Читать книгу VIRUS – Im Fadenkreuz - Lars Hermanns - Страница 7
Frankfurt
ОглавлениеKnapp vier Stunden später fuhren Jan und Natascha in seinem weißen Kadett die Friedberger Landstraße entlang nach Frankfurt.
»Du hättest mich wirklich nicht fahren müssen«, beteuerte Natascha zum wiederholten Male. Während des Essens beim Griechen waren sie zum vertrauten ›Du‹ übergegangen.
»Papperlapapp«, antworte Jan erneut. »Es regnet noch immer, und außerdem sollte eine hübsche Frau wie du abends nicht allein mit der S-Bahn fahren müssen.«
»Ach, du findest mich hübsch?«, kokettierte sie mit einem zuckersüßen Lächeln.
Jan wurde verlegen und konzentrierte sich auf den Verkehr, da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte.
»Du bist süß. Danke. Du, da vorn musst du nach links …«
Wenige Minuten später standen sie vor einem großen Mehrfamilienhaus in einem Viertel, das mehreren solcher Wohnhäuser Platz bot. Entlang der Straße gab es einige Parkplätze, doch um diese Uhrzeit waren die meisten bereits belegt. Zwischen den Häusern gab es sogar Grünflächen, teilweise mit Sträuchern und Bäumen bepflanzt. Kein schlechter Platz, um in Frankfurt am Main doch noch halbwegs das Gefühl zu haben, im Grünen zu wohnen.
»Möchtest du auf einen Kaffee mitkommen?«
»Hast du auch Tee?«, fragte Jan.
»Ja«, antwortete Natascha lachend, »damit kann ich auch dienen.«
Jan lenkte seinen alten Opel auf einen der wenigen Parkplätze, anschließend gingen er und Natascha, locker miteinander plaudernd, die restlichen rund hundert Meter zu Fuß.
Nataschas Wohnung lag im dritten Stock eines vierstöckigen Mehrfamilienhauses und war, wie Jan bemerkte, doch recht schlicht eingerichtet. Alles war in Weiß gehalten: Fliesen, rau verputzte Wände und Decken, Möbel. Vor allem aber vermisste Jan das, was normalerweise die Wohnung von Frauen kennzeichnete: Das Persönliche! Es gab keinerlei Nippes, keine gerahmten Fotos von Freunden und Familie.
»Setz dich bitte, ich gehe schnell in die Küche«, sagte Natascha und verschwand.
Jan blickte sich um, und irgendwie kam ihm all das sehr surreal vor. Natascha war traumhaft schön und wirkte beinah wie das Bildnis einer Göttin, überlegte er. Wäre er zehn Jahre jünger gewesen, hätte es ihn vielleicht nicht einmal besonders gewundert, von einer hübschen Frau nach oben gebeten worden zu sein. So jedoch wunderte er sich schon sehr. Und wieder fiel ihm auf, dass er nichts Persönliches von Natascha entdecken konnte. Die Bücher in den Regalen waren zwar interessant, doch trotz allem kam ihm die Wohnung kalt und ohne Leben vor.
Natascha kam plötzlich aus der Küche und trug ein Tablett mit zwei Gläsern: Ein Longdrinkglas und ein Martiniglas. »Du sagtest vorhin beim Essen, dass du gern Gin Tonic trinkst«, flötete sie heiter und reichte Jan das Longdrinkglas.
»Danke, das ist lieb«, sagte Jan, während er das Glas entgegennahm. »Doch ich muss gleich noch Auto fahren.«
»Ist doch bloß ein Glas«, erwiderte sie und nahm ihrerseits das Martiniglas, in dem eine Olive in einer klaren Flüssigkeit schwamm.
»Was trinkst du?«, fragte Jan.
»Wodka Martini«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Geschüttelt, nicht gerührt.« Wieder lachte sie herzhaft auf und blickte Jan direkt danach tief in die Augen. »Komm, lass uns anstoßen.«
»Gern«, sagte er. »Aber bitte, nur dieses eine Glas.«
Sie stießen miteinander an und tranken jeder einen kräftigen Schluck ihres Getränks.
»Ist er dir so recht?«, fragte Natascha, und Jan bejahte, während er sich schließlich auf ihrer weißen Ledercouch niederließ.
»Was arbeitest du eigentlich?«, fragte er sie plötzlich, und Natascha versah ihn mit einem merkwürdigen Blick.
»Ich arbeite an der Frankfurter Universität als Labortechnikerin. Und du?«
»Vermögensberater.«
»Vermögensberater?«, fragte sie mit einem zweifelnden Unterton nach. »Wieso fährst du dann nur einen uralten Opel? Ich dachte immer, euch ginge es in eurer Branche so gut.«
»Weißt du«, setzte Jan an, »es gibt zweierlei Typen von Vermögensberatern: Die einen arbeiten für ihre Kunden, die anderen für sich selbst.«
»Das verstehe ich nicht, fürchte ich.«
»Es geht um Provisionen. Wenn du einen Vermögensberater wählst, wird er dir früher oder später allerlei Produkte verkaufen wollen. Diese sind nicht unbedingt schlecht, doch kannst du nur selten sicher sein, dass sie auch zu hundert Prozent zu dir passen oder gar nötig sind. Doch der Vermögensberater macht seinen Schnitt, streicht die Provision für die neuen Verträge ein und freut sich, dass er erfolgreich einen neuen Kunden an Land gezogen hat.«
»Ooooookay … und die anderen?«
»Die anderen sind die armen Schweine, die ehrlichen Vermögensberater, die eben nicht auf Provisionsbasis arbeiten. Sie nehmen stattdessen einen festen Stundensatz für die Beratung, und es liegt beim Kunden allein, ob man eine halbe Stunde oder gleich mehrere Stunden mit ihm verbringt.«
»Und dadurch verdient man weniger Geld, nehme ich an?«
»Ganz genau«, antwortete Jan und nahm einen weiteren Schluck von seinem Gin Tonic. »Ich werde dadurch zwar nicht reich werden, doch behalte ich wenigstens mein reines Gewissen.« Er trank noch ein Schluck Gin Tonic und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde lockerer, ungezwungener. »Und wie schaut es da bei dir aus? Was machst du so im Labor?«
Natascha setzte sich dicht neben Jan auf die Couch, und er bemerkte erst jetzt, dass ihre weiße Bluse einen Knopf zu weit geöffnet war als es sich eigentlich geziemt hätte. Und ihr Parfüm roch verführerisch. Schnell trank er wieder einen Schluck und erwiderte Nataschas feurigen Blick, als sie antwortete.
»Ich bin Labortechnikerin und analysiere zumeist verschiedene Stoffe. Je nach Auftrag geht es um Verträglichkeit, um enthaltene Substanzen. Manchmal geht es aber auch um Bakterienkulturen. Nichts Aufregendes.«
»Bakterien? Ist das nicht gefährlich?«
»Nein«, antwortete sie. »Nicht in meinem Bereich. Für die Arbeit mit potenziell gefährlichen Viren bräuchte ich eine besondere Freigabe, und die möchte ich auch gar nicht haben.«
Jan nickte und leerte sein Glas.
»Möchtest du noch eins?«, fragte Natascha, doch Jan winkte ab.
»Wieso ich?«, fragte er sie plötzlich.
»Was meinst du?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage und trank danach ebenfalls ihr Glas leer.
»Wieso hast du mich angesprochen? Wieso wolltest du mit mir essen gehen?«
»Wieso nicht?« Sie lächelte ihn herausfordernd an.
»Ich bin fünfundvierzig Jahre alt, Natascha. Deshalb. Wie alt bist du? Fünfundzwanzig?«
»Ich bin neunundzwanzig. Was hat das bitte mit dem Alter zu tun?«
»Du bist sehr attraktiv, könntest vermutlich jeden Mann haben, den du willst.«
»Danke.«
»Wieso suchst du dir also ausgerechnet mich aus?« Jan spürte, als er die Frage fertiggestellt hatte, dass die Stimmung kippen könnte.
»Es war nicht geplant, es kam spontan über mich. Du hattest so verträumt ausgesehen, so melancholisch. Und außerdem: Für was soll ich dich denn bitte ausgesucht haben?«, fragte sie und schmunzelte ihn an.
»Ich weiß es nicht. Sag du es mir.«
»Wieso machst du es uns so schwer, Jan? Ich bin erwachsen, du bist erwachsen, ich finde dich sympathisch und nett, und ich scheine dir auch nicht unsympathisch zu sein.«
»Das ist es nicht …«, antwortete er verunsichert. Verdammt nochmal, dachte er bei sich, was tue ich hier eigentlich? Zudem spürte er, wie ihm langsam die Glieder schwer wurden, obwohl er doch nur einen einzigen Gin Tonic hatte.
»Sondern?«, bohrte Natascha indes nach.
»Es ist nur ……… Ich bin verwitwet.«
Nun war selbst Natascha sprachlos. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eine gefühlte Ewigkeit lang saßen sie bloß stumm nebeneinander, wobei sie immer wieder versuchte, ob sie ihm wieder in die Augen blicken konnte. Doch Jan blickte betrübt nach unten auf den Boden.
»Sie starb vor knapp drei Jahren an einem Aneurysma, ist einfach umgefallen und war tot.«
»Das tut mir ehrlich leid, Jan.«
»Wir kannten uns schon seit unserer Kindheit, waren die besten Freunde, dann wurde es mehr, bis wir schließlich im April 2000 geheiratet hatten. Sie war meine erste und einzige Frau …«
»Ich verstehe«, sagte Natascha leise.
»Sag mal«, wandte sich Jan schließlich an sie. »Könnte ich bitte ein Glas Wasser bekommen?«
»Natürlich. Ich hol dir eins …«
Als Natascha aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, lag Jan auf der Couch und schlief.
»Jan?«, fragte sie und schüttelte ihn an seinem Arm. »Jan?«
Doch er antwortete nicht, schlief seelenruhig auf der Couch und ließ sich nicht wecken.
»Na, Gott sei Dank«, sagte Natascha leise zu sich selbst, während sie Jans Puls am Hals maß. Ruhig und gleichmäßig … er schlief einfach tief und fest.
Sofort machte sie sich an die Arbeit, was ein wahrer Knochenjob war. Zwar war sie durchtrainiert und hielt sich mit Kampfsport und Jogging fit, doch Jan wog mit Sicherheit an die hundert Kilo, und dieses Gewicht würde sie nun allein bewegen müssen. Sie packte ihn, hob vorsichtig seinen wuchtigen Oberkörper an und lehnte ihn an sich, um ihm sein Poloshirt auszuziehen. Als das geschafft war, lehnte sie den Oberkörper vorsichtig wieder zurück auf die Couch und öffnete den Gürtel, um Jan die Hose und Unterhose auszuziehen. Zuletzt zog sie ihm die Socken aus und war froh, dass er seine Schuhe bereits beim Betreten der Wohnung ausgezogen hatte.
Als Natascha nun auf den völlig nackten Mann hinabblickte, sah sie, dass er in früheren Jahren mal recht sportlich gewesen sein musste. Brust, Schultern und Arme waren noch immer recht gut trainiert, doch sein Bauch war deutlich gepolstert.
Nun kam der schwerste Teil der Arbeit: Sie packte Jan vorsichtig, hob den Oberkörper an, griff seitlich schräg von hinten unter seinen Achseln durch und ergriff vor dem Brustkorb seine Unterarme, um den schweren Körper unbeschadet in ihr Schlafzimmer zu ziehen. In diesem Moment bedauerte sie, dass Jan so ein anständiger Kerl war. Ein Aufreißer und Draufgänger, der jetzt bereits mit ihr im Bett gelegen hätte, wäre ihr in diesem Moment deutlich lieber gewesen.
Nach wenigen Momenten hatte sie es jedoch geschafft. Sie hievte den Körper auf das Bett, drehte ihn entsprechend zurecht und vergaß auch nicht das wichtigste Detail: Sie zog noch einmal ihren Lippenstift nach und beugte sich schließlich über seine Lenden, um eindeutige und unmissverständliche Spuren von Leidenschaft zu hinterlassen. Und sie war heilfroh, dass er sehr gepflegt war und auf regelmäßiges Duschen zu stehen schien. Danach deckte sie ihn vorsichtig mit dem Satinlaken zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
Aus der Jeans förderte sie sein Portemonnaie hervor, daraus seinen Führerschein, seine Kreditkarte und seinen Personalausweis, die sie allesamt mit ihrem Smartphone fotografierte und direkt an Odysseus schickte. Sie wusste, dass er sofort mit den Nachforschungen über Jan beginnen würde. Dann würde es hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis sie mehr erführe.
Anschließend zog sie sich selbst aus und kroch zu Jan ins Bett. Sie küsste ihn ungestüm, um ihren Lippenstift noch in seinem Gesicht zu verteilen. Mit einem »Es tut mir leid« gab sie ihm noch einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange und legte sich schlafen. Sie hatte Jan Gamma-Hydroxybuttersäure in seinen Gin Tonic gegeben, eine Substanz, die in Deutschland seit 2002 verboten und unter dem Begriff GHB oder Liquid Ecstasy bekannt geworden war. Natascha wusste, dass die Wirkung der k.o.-Tropfen nach etwa einer Viertelstunde einsetzen und mindestens neunzig Minuten anhalten würde. Jetzt hoffte sie, dass Jan durchschlief und nicht in anderthalb Stunden wieder aufwachte. Falls doch, würde sie zu weiteren Mitteln greifen müssen.