Schweden?“

„Ich erzähle dir gleich alles, aber was ist mit Kathrin? Irgendwas hat sich getan, du hast das gerade so euphorisch gesagt.“

„Ja. Kathrin hat eine Beschäftigung hier bei der Tafel bekommen. Du weißt, was das ist?“ Sie sah ihn fragend an. „Gut. Also sie hilft dort mit, räumt Waren ein, gibt Waren heraus. So kommt sie unter Menschen. Du wirst sehen, das tut deiner Mutter richtig gut. Weißt du, sie lernt dort Menschen kennen, denen das Leben nach der Wende genau so übel und manchmal noch viel übler mitgespielt hat als ihr. Wir haben das Gefühl, das alles hilft ihr.“

Draußen tat sich etwas. Die Tür zum Garten schlug an, man hörte rasche Schritte und jemand klappte einen Fahrradständer aus.

„Oh, das ist Kathrin. Schon?“

„Du kleiner Satan. Glaub ja nicht, dass du mir davonkommst. Du bist nicht gekommen, um zu fragen, wie es deiner Mutter geht. Ich kenne dich. Ich spüre das.“

Helga hatte sich mit schelmisch verengten Augen über den Tisch vorgebeugt und ihm diese Sätze zugezischt. Gleich darauf öffnete sich die Tür zum Garten und Kathrin kam herein. Sie war dünn geworden, um nicht zu sagen mager.

Früher, in Waldheim noch, war Kathrin eine attraktive, sportliche Frau mit fein-krausen blonden Haaren gewesen. Danach hatte der Kummer mehr und mehr auch an ihrem Äußeren genagt. Jetzt, sie war gerade sechzig geworden, sah sie zum Erbarmen aus. Ihr Gesicht wirkte knochig und eingefallen, die schönen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen und ihr Haar war stahlgrau geworden. Aber sie strahlte, ließ ihren Stadt-Rucksack an der Tür fallen, war mit zwei schnellen Schritten bei ihm. Erik hatte gerade noch genug Zeit, um sich vom Stuhl zu erheben, da schlang sie ihm schon ihre dünnen Arme um den Hals und blieb einen Augenblick so stehen, ihn fest an sich gedrückt.

„Erik. Ich habe so lange nichts von dir gehört. Ich freue mich, dass du da bist.“ Sie ließ ihn aus den Armen, trat einen Schritt zurück und sah ihn etwas bekümmert an.

„Ich kann das nicht gut haben, wenn ich so lange nichts von dir höre. Ich male mir dann alles Mögliche aus und sorge mich.“

„Ich bin schon groß. Hast du das noch gar nicht gemerkt? Und ich bin Unkraut, ich überlebe alles und komme immer wieder hoch. Mache dir um mich keine Sorgen.“ Er setzte sich wieder und zog den nächsten Stuhl heraus. „Komm, setz dich zu uns.“

„Wie kommt es, dass du schon zurück bist?“ Helga war aufgestanden und nahm eine hohe Tasse aus dem Schrank, einem alten Küchenschrank, dessen Türen im Schrankaufsatz noch Glasscheiben mit Gardinen hatten. Eine moderne Einbauküche wollte Helga nicht in diesem Haus haben.

„Frau Bredow.“ Kathrin hob ihren Rucksack vom Boden und kam die zwei Schritte wieder zurück. „Das ist die Frau zwei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite. Du erinnerst dich vielleicht. Frau Bredow hat Erik kommen sehen. Sie hat es mir gesagt. Ich brauche auch heute nicht mehr hin. Du bleibst doch, oder?“ Sie hatte sich neben ihm auf den Stuhl gesetzt, sah ihn mit bang fragenden Augen an.

„Ich bin ja gerade erst gekommen. Ich bleibe schon noch.“ Er wandte sich an Helga. „Wie geht es Rudi? Klär mich auf, bevor ich gleich mit ihm reden kann.“

Sie sah auf die alte Wanduhr neben dem Schrank. Strich sich wieder die Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ah, das kann schon noch was dauern. Wie soll es ihm gehen? Er ist still geworden. Manchmal reden wir den ganzen Tag über kaum miteinander. Kannst du dir das vorstellen, Rudi und schweigsam?“ Sie blickte von ihrer Tasse auf, Sorge im Gesicht. „Und wenn ich ihm dann mal wegen irgendeiner Nichtigkeit auf die Füße steige, dann explodiert er. Hat er früher nie gemacht.“ Sie sah wieder in ihre Tasse, „Vielleicht ist es das Alter. Manchmal geht er morgens und bleibt den ganzen Tag weg. Ich weiß dann nicht, wo er ist. Niemand scheint das zu wissen. Er ist dann einfach weg. So allmählich wird er mir fremd. Ich bin froh, dass Kathrin bei uns ist.“

„Trinkt er vielleicht?“

„Nein! Er trinkt nicht. Und alles andere fällt schon sowieso weg.“

„Wie alt ist er jetzt?“ Er sah Helga überlegend an. „Achtzig ist er geworden. Und, er hat in den letzten Jahren so einiges wegstecken müssen. Das wird ihm zu schaffen machen.“

„Erik, wir haben alle ziemlich viel wegstecken müssen. Das bleibt uns allen nicht in der Büx hängen. Aber deswegen kann man sich doch nicht einfach ausklinken. Wir haben in allen Zeiten immer zusammengehalten. Er kann das jetzt doch nicht einfach aufkündigen.“

„Ich gehe mal runter zum Bodden. Mal sehen, wie es dem alten Eisenbahner so geht.“ Er erhob sich, sah, wie Helga ihre Augen etwas zusammenkniff.

„Ja, geh nur. Vielleicht findest du ihn. Sag ihm dann, dass wir hier auch noch da sind. Und wenn ihr wieder zurück seid, dann habe ich mit dir auch noch etwas zu besprechen, du Geheimniskrämer. Geh nur.“

„Geheimniskrämer? Was für ein Geheimnis?“ Kathrin sah verunsichert von ihm zu Helga und wieder zurück.

„Ach, Helga wittert irgendeinen Verrat.“ Er zuckte mit den Schultern, versuchte gleichgültig zu wirken. „Es gibt kein Geheimnis, Kathrin. Wirklich nicht. Ich hatte einfach nur Lust, über das Wochenende bei euch zu sein.“

Am Bodden-Ufer, etwas zurück versetzt, in einem Einschlag zwischen Büschen und Bäumen, gab es eine alte, aber liebevoll restaurierte Holzhütte. Rückzugsgebiet für alte Käuze hatte Rudi das genannt, als Erik ihn und seinen alten Freund Konrad mal durch Zufall vor der Hütte entdeckt hatte. Zwei alte Eisenbahner, denen die große Werkhalle fehlte, die geregelten Arbeitsabläufe und die Gerüche von Fett, Öl und Schweißdunst. Denen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, weshalb sie sich hier wie auf einer abgelegenen „Insel“ trafen, das Gras bis hinunter zum Bodden kurzhielten und von Zeit zu Zeit der Hütte mit Pinsel und Farbe auf das Holz rückten. Hier waren sie ungestört, nur selten kam mal jemand auf dem schmalen Pfad am Boddenufer entlang.

Rudi war alleine am Haus, saß auf der alten Bank neben der geöffneten Eingangstür und sah hinaus auf den Bodden, auf dem ein Fischkutter von einem Schwarm Möwen umkreist wurde.

„Ich hätte dir einen Kaffee mitbringen können. Zu Hause stand die Kanne auf dem Tisch.“

„Da gehört sie auch hin.“ Rudi sah ihm gut gelaunt entgegen, die verbeulte Thälmann-Mütze auf dem Kopf, die Hand mit der Pfeife vor der Brust.

„Hol dir ein Bier, wenn du willst.“ Rudi wies mit der Pfeife zur geöffneten Tür.

„Nein, du trinkst ja auch keins.“ Er setzte sich neben Rudi auf die Bank. „Ich muss jetzt kein Bier trinken, aber ich muss mit dir reden.“

„Nur, wenn es nicht um Geld geht.“ Rudi sah aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, humorvoll unter den buschigen Augenbrauen hinweg.

„Es geht doch immer um Geld. Oder?“

„Mir nicht. Geld brauche ich zum Leben, ansonsten interessiert es mich nicht.“

„Würde es dich denn interessieren, wenn ich dir sage, dass ich ziemlich sicher weiß, wo sich der Doktor versteckt hat?“

Rudi sog an seiner Pfeife, sah ruhig auf den Bodden hinaus, blies den Rauch sachte wieder aus.

„Und jetzt?“

„Was Und jetzt?“

„Weiß er schon, dass du ihn entdeckt hast?“

„Nein. Noch weiß er das nicht.“

„Dann ist es ja gut. Lass´ das auch man so.“ Er wandte sich ihm kurz zu, sah dann wieder nach draußen und sog ruhig an seiner Pfeife.

„Was ist denn das jetzt, Rudi? Weißt du, wie der Kerl heute lebt?“

„Nicht wie er lebt ist von Bedeutung. Warum er so leben kann, das ist die Frage, die du dir stellen musst. Vergiss ihn einfach.“ Rudi hatte sich Erik jetzt ganz zugewandt. Sein Gesicht war schmal geworden, die Tränensäcke unter den nachdenklich schauenden Augen schienen ausgeprägter und die plötzliche Anspannung verstärkte diesen Eindruck. „Vergiss den Kerl. Der ist es nicht wert, dass du deinen Hals riskierst. Und das wirst du, wenn du dem zu nahe kommst.“ Er steckte seine Pfeife in die Jackentasche und lehnte sich wieder zurück. „Für mich ist der Kerl tot. Ein für alle Mal, und damit muss ich leben.“

„Du kannst doch nicht annehmen, dass ich das genauso sehe?“

„Und was willst du tun?“ Rudi erhob sich etwas schwerfällig von der Bank, blieb davor stehen und drückte den Rücken durch. Wenn er auch bald achtzig wurde, immer noch wirkte er kraftvoll und Respekt einflößend.

„Sobald ich ganz sicher bin, werde ich dem Kerl aufs Fell rücken, Rudi. Ich werde ihm die Rechnung für seine Schweinereien präsentieren und ihn dafür bluten lassen.“

Rudi nickte verstehend, strich sich mit Zeigefinger und Daumen über seinen buschigen Schnauzbart, als wolle er die Borsten seitwärts in Form bringen. Das tat er immer, wenn ihn etwas besonders beschäftigte oder wenn ihn etwas aufbrachte, erzürnte. Etwas steif ging er ins Haus und kam einen Moment später mit zwei Flaschen Bier wieder heraus. Im Vorbeigehen hielt er Erik eine hin, setzte sich dann wieder und hielt die Flasche mit dem Boden voran herüber, um anzustoßen.

„Es gab wohl keinen Tag in den vergangenen zwanzig Jahren, an dem ich mir nicht gewünscht habe, diesen Hund zur Strecke zu bringen. Das ist ein ständiger, bohrender Schmerz.“ Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche, sah mit zusammengepressten Lippen raus aufs Wasser, wo der Fischkutter jetzt Fahrt aufgenommen hatte, die Horde kreischender Möwen im Schlepptau.

„Man gewöhnt sich nicht daran, aber irgendwann hält man das aus. Notgedrungen. Dem Kerl ist nicht mehr beizukommen, diesem Verbrecher.“

„Du weißt, dass das nicht so ist. Du leidest, deine Umwelt leidet und der Kerl lebt derweil ein geradezu feudales Leben. Ich denke, wir wissen jetzt, wo er sich versteckt, und jetzt holen wir ihn uns.“

„Nein! Werden wir nicht!“ Mit einem entschlossenen Ruck hatte Rudi sich ihm zugewandt, „Wir schon gar nicht und du auch nicht.“ Rudis Augen waren immer etwas feucht, jetzt aber blickten sie ihn an, dunkel und klar, als habe Rudi gerade eine Anweisung gegeben, von der er erwarten konnte, dass sie eingehalten wurde. Danach nahm er seine gewohnte Haltung wieder ein, strich sich mehrmals über seinen Schnauzbart. „Zu wissen, dass dieser Ganove mit einer falschen Identität in der vornehmsten Ecke von Kiel lebt, als wäre er dort geboren, das setzt einem zu. Das macht einen wütend, aber das hilft uns gar nichts.“

Erik sah ihn einen Augenblick verstört an, schüttelte leicht den Kopf.

„Du weißt, wo der Kerl sich aufhält? Seit wann weißt du das?“

„Das spielt keine Rolle. Ich weiß es jedenfalls.“ Rudi sah ihn an, aufgebracht jetzt. „Und ich weiß noch einige anderen Dinge, die du nicht weißt. Und deshalb sage ich dir, an den kommst du nicht heran, ohne Kopf und Kragen zu riskieren. Denkst du, ich hätte sonst all die Jahre stillgehalten?“

„Verdammt noch mal! Verstehe ich das Spiel hier falsch, Rudi? Der Kerl lebt dort mit einer gestohlenen Identität. Der hat sich durch seine Schweinereien strafbar gemacht. Damit kann ich ihm doch kommen. Und ich werde mir seine Akte ansehen, das kann ich, und der war Stasioberst. Ich werde etwas finden, um ihm einen Strick zu drehen. Was soll daran falsch oder sogar bedrohlich sein?“

„Dass du keine Ahnung hast.“ Rudi saß jetzt ganz aufrecht auf der Bank, schob ihm sein Gesicht entgegen, zornig jetzt. „Du springst im Dunkeln in einen Teich, von dem du nicht weißt, wie tief er ist und wer alles darin herumschwimmt. Was weißt du schon! Du siehst nur diesen Doktor. Aber ich sage dir: Kommst du dem zu nahe, dann wirst du sehr schnell das Gefühl haben, mitten auf einem brennenden Feld zu stehen. Und diese blöde Akte, die kannste getrost vergessen.“ Rudi lehnte sich wieder zurück und strich energisch über seinen Schnauzbart.

„Akte! Die ist so sauber wie Mutters Küchentisch. Da findste nichts mehr.“

Einen Augenblick sagte er nichts, verschränkte die Arme vor der Brust und biss die Zähne aufeinander, dass die Wangenmuskeln hervortraten.

„Wir haben Verantwortung, Erik. Vergiss das nicht. Helga und Kathrin brauchen uns und das geht vor. Unbedingt. So weh es auch tut: Wir werden diesem Ganoven nicht mehr auf die Füße treten. Wir werden das nicht tun.“ Den letzten Satz hatte Rudi wie eine unmissverständliche Anweisung ausgesprochen. Eine Anweisung, bei der die Drohung für den Fall der Nichtbefolgung schon mitklang.

Rudi nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, sah ruhig hinaus auf den Bodden, auf dem der Fischkutter nicht mehr zu sehen war.

Nach einer ganzen Weile dann, ohne die Haltung zu verändern, „ich kann dich nur zu gut verstehen, Erik. Ich war in Kiel. Ich habe ihn von seiner Villa wegfahren sehen, in seinem schwarzen Mercedes. Erschießen hätte ich den können. Ohne Skrupel ein ganzes Magazin in diesen korrupten Körper jagen. Ich hätte es nur zu gern getan und bin bald wahnsinnig geworden an der Unmöglichkeit, das auszuführen. Wir können das nicht tun. Was soll dann aus Kathrin werden? Sie kommt auf dieser Welt nicht mehr alleine klar. Es geht nicht, Erik.“

„Wir müssen ihn ja nicht gleich erschießen. Der Kerl hat gegen Gesetze verstoßen. Wir schicken ihm den Polizeiapparat auf den Hals. Wir verklagen ihn.“

„Wenn das so einfach wäre, warum habe ich das dann wohl nicht getan? Hältst du mich für so blöd oder nur für so alt?“ Rudi wandte ihm kurz das Gesicht zu, sah dann wieder hinaus. „Die Anzeige kannste noch aufgeben. Danach wirste durch einen ganz alltäglichen Verkehrsunfall oder auf andere Art aus der Angelegenheit entfernt. Ich weiß, dass es genau so läuft, Erik. Und das glaub mir jetzt und gib den Kerl auf.“

Er kramte seine abgegriffene Pfeife wieder aus der Jackentasche, stopfte mit seinem kleinen Finger im Pfeifenkopf herum, setzte den Tabak mit einem Streichholz in Brand und sog einige Male an der Pfeife, bis sie zuverlässig gleichmäßig rauchte.

„Wie bist du dem Ganoven überhaupt auf die Spur gekommen? Kann ja nicht ganz einfach gewesen sein.“

„Ich habe ihn auf einem Foto erkannt. Er ist im Juni in Kiel geblitzt worden und ich habe zufällig den Bußgeldbescheid in die Hände bekommen. Das Auto gehörte zwar jemand anderem, aber er saß am Steuer. Außerdem habe ich einige Tage mit der Frau, mit der er zusammenlebt, in Schweden unter einem Dach gelebt. Es war das Zusammensetzen eines Puzzels.“

„Weiß die Teisch jetzt, wer du bist?“

„Nein. Natürlich nicht. Aber Rudi, ich wüsste jetzt gerne mal, woher du alle diese Informationen hast. Die stehen nicht in der Zeitung. Rudi, du hast Insiderwissen. Woher?“

„Wissen Helga und Kathrin schon etwas?“

„Rudi, ich habe dich gerade etwas gefragt. Woher hast du all diese Informationen? Du bist nicht der Neugierige, bist kaum unter Leuten, du wohnst hier in Greifswald, weit ab vom Schuss, aber du bist informiert. Woher hast du diese Informationen?“

Rudi stand ruhig auf, streckte sich, nahm seine Pfeife aus dem Mund und klopfte durch einen kurzen, harten Schlag auf die Handfläche die Asche aus dem Kopf.

„Ich habe sie halt.“ Er steckte die Pfeife wieder in seine Jackentasche, nahm die leere Bierflasche, hielt Erik die Hand hin, um auch dessen Flasche mit ins Haus zu nehmen. „Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Wichtig ist, dass du den Frauen nichts erzählt hast.“

„Dann sind wir beiden jetzt also Geheimnisträger, jeder für sich. Ist das wie in alten Zeiten?“

Rudi ging einfach weiter, brachte die Flaschen ins Haus und kam wieder heraus. Einen Atemzug lang blieb er in der Tür stehen, abschätzend, das Kinn leicht vorgestreckt, den Mund geöffnet, als wolle er etwas sagen. Dann löste er das Bild auf. Strich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnauz, trat ganz heraus und schloss die Tür.

„Gehen wir. Und kein Wort von alledem zu Hause.“

Auf dem Weg zurück redeten sie nur wenig miteinander. Rudi wirkte angespannt und schnaufte, während er sein Fahrrad am Fluss entlang nach Hause schob.

Helga erkannte sofort, dass etwas nicht so war wie sonst. Ihr Blick traf Rudi nur ganz kurz und bohrte sich dann in Eriks Augen. Es war nicht möglich, vor Helga etwas zu verbergen. Er musste sich eine gute Ausrede einfallen lassen.

In den nächsten Tagen saß Helga ihm im Nacken, wann immer er in ihre Nähe kam. Er begann, ihre Sanftheit zu hassen, mit der sie ihn umgarnte. Gleichzeitig kam er sich schäbig vor, aber Rudi hatte recht: Der Stocher durfte hier kein Thema sein.

Am Dienstagmorgen dann konnte er ihr nicht mehr ausweichen.

Kathrin hatte Rudi gebeten, bei der „Tafel“ ein Regal zu reparieren, wodurch beide von einem Moment zum anderen aus dem Haus waren. Damit war er Helga ausgeliefert, und er tischte ihr mit Unbehagen seine Ausrede auf. Er erzählte ihr, dass er eine größere Investition plane, von der Kathrin aber besser nichts erfahren sollte. Es würde sie nur beunruhigen, und sie würde sich wieder Sorgen machen. Aber er habe Rudi um Rat gefragt. So, wie er es immer gemacht habe.

Helga sah ihn einen Atemzug lang fest an. Schweigend. Alle Sanftheit war aus ihrem Gesicht gewichen. Die weiße Haarsträhne hing ihr wieder im Gesicht. Sie wirkte verletzt.

Sie stützte sich auf dem Tisch ab, drückte sich langsam vom Stuhl hoch, nahm seine Tasse und wandte sich zur Spüle.

„Du magst sicher keinen Kaffee mehr.“

Am Nachmittag verließ er Greifswald mit dem Gefühl, die Menschen verletzt zu haben, die ihm am nächsten standen.

Er fuhr zurück, Richtung Kiel, nicht nach Hamburg.

Tod eines Agenten

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