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Kapitel 1
ОглавлениеOslo, 12. September 2016.
Ein Montag, trübe, regnerisch, ohne jede Verheißung. Erik sah aus dem Hotelfenster, die Arme vor der Brust verschränkt. Schon seit zwei Tagen saß er hier fest, sah hinaus in den Regen und wartete darauf, dass es endlich losging. Wie er das hasste. Wie er diese Typen überhaupt hasste. Hier ging es um alles oder gar nichts und diese Typen spielten mit der Zeit.
Unten im Hafen schob sich eine Fähre der „Stena Line“ behäbig aus ihrer Anlegebucht, quirlte das dunkle Wasser an ihrem Heck schaumig auf. Schob sich dann wie in Zeitlupe an einer mächtigen, blauen Fähre vorbei, deren Heck eine endlose Schlange von PKWs und LKWs absonderte.
Erik sah das alles nicht. Unzuverlässigkeit war etwas, was ihm geradezu physische Schmerzen verursachte. Zumal, wenn es sich um solche riskanten Aktionen handelte. Sein Blick flog zum x-ten Mal hinüber zur Uhr am rechten Rathausturm: vierzehn Uhr fünfzig.
„Verdammt! Es reicht jetzt! Komm schon, Bengtson! Komm schon! Lass mich nicht hängen, Kerl!“
Mit zusammengepressten Lippen brannte er seinen Blick auf der Uhr fest. Er kam an diesem verdammten Bengtson nicht vorbei, aber geahnt hatte er es. Im Voraus schon, von Anfang an. Er kannte diese radikalen Typen. Die lebten nur in ihrer eigenen Welt, kannten nur ihre eigenen Regeln, waren einfach…
Hinter ihm auf dem Tisch gab das Smartphone ein klares „Ping“ von sich. Er fuhr so heftig herum, dass er gegen die Tischkante stieß. Griff nach dem Smartphone und öffnete die eingetroffene Mitteilung.
„Hau ab! Verschwinde aus Oslo. Sofort! Treffen achtzehn Uhr Scandinavian in Arvika. S.B.“
Was sollte das denn jetzt? Verschwinden! Er zog seine Tasche heran, schob sein Laptop noch hinein und war schon an der Tür. Offensichtlich hatte der Bengtson tatsächlich was ziemlich Heißes in der Pfanne. Davon war im Voraus nicht die Rede. Verdammt! Und dann jetzt „Arvika“. Wo lag denn das jetzt? Wo lag Arvika? Er hetzte zu seinem Auto, weckte sein Navi, sah sich die Karte an: Arvika in Schweden, hundertsechzig Kilometer von Oslo entfernt. Er brauchte nur der E18 zu folgen. Mit etwas Glück war das machbar. Aber das war auch wieder so etwas. Warum nicht neunzehn Uhr? Du verdammter Kerl weißt genau, dass ich hier in Oslo bin. Er schaltete das Navi aus, fädelte sich in den Verkehr ein.
Zwanzig Minuten später lag Oslo hinter ihm, die Grenze nach Schweden überfuhr er um sechzehn Uhr fünfunddreißig. Der Regen wurde stärker.
Zwei Kilometer hinter Töcksfors kroch vor ihm ein mit Baumstämmen beladener LKW aus einem Waldweg auf die Fahrbahn. Erik ließ sich etwas zurückfallen, wollte nicht den hochgewirbelten Dreck auf der Scheibe haben.
Die Zeit rann dahin. Er setzte mehrere Male zum Überholen an und musste doch wieder hinter den LKW zurück. Und dann wurde er allmählich unruhig. Er saß fest hinter dem LKW, während ihm die Zeit davonlief. Als er ihn endlich an einem Berg überholen konnte, war es siebzehn Uhr fünfundzwanzig. Er fuhr am Ortseingangsschild von Arjäng vorbei.
Arjäng! Nur einen Atemzug lang stockte er, dann wusste er, dass etwas verkehrt lief. Er war noch auf der E18, aber Arjäng lag nicht auf seiner Strecke. Dort gab es vor Arvika keinen Ort dieser Größe.
Er steuerte den nächsten Parkplatz an, stieg aus und lief durch den Regen zu einem Toilettenhaus. Die eintönige Fahrt hinter dem LKW, das regelmäßige Schrubben der Scheibenwischer – er hatte sich einlullen lassen. Es musste irgendwo einen Abzweig nach Arvika gegeben haben, und den hatte er übersehen.
Ein langer Kühl-LKW donnerte in einer Gischtwolke vorbei, zog seinen Blick hinter sich her. Er würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Die Erkenntnis schmerzte geradezu. Bengtson war eine vorsichtige Ratte. Der würde sich kaum ein zweites Mal herauslocken lassen.
Erik sandte ihm eine SMS, bat um Zeitverlängerung. Die Antwort kam prompt: „Ok, bis achtzehn Uhr dreißig.“ Es war siebzehn Uhr siebenunddreißig. Kaum eine echte Chance. Verdammt noch mal, was sollte das für ein Spiel sein?
Er stieg wieder ein, rief sein Navi auf, änderte das Routenprofil auf „kürzeste Strecke“ und gab „Arvika“ ein. Unbekannte Gegend, Dunkelheit und heftiger Regen, was sollte da schon passieren? Er entschloss sich, alles auf eine Karte zu setzen, schloss die Wagentür, und fuhr wieder zurück auf die Straße.
„Nach zweihundert Metern rechts abbiegen.“
Na also. Seine Laune hellte sich im gleichen Maße auf, in dem es allmählich dunkel wurde.
Er bog ab, folgte nach wenigen Minuten der neuen Anweisung und war dann auf der Straße nach „Lenungen“ und zum „Naturreservat Glaskogen“.
Das Navi wusste offenbar, was er bevorzugte: asphaltierte, gerade verlaufende Straßen und möglichst kein Verkehr. Er jagte den BMW die Straße entlang, schien das einzige Fahrzeug auf dieser Strecke quer durch den Wald zu sein. Misstrauisch machte ihn diese Tatsache erstmal nicht.
Vier Kilometer später war jedes Misstrauen überflüssig. Übergangslos wechselte der Straßenbelag von Asphalt zu Schotter. Er ahnte sofort, dass er sich verpokert hatte: Regen, Dunkelheit und Schotterstraße quer durch den Wald. Das war wohl die mieseste aller Karten, und er musste sie auf Gedeih und Verderb spielen
Inzwischen leuchteten die Scheinwerfer eine Regengasse zwischen den Bäumen aus, in der nur sichtbar wurde, was das Licht erfasste. Immer wieder tauchten Kurven überraschend vor ihm auf, zwangen ihn zu hektischen Reaktionen. Die Zeit saß ihm im Nacken, die Fahrt wurde allmählich anstrengend und er verfluchte sein Navi.
Die Scheibenwischer! Ihr hastiges Hin- und Herhudeln nervte ihn, machte ihn kribbelig. Außerdem beschlugen die Scheiben. Er tastete nach dem Schalter der Klimaanlage. Im gleichen Augenblick huschte etwas durch sein Blickfeld. Sein Blick zuckte hoch: Im bisher dunklen Rückspiegel bewegten sich die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs, undeutlich und noch weit hinter ihm. Er ließ den Heckscheibenwischer arbeiten.
Das Gebläse der Klimaanlage lief auf Hochtouren, und er sah wieder in den Rückspiegel. Die Scheinwerfer kamen näher. Solange er auf dieser Schotterpiste fahren musste, mochte er nicht überholt werden und dann eine Dreckschleuder vor sich haben. Er erhöhte die Geschwindigkeit noch etwas, sah in den Spiegel; das Fahrzeug hinter ihm kam dennoch näher heran.
Vor ihm tauchte die nächste Kurve auf. Der BMW rauschte durch eines der gefühlt zwei Millionen Schlaglöcher, das Wasser spritzte hoch bis an die Seitenscheiben, und gleichzeitig tauchte am Rand der Straße ein kleines, weißes Haus auf. Das Scheinwerferlicht huschte nur rasch über eine Wand, er erkannte eine kleine Treppe zur Haustür und ein einzelnes erleuchtetes Fenster. Dann war er vorbei. Im Scheinwerferlicht vor ihm lag wieder die aufgeweichte Straße.
Erik sah in den Rückspiegel, zurück zur letzten Kurve. Sah schon den Lichtschein, und sofort danach tauchten in der Kurve die Scheinwerfer auf. Sein Verfolger kam ihm unerbittlich näher, und das machte ihn nervös. Deutlich konnte er jetzt erkennen, dass es sich um ein höheres Fahrzeug handeln musste, einen Geländewagen.
Und auf einmal war er zu schnell. Die Kurve raste im Regen auf ihn zu. Er war viel zu nah dran, drohte den BMW zu verlieren. Bäume, nur noch Bäume tauchten vor ihm im Scheinwerferlicht auf. Fluchend zog er das Lenkrad herum, weg von den Bäumen. Von unten schlugen Steine gegen den Boden, während er den Wagen durch die Kurve zwang. Eine gefühlte Ewigkeit lang raste er am Rand der Straße entlang, bis er endlich aus der Kurve hinausfuhr, wieder Gewalt über den Wagen bekam.
Angespannt riskierte er einen schnellen Blick in den Spiegel. Der Kurvenbereich hinter ihm war schon hell beleuchtet.
Etwas in ihm schlug Alarm.
Sein Blick fiel zurück zur Straße und gefror.
Mitten auf der Straße stand jemand. Stand auf dieser aufgeweichten, verdammten Schotterstraße wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
Und er raste darauf zu, unfähig, zu reagieren. Starrte nur auf das Wesen in seinem langen, weißen Gewand, auf den alten Korbkinderwagen, den es quer über die Straße vor sich herschob, im Regen, im Scheinwerferlicht, wie über eine Bühne.
Dann schoss Panik in ihm hoch. Er schrie, schrie seine Angst heraus, riss das Lenkrad herum. Instinktiv, kein klarer Gedanke. Alles in ihm wollte fort von diesem Wesen, das ihm nun entgegensah, den Mund erschreckt weit aufgerissen, die Augen groß wie Wagenräder.
Der schwere Wagen rutschte daran vorbei, zu nah, räumte irgendetwas mit dumpfem Aufprall zur Seite.
Er spürte es, spürte diesen Aufprall geradezu schmerzhaft und stemmte den Fuß auf die Bremse. Stemmte das Pedal nieder mit dem Gewicht seines Körpers, umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen. Und dann riss es ihn hoch vom Sitz, als ein Baum seine Fahrt jäh stoppte.
Das trockene Krachen, mit dem der Wagen an einer Fichte aufschlug, drang ebenso wenig in sein Bewusstsein wie das Auslösen des Airbags, der verhinderte, dass sein Kopf gegen den Holm oder die Scheibe krachte.
Dann war Stille.
Ein – zwei Sekunden lang saß er nur da, starrte ins Nichts. Kein Gedanke.
Die Beifahrertür wurde aufgerissen. „Sind Sie okay?“
Eine Frauenstimme. Die Innenbeleuchtung war angegangen, er konnte dennoch nur den dunklen Umriss einer Kapuze erkennen.
‚Die Frau auf der Straße‘!
Erik war wieder da. Löste hastig den Gurt, strich mit schnellen Bewegungen kleine Glasbrocken von seiner Kleidung und kletterte über die Mittelkonsole und den Beifahrersitz nach draußen in den Regen. Alles ohne klaren Gedanken.
„Sind Sie verletzt?“ Die Fremde stand im Dunkeln vor ihm, umgeben von dichtem Buschwerk und nur eine Armlänge entfernt. Nur ihren regentriefenden Wachsmantel konnte er erkennen. Zwischen den tropfenden Büschen hindurch sah er auf der Straße den vor sich hin brabbelnden Geländewagen, einen Range Rover.
„Halloo – haben Sie sich verletzt?“ Sie sprach laut jetzt, beugte sich etwas vor, um ihn sehen zu können.
„Ich habe eine Frau angefahren.“ Er ließ sie stehen, hastete an ihr vorbei zur Straße, zum Geländewagen.
„Hier ist keine Frau.“ Sie hatte ihn eingeholt, sah ihn forschend an. „Außer uns beiden ist hier niemand.“
„Doch, verdammt noch mal. Sie war hier. Genau hier.“ Seine Hand wies in einen Bereich der Straße, direkt vor den Geländewagen. Im Scheinwerferlicht waren noch die Spuren zu erkennen, die sein schleudernder Wagen im aufgeweichten Schotterboden hinterlassen hatten.
„Genau hier. Eine große Frau in einem weißen Kleid. Sie schob einen Kinderwagen. So einen uralten kleinen Korbkinderwagen.“ Er sah sie an, sah ihre gefurchte Stirn. „Ja. Ich weiß, das hört sich alles verrückt an. Aber genau so verrückt war es auch. Und ich bin sicher, dass ich sie angefahren habe.“ Der Regen lief ihm in die Augen, er wischte, sah sie wieder an, eindringlich. „Ich habe den Aufprall gehört. Die muss hier irgendwo sein.“
Unruhig, besorgt sah er sich um, suchte den Bereich ab, den die Scheinwerfer ausleuchteten. Aber da war nichts außer Pfützen, in denen dicke Blasen platzten. Er sah ihr Gesicht, ihren skeptischen Blick und ließ sie einfach stehen.
Vor dem Geländewagen her hastete er durch den Matsch auf die andere Straßenseite. Seine Schuhe sanken ein im Morast. Er achtete nicht darauf, lief am Rand entlang, dort wo nasses Gras und kleine Sträucher sich in die Straße hineinfraßen. Suchte im schwachen Licht, suchte zwischen und unter den nassen Sträuchern. Seine Hände fuhren suchend über die durchnässten Taschen seiner Jacke: sein Smartphone. Er brauchte Licht. Er würde den hellen Kleidungsstoff erkennen – oder den Kinderwagen. Er sah nichts!
Scheiße! Wo bist du? Der Druck in seiner Magengegend nahm zu. Er hatte einen Menschen angefahren.
„Kommen Sie rüber! Hierher!“
Er fuhr herum, sah ihr Smartphone auf der anderen Seite des Range Rovers im Regen blinken. Empfand ihre Stimme wie einen Stich.
„Ist sie dort?“ Er war schon unterwegs. Sah die Fremde vorgebeugt am Rand der Straße, direkt neben der Stelle, an der er in den Wald gerutscht war.
„Hier unten, unter dem Busch.“ Sie richtete sich auf. „Ich denke, sie ist nicht durch den Unfall hier gelandet. Die hat sich hier verkrochen.“
Das Licht ihres Smartphones schwenkte kurz zu ihm herum, als er näherkam; über ihnen flogen in der Dunkelheit einige Vögel aufgeschreckt davon.
„Das ist Lotta. Ich habe es schon befürchtet, als Sie so fest davon überzeugt waren, hier eine Frau gesehen zu haben.“
„Was meinen Sie?“ Erik wischte sich den Regen aus dem Gesicht, versuchte sie anzusehen, ihr Gesicht genauer zu erkennen.
Das Licht war wieder nach unten gerichtet, leuchtete in den Straßengraben, unter wucherndes Buschwerk und erfasste etwas Helles. Etwas, das hier ganz klar nicht hingehörte. Das war sie.
Wie ein scheues Tier hockte sie, vom Licht erfasst, im knietiefen, nassen Graben. Ein großes, verwundetes Tier in einem schmutzig-weißen Gewand mit überlangen grauen Haaren und einem alten Gesicht, das ihnen mit großen, dunklen Augen entgegensah; Lotta hatte Angst. Weit nach vorn gebeugt wiegte ihr Körper langsam vor und zurück. Ihre Arme hielt sie vor der Brust, presste dort irgendetwas gegen den Körper.
Er schob die Zweige des Busches zur Seite. Merkte nicht, dass ihm der Regen und ein dünnes Rinnsal Blut jetzt auch in die Ärmel liefen. Er musste näher heran. Ging in die Hocke, um genau sehen zu können.
„Lotta ist ein armes Ding. Sie lebt in ihrer eigenen Welt – und in der Welt von Lasse. Das sind gleich zwei Gottesstrafen.“
Die Frau beugte sich mit ihrem Smartphone herunter, näher an Lotta heran.
„Sie wohnt da vorn, in dem kleinen Haus.“ Ihre Hand wies flüchtig in die Richtung, in der er das Haus auch gesehen hatte.
„Lotta?“ Vorsichtig und eher rutschend stieg er zu ihr hinunter in den Graben. Sah, dass sie eine Bewegung machte, als wollte sie aufstehen, vielleicht vor ihm fliehen. Sie zog das Bein an, versuchte sich von ihm weg zu drehen. Aber das Ergebnis war lediglich ein abgehacktes Stöhnen. Etwas hinderte sie daran, die Bewegungen richtig auszuführen. Er blieb, wo er war, beugte sich nur zu ihr herunter.
„Lotta, du musst keine Angst haben. Ich will dir helfen. Tut dir etwas weh? Hast du Schmerzen?“
Aber Lotta wimmerte nur leise vor sich hin, schaukelte langsam vor und zurück. Sie hatte den Kopf tief zwischen ihre Schultern gezogen, starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen von unten herauf an. Er fühlte Mitleid mit diesem schutzlosen Wesen und er fühlte sich hilflos. Sah, wie der Regen unaufhörlich an ihr herunterlief, an ihren langen Haaren herunter und über ihr Gesicht. Ein merkwürdig altes Gesicht.
„Lotta, dein Kind. Was ist mit deinem Kind?“
Augenblicklich saß Lotta ganz still. Dann, als habe er sie an etwas Wichtiges erinnert, riss sie Mund und Augen erschreckt auf. Sah ihm mit brennendem, stechendem Blick fest in die Augen. Unvermittelt zog sie das, was sie in den Armen hielt, mit einem Ruck bis zum Kinn hoch und beugte sich dann schützend weit darüber.
„Baby!“ Sie stieß es heraus, dumpf, unter Anspannung. Schaukelte aufgeregt vor und zurück. Unversehens dann ruckte sie auf dem nassen Boden herum. Jammerte auf, mehrmals, abrupt, und versuchte in mehreren Anläufen aufzustehen. Endlich blieb sie wimmernd und wieder in sich gekehrt sitzen. Er konnte sie nicht erreichen.
„Sie hat kein Kind. Sie hält eine Puppe, eine alte Puppe.“ Erik richtete sich langsam auf, wischte sich über das Gesicht. „Mein Gott. Eine Puppe.“ Erschöpft zog er sich an herunterhängenden Ästen aus dem Graben.
„Sieht aus, als hätte sie sich was gebrochen. Sie kann sich nicht bewegen.“
„Und Sie haben sich auch verletzt. Sie bluten an der Hand.“ Die Frau richtete ihr Licht auf sein Gesicht. „Und haben sich gerade über das Gesicht gewischt.“
Es war eine kleine Schnittstelle im Handballen der rechten Hand. Er hatte sie bisher nicht bemerkt und schenkte ihr auch jetzt keine Beachtung. Der Regen lief darüber und sie würde schon aufhören zu bluten.
„Okay. Ich rufe ja sowieso den Krankenwagen – und ich muss die Polizei rufen. Tut mir leid.“
Aber er hatte sich schon abgewandt, tastete seine Taschen ab. „Fühlt sich an, als wäre ich in voller Montur Schwimmen gewesen. Ich suche mein Smartphone.“
„Das liegt vermutlich im Auto. Oder?“ Sie hatte ihr Smartphone schon am Ohr, wartete darauf, dass die Verbindung zustande kam.
Das Auto! Er fuhr herum. Wenige Meter neben der Straße, zwischen all dem tropfenden Wildwuchs, sah er das spärliche Abblendlicht, das im dichten, nassglänzenden Buschwerk versickerte. Sah den dunklen Umriss des X3 ganz nah neben einem dicken Baum.
Nein! Verdammt nein! Nicht das auch noch. Er fühlte sich unvermittelt dumpf, erledigt, stand mit geschlossenen Augen einen Atemzug lang nur da. Dieser ganze Tag war ein einziges sich steigerndes Desaster gewesen, und das hier war der Höhepunkt. Hoffte er jedenfalls.
Er verließ die Straße, stieg über niedergerissenes Buschwerk hinweg in den Wildwuchs. Rutschte unsicher umher und stolperte im Dunkeln über Äste, Wurzeln und herumliegende Steine auf sein Auto zu. Spürte jetzt, wie das Wasser bei jedem Schritt in seinen Schuhen quotschte, wie schwer die Kleidung an seinem Körper klebte und spannte. Vor ihm tauchten die Rücklichter auf. Zwischen Baumstämmen und niedergewalztem Buschwerk leuchteten sie ihm diffus entgegen; er fürchtete das Schlimmste.
Aber dann sah es gut aus. Er wischte den Regen aus dem Gesicht, atmete tief durch. Das hatte ihm zugesetzt, mit jedem Schritt mehr, die Befürchtung, den Wagen schwer beschädigt hier vorzufinden. Im Licht der Rückleuchten aber und in all dem nassen Chaos, welches ihn umgab, war der Wagen bis zum Dach verdreckt, aber unversehrt. Er folgte mit den Augen den Konturen, war zufrieden mit dem, was er erkennen konnte, öffnete die Beifahrertür und spürte augenblicklich so etwas wie einen elektrischen Schlag.
Im Licht der Innenbeleuchtung glitzerten auf den Sitzen und im Fußraum unzählige kleine Glassplitter und Glasbruchstücke, die Airbags an der Fahrertür hingen schlaff herunter. Beim Herausklettern hatte er all das nicht wahrgenommen – auch nicht, dass er sich an den Glassplittern geschnitten hatte. Aber die Empfindung war sofort zurück. Den Aufprall empfand er wie einen Nachhall mit anschließendem Schlag in den Magen. Er hatte den Wagen ruiniert. Der X3 war mit der ganzen Wucht seines Gewichts an einer dicken Fichte eingeschlagen. Die Fahrertür und der darunterliegende Holm hatten ihr nachgegeben und waren ins Innere des Wagens hineingepresst worden. Das war’s.
Zum wiederholten Mal wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht und schlug die Tür zu. Mit der nassen Kleidung konnte er sich sowieso nicht ins Auto setzen.
Das Smartphone! Genervt riss er die Tür wieder auf, musste sich über den Sitz hinunterbeugen, um das Smartphone aus dem Fußraum zu fischen.
„Sture Bengtson.“ Kopf und Arm waren noch im Fußraum, als Sture Bengtson wie eine Stichflamme in seinem Kopf aufleuchtete.
Bockmist verdammter! Er zog sich aus dem Fußraum zurück und ließ sich erschöpft auf die Sitzkante fallen, die Füße draußen auf dem Waldboden.
Sture Bengtson! Das war der ultimative Gau! Jetzt hatte er die Chance gründlich vermasselt.
Aber er musste diesen Kerl treffen. Musste ihn treffen, bevor der sein brisantes Material an den nächsten verkaufte.
„Sieht schlimm aus, oder?“ Die Fremde rief es herüber, stand auf der Straße an ihrem Land Rover.
„Noch schlimmer und nicht weniger.“ Erik schloss die Tür und stolperte zurück zur Straße. „Jetzt hänge ich hier fest. In jeder Hinsicht. Verdammt.“ Wütend kickte er einen größeren Stein ins Gebüsch.
„Kommen Sie, setzen wir uns in den Rover. Polizei und Krankenwagen sind unterwegs, dann haben wir es bald hinter uns.“
Er blickte in die Dunkelheit, die von den Rücklichtern des Rovers rot gefärbt wurde. „Müssen wir nicht irgendetwas für diese Lotta tun? Sie wird sich da unten den Tod holen.“ Die nasse Kleidung sperrte am Rücken und an den Knien, als er sich in den Rover hineinzog.
„Ich habe ihr eine dicke Decke hier aus dem Wagen übergelegt. Mehr kann ich nicht tun.“ Sie stellte die Klimaanlage auf ‚Heizen‘. „Ich bin nicht gerade empfindlich, aber jetzt bin ich durchgefroren.“ Sie zog sich zusammen, simulierte ein kräftiges Zittern und schob die tropfende Kapuze vom Kopf.
„Ich überhaupt nicht!“ Er ließ den Kopf nach hinten an die Stütze sinken. „Ich tu nur so und bin froh, dass ich ein wenig trocknen kann.“
„Wo bleiben Sie nachher? Haben Sie hier irgendwo etwas gebucht?“
„Ach man! Ja, das auch noch! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht hat die Polizei ein warmes Kämmerchen für mich – nur für diese Nacht.“ Er musterte sie von der Seite, sah ihr zu, wie sie mit einem Papiertuch über ihr Gesicht wischte. Sie hatte dichtes, naturblondes Haar, am Hinterkopf locker zusammengerafft und hochgesteckt. Er dachte, dass das irgendwie nicht zu ihr passte. Es wirkte zu rustikal. Aber andererseits sah es gut aus, so nach unkompliziertem Naturtyp, mit dem man Pferde stehlen konnte. Zwischen vierzig und fünfzig mochte sie wohl sein, schätzte er.
„Es geht weiter. Da hinten. Ich sehe es im Spiegel.“ Sie wies auf ihren Rückspiegel, zog sich die Kapuze wieder über den Kopf. Schon der Tür zugewandt, hielt sie einen Augenblick inne, sah dann noch einmal zurück, über die Schulter, so als sei ihr noch etwas eingefallen.
„Wir haben vielleicht noch ein Zimmer frei. Wenn Sie das lieber nehmen möchten, als in Polizeigewahrsam zu übernachten. Wir reden gleich darüber.“ Dann war sie draußen.
Erik folgte ihr, unwillig, schlug die Tür zu und verfluchte augenblicklich den Regen, der sofort wieder über ihn herfiel. Nachdem sie einige Minuten im warmen Auto gesessen hatten, empfand er den Regen als absolut hassenswert. Unverändert heftig prasselte er auf ihn herab, auf die Straße, überhaupt auf alles. Er fühlte sich ihm ausgeliefert und das machte ihn zunehmend wütend.
Das Polizeifahrzeug rollte hinter den Rover. Blaulicht zuckte durch den Regen, über nasses Buschwerk und holte einzelne Baumstämme aus der Dunkelheit. Und er konnte im Widerschein der Lichter sehen, dass die Beamten bereits im geräumigen Transporter ihre großen Regencapes überzogen, während ihm das Wasser schon wieder aus den Ärmeln lief. Hinter dem Polizeifahrzeug, in der Kurve noch, kam der Krankenwagen durch den Regen heran, eilig, mit aufgeregt zuckendem Blaulicht.