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Kapitel 5

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In Arvika fuhr Erik zuerst zum Hospital, um Lotta zu besuchen.

Die Schwester, die er auf dem Flur nach Lottas Zimmer fragte, sah ihn zunächst nur fragend an.

„Ich bin derjenige, der Lotta angefahren hat. Ich möchte sehen, wie es ihr geht.“

Lotta war mit einer anderen, älteren Frau in einem hellen Krankenzimmer untergebracht. Als er das Zimmer betrat, lag sie ganz still in ihrem Bett und sah einfach ins Nichts.

„Die Arme liegt den ganzen Tag so da, wie jetzt.“ Die alte Frau wies mit ihrem Kinn hinüber zu Lotta. „Reden kann man nicht mit ihr.“

„Das glaube ich gern. Aber, ich bin mir sicher, Sie würden es gar nicht hören wollen, was Lotta Ihnen erzählen könnte. Wissen Sie, was genau mit ihr ist?“

„Ihr Becken ist gebrochen, deshalb kann sie sich nicht groß bewegen.“

Er wandte sich Lotta zu, versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erregen, ihren Blick zu erfassen. Lotta lag da in ihrem blauen Krankenhaus-Nachthemd, sah nur geradeaus an die Wand.

Er blieb neben dem Bett stehen, beugte sich etwas vor, um Lotta ansehen zu können, und stützte sich dabei auf der Matratze ab.

„Lotta, ich habe mit dir gesprochen, oben im Wald. Es hat sehr stark geregnet und du hattest dich unter einem Busch versteckt. Weißt du das noch?“

Lotta sah unverändert ins Nichts, zwei, drei lange Atemzüge lang. Und dann geschah etwas, an das er sich später noch sehr genau erinnern sollte.

Als wäre endlich durchgesickert, was er da gerade zu ihr gesagt hatte, drehte sie ihr Gesicht in seine Richtung, suchte seinen Blick und tastete gleichzeitig ganz vorsichtig nach seiner Hand. Er kam ihr entgegen, fühlte ihre Hand ganz leicht und mit einem vorsichtigen Druck. So lange er im Raum war, blieben sie so verbunden.

Lotta hatte blaue Augen. Große, leere blaue Augen in einem kleinen, alten Gesicht. Und diese Augen waren unentwegt auf ihn gerichtet, still, ohne besonderen Ausdruck, so, als warteten sie auf etwas.

„Lotta, ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht. Vielleicht besuche ich dich noch einmal.“ Er spürte, wie sich der Druck ihrer Hand ganz leise etwas verstärkte, als wolle sie ihn halten. Er nahm seine Hand zurück und entfernte sich langsam von ihrem Bett. Ihre Augen blieben unverändert bei ihm, so als wüssten sie längst, dass er sie hier nicht noch einmal besuchen würde.

Erik fühlte sich erleichtert, als er das Krankenhaus verließ und zum Auto ging. Lottas unmittelbare Nähe bedrückte ihn, er mochte nicht länger in dem Zimmer bleiben. Außerdem wusste er jetzt, dass er Lotta durch den Unfall nicht nachhaltig geschädigt hatte. Der Beckenbruch war nicht gefährlich, er würde ausheilen. Er konnte sich jetzt ganz auf Sture Bengtson konzentrieren.

Vorsichtshalber schaltete er auf dem Weg zum Rover sein Smartphone aus. Das war etwas, was er nur selten tat, und es war ihm in der Nacht eingefallen. Er wollte während des Gesprächs mit Sture keinesfalls gestört werden. Aber vor allem wollte er unbedingt vermeiden, dass man ihn über sein Smartphone orten konnte. Er hatte sich in der Nacht vorgestellt, dass jemand Stures Bewegungen überwachte und dabei sein Smartphone in unmittelbarer Nähe zu Sture lokalisierte. Er hielt es für besser, wenn das nicht geschah.

Vom Krankenhaus bis zur Pizzeria waren es nur drei Kilometer. Er hatte noch gut eine halbe Stunde Zeit und konnte deshalb ganz entspannt auf der Route 175 fahren, bis er schon von weitem die Werbefahnen im Wind flattern sah.

Der Parkplatz vor der Pizzeria war ziemlich groß und um diese Uhrzeit eigentlich leer. Lediglich direkt vor dem Eingang des Lokals stand ein dunkler VW-Van mit laufendem Motor und einige Meter seitlich davon parkte ein schwarzer Volvo neuerer Bauart.

Er hatte das Gefühl, dass es ein Fehler wäre, würde er jetzt geradewegs in das Lokal hineingehen. Dieses Treffen war durchaus kitzlig, und er zog es vor, zunächst einmal abzuwarten. Ohne jede Eile setzte er den Rover nahe der Einfahrt zum Parkplatz in eine Parkbox, von der er einen guten Überblick über seine Umgebung hatte. Es war ja gut möglich, dass Sture erst im allerletzten Augenblick hier auftauchte. Er würde auf keinen Fall vor Sture das Lokal betreten.

Es war genau dreizehn Uhr siebenundvierzig, als er es sich in seinem Ledersitz bequem machte. Etwas träge betrachtete er das Lokal, das jetzt genau in seiner Blickrichtung lag. Ein ebenerdiges Gebäude, gepflegt und noch ziemlich neu; an der rot gestrichenen Wand befanden sich noch keine Graffitis.

Auf der Rückseite des Lokals stand ein heller Lieferwagen, dessen Vorderteil gut einen Meter hinter der Wand vorragte. Die Motorhaube war in kräftigem Rot und Grün beschriftet und trug das Firmenlogo der Pizzeria. Alles war spiegelverkehrt aufgebracht, was ihn herausforderte, einen langen Hals zu machen und so die Schrift möglichst rasch zu entziffern. Kein leichtes Unterfangen auf die Entfernung, weshalb er hochkonzentriert mit Tunnelblick auf diese Schrift fokussiert war.

Unversehens wurde er gestört. Etwas bewegte sich am Rande seines Blickfeldes, und sein Blick glitt hinüber zur Eingangstür. Die Tür war in einer heftigen Bewegung aufgeschwenkt und ebenso heftig wieder zugerissen worden. Einen kurzen Augenblick lang blieb sie das auch. Dann eine leichte Bewegung und plötzlich stand ein kleiner Junge vor der Tür. Vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, war er offensichtlich geschockt, stand mit angewinkelten Armen weinend da. Starrte auf die Tür, hilflos, auf etwas wartend.

Die Tür bewegte sich wieder, hin und her, als würde darum gerungen. Schließlich flog sie auf, geradezu explosiv, und spuckte eine eher kleine, dickliche Frau in einem blau-weiß gemusterten Kittel aus. Aufgeregt, geradezu hysterisch fuchtelte sie mit den Armen dicht vor der Tür herum. Griff endlich nach dem Kind, eilte, das Kind hinter sich herziehend, unerwartet flink von der Tür fort und verschwand hinter dem Gebäude.

Gespannt auf die Fortsetzung beugte Erik sich vor, näher zur Windschutzscheibe, stützte sich mit den Unterarmen oben auf dem Lenkrad ab. Beobachtete das Geschehen, wachsam jetzt. Vielleicht war ja auch alles ganz harmlos. Da hatten sich zwei gestritten. Der Mann war gewalttätig und die Frau war mit dem Kind vor ihm geflohen. Vorstellbar war das.

Mit verengten Augen sah er hinüber zur Tür, wartete auf eine Fortsetzung des Geschehens. Möglicherweise erschien ja der gewalttätige Kerl vor der Tür.

Einen langen Augenblick aber geschah nichts weiter. Er sah die Frau in ihrem Kittel, das Kind immer noch hinter sich herziehend, zwischen den weiter zurückliegenden Häusern verschwinden. Der Parkplatz wirkte jetzt ebenso eintönig, friedlich wie zuvor. Aber diese Ruhe war nicht echt, sie knisterte geradezu. Er fühlte das körperlich und war auf der Hut.

Und dann war es genau vierzehn Uhr. Eigentlich müsste er jetzt den Rover verlassen und zur Pizzeria hinübergehen. Er traute sich nicht. Er traute dem gesamten Vorgang nicht. Vielleicht wurde da drinnen gerade eine Pizza gebacken, die möglicherweise zu heiß für ihn war.

Aufmerksam beobachtete er den Eingang. Ließ den Motor laufen, bereit, sofort zu verschwinden, wenn es sein musste. Und je länger sich nichts tat, der Eingang wie tot wirkte, umso spürbarer verdichtete sich sein ungutes Bauchgefühl. Garantiert lief da drinnen etwas falsch, er fühlte es förmlich, und vielleicht lief die Sache gerade auf ihn zu.

Dieser dunkle Van, er hatte den die ganze Zeit nicht weiter beachtet. Aber der stand einfach nur da, nicht im eigentlichen Parkbereich, sondern nahe bei der Tür, mit laufendem Motor. Der wartete bestimmt nicht darauf, dass seine Pizza fertig wurde. Da wollte jemand möglichst schnell abhauen. Oder es war einfach Sture Bengtson mit einem theatralischen Auftritt.

Aber dafür ließ der ja nicht den Van mit laufendem Motor da warten. Außerdem, die Frau war mit dem Kind nicht ärgerlich aus dem Haus gerannt, weil sie sich mit ihrem Mann gestritten hatte. Die war um ihr Leben gerannt. Falls Sture da drin war, warum sollte er diese Leute bedrohen?

Er war sich jetzt sicher, da war etwas ganz anderes im Gange, und das kam immer näher an ihn heran.

Abbrechen! Sofort abhauen!

Im gleichen Augenblick, als er die Bremse löste, tat sich etwas am Eingang und er stoppte sein Vorhaben. Jetzt bloß keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Angespannt und immer noch fluchtbereit beobachtete er den Eingang, ließ dabei den Van nicht aus den Augen. Sah die Tür am Haus einen Spalt weit aufgehen. Eine Hand ragte kurz heraus und gab Zeichen hinüber zum Van. Schon einen Augenblick später wurde sie entschlossen ganz aufgestoßen und zwei Männer, kahlköpfig, Jeans, dunkle Blousons, traten dicht hintereinander aus dem Haus. Das sind Russen, dachte er.

Zügig, aber ohne jede Hektik gingen sie hinüber zum Van, stiegen ein, und der Wagen beschleunigte augenblicklich und verschwand zwischen den Häuserblocks am Rand des Parkplatzes.

Erik lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz. Er war froh, nicht hineingegangen zu sein. Das waren keine Typen, mit denen man gerne Pizza aß.

Vielleicht brauchte Sture Bengtson jetzt Hilfe. Aber er traute dem Braten immer noch nicht. Er war feige, absolut, und er fühlte sich deswegen schäbig, aber er mochte auf keinen Fall jetzt dort hineingehen. Jedenfalls nicht sofort. Die Ruhe, die ihn umgab, bedrohte ihn eher, war nicht echt. Er musste hier weg.

Reflexartig tauchte er etwas tiefer in den breiten Ledersitz, hielt den Atem an, als könne der ihn verraten: Der dunkle Van kam zurück. Ruhig, geradezu schleichend schob er sich hinter dem letzten Wohnblock hervor. Der musste etwas weiter unten auf die Route 175 aufgefahren sein und kam jetzt zurück. Kriechend langsam rollte er auf den Parkplatz zu.

So kam er nicht mehr hier weg. Verdammter Mist!

Vielleicht hatten die ihn beim Wegfahren entdeckt und überlegten nun, was sie mit ihm anstellen sollten. Ohne sich in seinem Sitz zu bewegen, ohne den Kopf zu wenden, folgte er dem Fahrzeug mit den Augen. Wartete darauf, dass es die 175 an der Abfahrt wieder verlassen und herüberkommen würde.

Und dann, alle Aufmerksamkeit unter höchster Anspannung auf den Van gerichtet, riss ihm der Schreck fast die Brust auf und ließ seine Bewegungen einfrieren.

Mit einem gewaltigen Donnerschlag und ebensolchem Druck flog ein Teil des Hausdaches, zerlegt in unzählige Trümmerteile, in die Luft. Und nur um einen Sekundenbruchteil verzögert brach es mit Gewalt aus der Rückseite des Hauses, warf den Lieferwagen um und begrub ihn unter einem Hagel aus Ziegeln, Mörtel und allen möglichen Teilen aus dem Innenraum.

Es riss ihn im Sitz nach oben, riss ihn nach vorn, trieb ihn weg von diesem Ort, ließ ihn ohne jedes Bewusstsein die Automatik schalten, Gas geben, den Parkplatz verlassen. Er funktionierte einfach nur, fuhr direkt neben dem Parkplatz auf die Route 175 auf und merkte erst nach einigen Minuten, dass er sich in die falsche Richtung bewegte. In die Richtung, in die auch der dunkle Van gefahren war.

Sein Körper schockte, schwitzte, Arme, Hände, Beine, alles zitterte, war außer Kontrolle. Der dunkle VW-Van! Er fuhr ihnen jetzt vielleicht genau in die Arme.

Er wagte nicht, auf den nächsten Parkplatz an der Straße zu fahren, um dort zu wenden. Er fuhr daran vorbei, fuhr einfach weiter, immer weiter, fast zehn Kilometer. Dann fuhr er ab, rollte durch eine Siedlung und blieb auf dem Parkstreifen vor einer Kirche stehen. Immer noch war sein Körper in Aufruhr, sein Kopf vollkommen leer. Da war nichts. Er bekam keinen klaren Gedanken auf die Reihe. Vielleicht sollte er aussteigen, sich bewegen, einige Meter gehen.

Er sah zur Kirche hinüber, einer kleinen, typisch nordischen Kirche mit einem breiten, nicht sehr hohen Glockenturm. Aber dann hatte er Sorge, sich nicht adäquat unter Kontrolle zu haben und deshalb aufzufallen. Er blieb sitzen, holte tief Luft, noch mal und wieder und hatte dabei alle Spiegel am Fahrzeug im Blick.

Fünfzehn Minuten saß er so da, bis er das Gefühl hatte, wieder zuverlässig normal zu funktionieren. Er ließ er den Rover wieder an und rollte los, schlug einen Bogen und fuhr wieder auf die Route 175, diesmal in Richtung Arvika.

Erik sah sie schon von weitem, die mächtige dunkle Rauchwolke, die von der Hitze getrieben senkrecht hinter den Wohnblocks aufstieg. Und je näher er dem Parkplatz kam, umso mehr verlangsamte sich der Verkehr, bis er sich am Ort des Geschehens nur noch im Schritttempo bewegte.

Die Pizzeria, eine halbe Stunde zuvor noch ein einladendes Restaurant, war nur noch eine brennende Ruine. Auf ganzer Breite loderten die Flammen hoch aus dem Gebäude, trieben mit ihrer Hitze den dunklen Rauch in die Höhe.

Am Rand des Parkplatzes, dort wo er zuvor den Rover geparkt hatte, parkten jetzt drei Polizeifahrzeuge. Mehrere Polizeibeamte standen neben dem schwarzen Volvo, der noch immer an der gleichen Stelle stand. Bei den Polizeibeamten stand die Frau im blau-weißen Kittel und lamentierte.

Sture Bengtson! Er war die einzige logische Erklärung für diese Katastrophe. Und er musste sich noch dort aufgehalten haben, als das Inferno begann. Alles andere ergab keinen Sinn. Die hatten ihn einfach da drin gegrillt, diese beiden Typen, die er als letzte dort hatte herauskommen sehen. Sein Blick glitt kontrollierend über seine Rückspiegel.

Der Verkehr lief wieder flüssiger und das Navi forderte ihn auf, im Kreisverkehr die nächste Ausfahrt zu nehmen.

Wenn er da rein gegangen wäre… Erwogen hatte er das ja. Das war schon knapp gewesen. Er mochte nicht glauben, dass diese Muckitypen aus dem dunklen Van eine persönliche Rechnung mit Sture zu begleichen hatten. Das war nicht die Art der Rechten. Das hier war eine ganz andere Hausnummer.

Sture war hier, um sich mit ihm, einem Journalisten, zu treffen. Er hatte also etwas zu verkaufen. Es war durchaus möglich, dass Sture etwas ziemlich Heißes auf der Pfanne gehabt hatte. Heiß genug, dass sich jemand daran gewaltig die Hände verbrannt hätte, wenn Sture seine Ware losgeworden wäre. Wenn.

In den Abendnachrichten bestätigte sich Eriks Befürchtung: Sture Bengtson war in dem Lokal gewesen, als dieses in die Luft flog, Sture und der Besitzer der Pizzeria.

Das Kind und die Frau hatten die Kerle zuvor gehen lassen. Anschließend hatten sie alle Gasflaschen geöffnet, vorhandene Zuführungen abgerissen, eine Zündquelle geschaffen und waren dann davongefahren. Die Hintergründe der Tat waren nicht erkennbar. Die Polizei fahndete nach einem dunklen Van, Kennzeichen unbekannt. Das war’s.

Es würde nie etwas Verwertbares herauskommen, Erik war sich sicher. Nur, was steckte dann hinter dieser Aktion? Sture war erklärter Neonazi, viel weiter „rechts“ ging nicht. Aber Sture hatte die Verbindung zu ihm gesucht, weil er wusste, dass er für eine Reportage über das Abdriften des schwedischen Staates nach rechts recherchierte. So, wie er das verstand, erschien diese Aktion ziemlich unlogisch. Es musste da noch etwas anderes geben. Sture hatte etwas für ihn, das es ihm wert war, Kopf und Kragen dafür zu riskieren.

„Du warst doch in Arvika. Hast du etwas davon mitbekommen?“ Anneke riss ihn aus seinen Gedanken. Sie saß im Sessel neben ihm und wies hinüber zum Fernseher.

„Nein, gar nichts. Keine Feuerwehr, keine Polizei. Ich war wohl auf der anderen Seite von Arvika.“

„Das Krankenhaus, in dem Lotta liegt, ist aber schon in der Nähe dieser Pizzeria. Ich weiß, wo das ist.“

„Ja? Dann habe ich ja Glück gehabt und bin an dem ganzen Auflauf vorbei gekommen.“ Er schenkte Anneke ein kleines Lächeln. „Möglicherweise bin ich auch einfach nur ignorant und kriege nur mit, was mich gerade interessiert.“

„Das wäre gut für dich.“ Anneke wandte sich wieder dem Fernseher zu.

Erik hatte zwar gehört, was sie gesagt hatte, aber es war ihm gleichgültig, ihm war sein Smartphone eingefallen. Es war immer noch abgeschaltet, und das musste es auch zunächst noch bleiben. Aber das machte ihn unruhig. Vielleicht hatte Kai ihm eine Nachricht gesandt. Er würde später nachsehen.

In der Nacht kam Sture Bengtson zu ihm.

Der Traum begann damit, dass er Lotta besuchen wollte. Er sah sich selbst auf dem Flur des Krankenhauses, sah sich, wie er Lottas Zimmer betrat. Aber Lotta war nicht da. War nicht in ihrem Krankenzimmer. Überhaupt war das Zimmer vollkommen leer, keine Lotta, kein Bett, kein Schrank, nichts. Er verließ das Zimmer und lief hinüber zu dem Raum, in dem er die Schwestern wusste. Sah dort durch die große Scheibe in den Raum hinein. Aber dieser Raum war nicht mehr das Schwesternzimmer. Das Licht im Raum war eher dämmerig, die Schränke waren fort, es gab keine Tische mit Formularen, Stiften und Computer-Bildschirmen. Der Raum war vollkommen leer – bis auf Lotta und einer ungeheuren Menge Wasser.

Lotta stand aufrecht mitten im Raum. Stand bis zum Bauch im Wasser. Regen in dicken Tropfen fiel von der Decke herab und ließ das Wasser unaufhörlich steigen.

Lotta hielt den Kopf gesenkt, sah ihn aber von unten herauf mit leeren Augen an. Sie trug ihr weißes, langes Gewand, die grauen Haare fielen ihr nass und schwer eng am Kopf herunter bis weit über die Schultern.

Er griff an die Tür. Verschlossen.

Er sah sich an der Tür reißen und rütteln. Die Tür blieb verschlossen. Endlich rief er, schrie über den leeren Flur. Niemand schien ihn zu hören.

Im Raum Lotta, die jetzt nah an die Scheibe gekommen war. Das Wasser war ihr schon über den Bauch hinaufgestiegen, stand ihr schon bis unter der Brust. Sie hatte den Kopf gehoben, blickte ihn direkt an. Unvermittelt hob sie ihren rechten Arm aus dem Wasser, streckte ihn gerade heraus zur trennenden Scheibe, hielt ihm die Hand offen entgegen.

Er hielt das nicht aus, schrie wieder und wieder um Hilfe. Wandte sich entsetzt ab von der Scheibe, von Lotta und rannte los. Lief den breiten Krankenhausflur hinunter, der schier endlos auf eine gleißend helle Lichtquelle zuführte. Er rannte darauf zu, riss und rüttelte an Türen, suchte nach einem Ausgang wie die Ratte im Käfig.

Abrupt blieb er stehen: Aus der Helligkeit kam ihm ein Mensch entgegen. Tauchte schemenhaft im gleißenden Licht auf, kam rasch auf ihn zu.

Sture Bengtson!

Und noch bevor sie sich begegneten, tauchte hinter ihm, im hellen Licht, ein weiterer Sture auf und bald darauf wieder einer. In bodenlangen steingrauen Gewändern schwebten ihm diese Gestalten entgegen. Und sie schwebten groß auf ihn zu, waren wesentlich größer als er. Waren dünn wie ausgehungert. Ihre Gesichter hager, fahl, mit großen, dunklen, aber ausdruckslosen Augen und einem zum Schrei geöffneten Mund.

Unfähig, sich zu rühren, sah er ihnen entgegen. Sah zuerst noch einen nach dem anderen kommen, bald aber tauchten gleich mehrere zur gleichen Zeit auf. Aus der Helligkeit heraus kamen sie direkt auf ihn zu, als hätten sie nur auf ihn gewartet. Er wich ihnen aus, ließ sie ins Leere schweben, bevor sie ihn erreichen konnten, einmal und dann wieder und wieder. Lief endlich los, von Angst gejagt, zwischen ihnen hindurch. Aber es wurden mehr und mehr und immer mehr. Der Strom seelenloser Sture Bengtsons wurde dichter und dichter, drängte sich immer näher an ihn heran.

Und dann packte ihn das Entsetzen, als er realisierte, dass er dabei war unterzugehen, von den Kreaturen aufgezehrt zu werden. Noch einige wenige kraftlose Schritte voran, ein letztes verzweifeltes Aufbegehren. Er kam nicht mehr weiter. War eingeschlossen, gefangen von einem Heer dämonischer Sture Bengtsons, die ihn ohne einen Laut anschrien.

Er war verloren, fühlte es, wollte selber schreien und bekam keine Luft mehr.

Das war das Ziel. Jetzt drängten sie hart an ihn heran. Drückten ihn, pressten ihn, so dass er nicht mehr atmen konnte. Er schlug um sich, keuchte, röchelte, gierte nach Luft, drohte zu ersticken…

Erik wachte auf, fuhr hoch im Bett.

Einen Augenblick lang saß er im Dunkeln auf der Bettkante, sog die Luft in sich hinein, schnaufte wie nach einer großen Anstrengung. Sein Hemd klebte an seinem Körper. Seine Bettdecke lag auf dem Boden vor dem Bett.

Er musste raus. Griff nach seiner Hose, seinem Pulli. Raus aus dem Raum, raus aus dem Haus, hier bekam er keine Luft. Alles um ihn herum war plötzlich zu eng.

Auf der Wiese hinter dem Haus zog er Hose und Pulli über seinen Pyjama und ging zum See hinüber. Mit verschränkten Armen stand er eine Weile nur da, sah auf das dunkel blinkende Wasser, den Kopf voller Bilder, aber ohne klaren Gedanken.

Auf einmal war da etwas. Erik fühlte, dass er nicht alleine hier draußen war; jemand war in seiner Nähe. Angestrengt horchte er, ging einen Schritt zur Seite, weg vom Wasser. Endlich wandte er sich um.

Ulrike stand hinter ihm. Gut einen Meter von ihm entfernt und etwas seitlich stand sie dort, die Arme ebenfalls vor der Brust verschränkt, und beobachtete ihn. Er hatte sie nicht kommen hören.

„Du hast laut gestöhnt, vorhin, im Haus. Laut gesprochen und gestöhnt. Geht es dir nicht gut?“

„Ich habe schlecht geträumt. Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.“

„Hast du öfter solche Träume?“

„Fragst du mich das jetzt als Neurologin?“

„Träume können sehr aufschlussreich sein. Es interessiert mich halt.“

„Eigentlich schlafe ich traumlos, glaube ich. Ich wache morgens auf, ohne mich an einen Traum zu erinnern. Heute, das war außergewöhnlich. Und es tut mir leid, Ulrike.“

„Sagtest du schon. Vielleicht war dein Tag heute ja außergewöhnlich.“

Erik sah sie nicht an, sah aufs Wasser hinaus, nickte leise mit dem Kopf.

„Wohl wahr, das war er.“

„Du bist als Journalist hier. Ich denke, du hast dich mit diesem Bengtson getroffen. Oder?“

Augenblicklich war er hellwach. Annekes Äußerung schallte in seinem Kopf:

Das wäre gut für dich.“

„Lassen wir das, Ulrike. Ich weiß nicht, wer dieser Bengtson war. Anneke hat mich am Abend auch schon damit genervt. Nur weil ich in Arvika war, während diese Geschichte passiert ist, muss ich doch nicht zwangsläufig daran beteiligt gewesen sein. Das ist doch naiv, das ist Unsinn – oder Wunschdenken.“

„Gut, lassen wir das. Ich wollte dich nicht aushorchen. Ich hatte das Gefühl, dass dich etwas bedrückte, und ich habe nur versucht, mit dir darüber zu reden. Manchmal geht es einem danach ja besser. Also dann, ich gehe jetzt wieder rein. Kommst du mit?“

„Nein. Einen Moment bleibe ich noch, sonst träume ich gleich noch die Fortsetzung. Es tut mir leid. Ich wollte nicht grob sein.“

Erik blickte hinter Ulrike her, die über die Wiese zum Haus zurückging. Diese Frau war ihm ein Rätsel. Aber wie auch immer, sie wäre genau das, was ihn heute Nacht aus seinem Jammertal holen würde. Wäre.

Er wandte sich wieder dem dunklen Wasser zu.

Was war das heute für ein Scheißtag. Einer von der Sorte, an denen man noch lange herumkaute. Aber genau genommen war das ganze Unternehmen vom ersten Tag bis hierher einfach nur Bockmist. Hätte er sich nicht verfahren, wäre ihm dieser ganze Schiet erspart geblieben. Er hätte seine Story und wäre schon wieder zu Hause.

Er ging bis an die Wasserkante, setzte sich dort auf einen großen Stein.

Wie stand er jetzt da? Ohne Sture Bengtson. Sture hatte ihm einen Paukenschlag, eine politische Explosion versprochen.

Und dann noch die Sache mit seinem Vater.

Er musste diese Reportage zu Ende bringen. So gut, aber auch so schnell wie es ging. Und danach würde er sich mit diesem Kerl befassen.

Tod eines Agenten

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