Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 45
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ОглавлениеDas Minarett sang: „Er liebte den Duft der Zebres. Sobald die Shoggotten sprossen, wandelte er im Herzpalmhain und legte Strombogärten an. Seinem Einsatz verdanken die Gerlaner ihre Fortexistenz als Spezies achten Grades. Wer seine Fandeln koste, wurde Teil des Kollektivs der Klavos-Zyklen. Wir alle ... wir alle trauern um ihn. Als der Schatten des Alters über ihn fiel, wählte Tavor diesen Ort, um in den Negaschlaf zu fallen. Seither lebt er in der Erinnerung einiger fort – und im Wispern der Steine ...“
Prosper trat von dem Turm zurück, seine Hand löste sich von der steinernen Wand, und sofort verebbte die Stimme, die gerade noch glockenhell zu ihm gesungen hatte.
Bis auf ein paar spezielle Begriffe hatte er alles verstanden. Mehr noch: Er hatte Tavor gesehen. Vor seinem geistigen Auge war ein Geschöpf von unaussprechlicher Schönheit und Eleganz auferstanden.
Sein Blick irrte zu Sarah, die wenige Schritte entfernt bei einem anderen Turm stand und mit verzücktem Ausdruck die Augen geschlossen hatte, während ihre beiden Hände unentwegt über den Stein des dortigen Minaretts strichen, als würde sie ein lebendiges Wesen kosen. Prosper begriff, dass er Sekunden zuvor wohl noch ein ähnliches Bild abgegeben hatte. Es berührte ihn nicht einmal peinlich. Die Erfahrung war einzigartig, und er hätte sie um keinen Preis missen wollen.
Er wartete, bis Sarah sich von selbst aus dem Bann des Turms löste, kurz desorientiert blinzelte, dann zu ihm schaute und mit einem seligen Lächeln zu ihm kam.
„Du hast es auch erlebt, oder?“
„Den Gesang?“, fragte er.
„Die Lobpreisung“, bestätigte sie. „Bei mir ging es um ein weibliches Wesen. Sie muss Großartiges vollbracht haben, ehe eine seltene Krankheit dazu führte, dass sie in den Negaschlaf ging ... Wer war es bei dir?“
„Ein männlicher Vertreter dieser Spezies. Sein Name war Tavor ...“ Prosper wiederholte kurz, woran er sich erinnern konnte. Dabei merkte er, wie anrührend er das Gehörte und Gesehene immer noch empfand. Es war, als hätte er flüchtigen Kontakt zu etwas Engelsgleichen gehabt.
Und das an solchem Ort.
„Immerhin wissen wir jetzt, dass wir hier auf niemanden treffen werden“, sagte Sarah, „mit dem wir sprechen könnten. Das hier ist ein Ort der Monologe, keine Stadt, weiß Gott nicht, sondern ...“
Prosper nickte und vollendete für sie: „... ein Friedhof. Ein wunderbarer, würdevoller Friedhof.“ Er nickte. „Ich wünschte, uns Menschen wäre je der Gedanke gekommen, unsere Toten auch nur ähnlich zu ehren. Diese Türme beinhalten nicht nur die sterblichen Überreste, wenn ich es richtig verstanden habe, sondern haben alles abgespeichert, was es als Wissenswertes über das entsprechende Individuum zu berichten gibt. Der Gesang streift nur die Oberfläche. Es gibt die Möglichkeit, wenn man sich darauf einlassen will, komplett einzutauchen in die fremde Persönlichkeit, die hier ... eingelagert wurde. Der Negaschlaf ist eine freiwillig gewählte Abart des Todes. Unter Umständen kann der Verstorbene sogar wiedererweckt werden – aber dazu bedarf es eines größeren Wissens als wir ... ich zumindest ... es besitzen. Und frag bitte nicht, woher ich das alles überhaupt weiß – die Informationen sind mir einfach so zugeflogen, während des Kontakt mit dem Stein. Vielleicht ergeht es dir ...“
Sie nickte. „Ja, mir ergeht es ähnlich. Ich kann nur bestätigen, was du gerade sagtest. Das hier ist der großartigste Friedhof, von dem ich je hörte. Solange er besteht, existieren auch die Verstorbenen weiter. Sowohl im Datenfluss, den der Gesang vermittelt, als auch Körper, der irgendwo im Innern dieses schlanken Turms konserviert ruht. Nicht vergleichbar mit den Praktiken eines ägyptischen Totenkults beispielsweise, wo ein so zentrales und die Persönlichkeit tragendes Organ wie das Gehirn aus dem Schädel des Mumifizierten entfernt wurde. Hier wurde um ein vielfaches sachkundiger und weitblickender vorgegangen. Möglicherweise schlafen die Toten hier tatsächlich nur. Vielleicht warten sie auf eine Zeit, da sie noch einmal über die Oberfläche ihrer Welt streifen können. Aber das ist Spekulation. Darüber erfuhr ich zumindest nichts. Beeindruckend bleibt es allemal.“
Ihr Blick wanderte über den Wald aus Türmen.
Prosper interpretierte ihn richtig und sagte: „Es müssen Hunderte sein, Tausende. Und dies ist nur eine Stelle. Wer weiß, wie viele es insgesamt davon gibt.“
„Ich würde gerne länger zuhören. Ich würde gerne in jede einzelne Persönlichkeit eintauchen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hat. Aber dazu bräuchte es sehr viel mehr Zeit, als uns zur Verfügung steht.“
„Du meinst, wir hätten es eilig, von hier fortzukommen?“, fragte er verwundert.
„Wir müssen herausfinden, wo wir sind. Ansonsten ... weder du noch ich wissen um die Gefahren, die mit einem umfassenden Eintauchen in die Türme verbunden sind. Vielleicht wären wir auf Tage oder Wochen wie in Trance mit den Toten verbunden – und würde selbst zugrunde gehen, während unser Geist in anderen Sphären schwebt.“
Er nickte. „Wir könnten es abwechselnd versuchen. Der, der wach bleibt, ‚weckt’ den anderen nach spätestens ein paar Stunden ... Ich gebe zu, die Vorstellung, von den Toten zu lernen ist verlockend. Was wir auf diese Weise alles über das Angk-System erfahren könnten ...“
„Du gehst also wieder davon aus, dass wir uns noch auf einer der sieben Welten aufhalten?“, fragte sie.
Er nickte. „Nach all dem hier ... ja! Alles andere machte für mich nicht wirklich Sinn. Kargor wird uns nicht ins Blaue geschickt haben. Und die von ihm erhaltenen Legitimationen zur Nutzung des eigenwilligen Transfersystems, die Schlüssel, haben wohl kaum Gültigkeit über die Angk-Welten hinaus.“
„Ja, kaum“, pflichtete sie ihm bei. „Das heißt, wir sind auf Angk I, II, III, IV, V, VI oder VII.“
„Angk I dürfte unsere ‚Startwelt’ gewesen sein. Ich schließe mal aus, dass der Turm uns nur dort durch die Gegend transportiert hat, einen Kontinent weiter etwa. Nein, wir sind auf Angk II bis VII. Wo genau, werden wir vielleicht irgendwann mal erfahren, durch Zufall oder weil wir in den Besitz von Instrumenten gelangen, mit denen es sich bestimmen lässt. Solange werden wir damit zu tun haben, uns in unserer neuen Heimat einzurichten.“
„Du willst auf Wanderschaft gehen?“
„Interessiert dich nicht, was unsere Heimat alles zu bieten hat? Das wäre wie im irdischen Mittelalter. Vielleicht kennst du das Buch sogar, das mir dazu in die Finger kam: Es nannte sich – komischer Titel übrigens, weshalb er mir wohl auch im Gedächtnis haften blieb – Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Verfasser war ein gewisser Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen. Die Übersetzung, in der ich es bekam, war schauderhaft, aber die Geschichte, die vom Werdegang eines zehnjährigen Knaben in der damaligen Zeit handelte, umso faszinierender. Der Junge war in bäuerlichen Verhältnissen groß geworden – zu einer Zeit, als der Bauernhof mit dem dazugehörigen Land den ganzen, ihm bekannten Kosmos darstellte. Als er durch besondere Umstände von dort vertrieben wurde, lernte er erst andere Bereiche der Welt kennen und musste feststellen, was für ein Narr er zeitlebens gewesen war, dass er glaubte, es gäbe gar keine Welt hinter den Wäldern, die sein zuhause eingrenzten.“
„Ganz so naiv sind wir aber wohl nicht“, erwiderte Sarah, die von einem solchen Buch nie etwas gehört hatte. „Wir sind ja schon recht weit rumgekommen. Da wäre es meiner Ansicht nach auch verständlich, wenn wir einen Platz suchten, an dem wir einfach erst einmal zur Ruhe kommen könnten.“
„Ich kann dich nicht zwingen, mit mir zu kommen“, sagte er – wobei er einen Tonfall wählte, der ihr signalisieren musste, dass er es aber stark bedauern würde, wenn sie sich dazu entschiede, ihn allein zu lassen.
„Vorschlag“, sagte sie. „Wir schauen erst mal zu, dass wir von hier wegkommen, möglichst wieder in eine Umgebung, die Ähnlichkeit mit einer normalen Planetenlandschaft hat – weg von den Totentürmen also –, und wenn wir das geschafft haben, besprechen wir uns noch mal neu. Okay?“
„Sehr okay“, erwiderte er. „Ich habe da auch schon eine Idee.“
„Idee wofür?“
„Wie wir hier rauskommen. Falls wir tatsächlich in dem Turm sind, den wir sahen, besteht vielleicht die Möglichkeit, ihm unseren Wunsch klarzumachen.“
Sie räusperte sich. „Aber sonst ... fühlst du dich wohl?“
Er lachte. „Mehr als das!“
Dann fang mal an. Ich seh mir die Sache an, wie du mit dem Turm ins Plaudern kommst. Mach schon, beeindrucke mich!“ Sie grinste breit.
Doch das Lachen verging ihr schnell. Selbst Prosper war überrascht davon, wie schnell und problemlos das, was er sich überlegt hatte, in die Tat umgesetzt wurde.
Er hatte kaum daran gedacht, da bildete sich vor ihnen auch schon mitten in der Landschaft zwischen den Minaretten ein kreisrundes Tor.
Sie nickten sich nur zu, dann traten sie hindurch.
Prosper wollte an den Bereich außerhalb des Turms, wie er ihn in Erinnerung hatte, denken, um die Kabine, in der sie sich wiederfanden, dorthin zu lenken. Doch irgendwie mischte sich ein kurzer Gedanke an die bedrohlichen Schwärme in diesen Wunsch.
Und schon raste der zylindrische Expresslift einem Ziel entgegen, das so gar nichts mit der Welt jenseits des Turmes zu tun hatte.
Es war der genaue Gegensatz zu dem, was sie kurz zuvor angetroffen hatten.
Dem Tod folgte die Geburt.
Sie wurden Zeugen der Entstehung von Geschöpfen, die sie seit langem kannten, ohne je wirklich viel über sie erfahren zu haben. Über ihre wahre Herkunft ...
Prosper und Sarah gelangten in eine Zone, die näher zum Erdboden zu liegen schien, weshalb sie auch zunächst hofften, dort angelangt zu sein.
Doch dann begriffen sie die Wahrheit: Sie waren dort angelangt, wohin die Pollenschwärme gelangten, wenn sie vom Turm aufgesogen wurden. Vor ihnen erstreckte sich eine Fabrik der ERBAUER. In der reges Treiben herrschte. Die Arbeiter setzten sich aus Geschöpfen zusammen, wie es in den CHARDHIN-Perlen gang und gäbe waren.
„Gloriden“, hauchte Sarah, während ihr Blick fasziniert über die gläsernen Bottiche schweifte, in denen elektrische Funken stoben, Substanzen blubberten und Prozesse abliefen, deren Sinn und Zweck ihnen zunächst verschlossen blieb. Sie griff sich kurz an die Brust, als ringe sie um Fassung. „Hier sind ... Gloriden! Hunderte ... vielleicht Tausende von ihnen ...!“
––––––––
„ VARX!“
Sahbu schwankte zwischen Lachen und ... ja, Tränen lachen! Er war mehr als verblüfft, den radebrechenden Humanoiden neben sich auftauchen zu sehen. Außerhalb des Turms. Völlig unbeschadet.
Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie ihm der eigenwillige Sternling ans Herz gewachsen war. Ich werde sentimental, dachte er. Auf meine alten tage werde ich noch sentimental ...
„Erhabener –“
„Hör bloß auf mit der ganzen Schlüssel-Chose!“, fiel ihm Sahbu ins Wort. „Sag Sahbu zu mir – oder sieh zu, dass du Land gewinnst!“
„Wo Land zu gewinnen es gibt? Hier? Alles so fremd. Alles so ...“
„Du nervst. Aber irgendwie mag ich dich trotzdem. Ich hatte halt schon immer was übrig für Randgestalten, Außenseiter ... na, du weißt schon. Bin ja selbst nicht auf Rosen gebettet groß geworden.“
„Rosen“, echote Varx. „Randseiter. Bett. – Du schlafen willst? Ruhe? Augen zu?“
„ Mund zu!“, raunzte Sahbu und trat ein paar Schritte vom Turm weg bis an den Rand des Felsens, auf dem das Bauwerk thronte, in dem es verankert war, sodass es selbst Stürmen hätte trotzen können. (Gab es die hier auf dieser Welt? Nachdem die Sonne wieder ... „gesundet“ war?)
Es war immer noch warm und hell, und als er ins Tal hinunterspähte, entdeckte er vereinzelte Gestalten, unverändert ameisenklein aus dieser Höhe, und er atmete erst einmal erleichtert auf.
„Da runter müssen wir“, wandte er sich an seinen schattenhaften Begleiter. „Schaffst du das? Kannst du überhaupt ... klettern?“
Er bereute die Frage, kaum dass sie ihm über die Lippen gekommen war.
„Was klettern bedeuten?“
Seufzend erklärte er es dem Sternling, der schweigend zuhörte. Schließlich sagte er: „Klettern umständlich. Komisch du bist.“
„Komisch ...“ Sahbu spürte Bedauern in sich keimen, dass er den Sternling überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, ihn nach draußen zu begleiten. Manchmal war er zu gut für diese und zehn Milliarden andere Welten, die er noch gar nicht betreten hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie betreten würde.
Egal.
„Was meinst du mit komisch? Manchmal muss man eben Dinge auf sich nehmen, die nicht gerade bequem sind, um von A nach B zu gelangen. Körperliche Ertüchtigung hat noch nie jemandem geschadet. Wenn –“
Der Schatten, zu dem er sprach, löste sich auf, als hätte sich die Sonne verspätet doch noch durchgesetzt und ihn zum Verschwinden gebracht.
Verwirrt starrte Sahbu auf die verlassene Stelle ...
... bis ihn gedämpfte Schreie aus dem Tal erreichten.
Als er hinabschaute, sah er, wie seine Gefährten hektisch durcheinander liefen ... nein, das beschrieb es nur unzulänglich: wie sie Hals über Kopf vor etwas flohen.
„Varx ...“, rann es über seine Lippen, wobei er erbleichte, dass ein Außenstehender auch Angst hätte bekommen können, dass er gleich ganz verblassen könnte.
So schnell er konnte, bewegte er sich den Hang hinunter. Zu schnell. Mehr als einmal glitt er auf dem rutschigen Untergrund aus und rollte oder schlitterte die Anhöhe hinab.
Schmutzig und von Schürfwunden übersät gelangte er schließlich unten an und hatte alle Hände voll zu tun, die anderen wieder zu beruhigen, sie von Varx’ Harmlosigkeit zu überzeugen.
„Der krümmt euch kein Härchen! Ruhig bleiben, ganz ruhig!“
Sie starrten ihn an wie ein Gespenst. „Wo kommst du her? Wir dachten schon, du wärst irgendetwas, dem da ...“ Paula zeigte auf den dunklen Humanoiden. „... zum Beispiel ... zum Opfer gefallen! Verdammt, musstest du auch allein da oben bleiben? Wer ist das? Kennt ihr euch? Der sieht nicht aus, als könnten wir Freunde werden ...“
„Paula!“ Die Schärfe seines Tons rief sie zur Räson. Und die Art, wie er es sagte, beinhaltete bereits alles an Kritik, was es dazu zu sagen gab: Gerade von dir hätte ich mehr Toleranz erwartet!, schwang darin mit. Gerade wir sollten gelernt haben, Andersaussehenden mit weniger Vorbehalt zu begegnen!
Wobei er sich seiner eigenen Reaktion bei der ersten Begegnung mit Varx erinnerte – und insgeheim alles relativierte.
„Schon gut, schon gut. Ihr kennt euch also ...“ Sie ließ die erhobenen Arme theatralisch sinken. „Hat der Typ auch einen Namen?“
„Varx.“
„Prima. Lebt Varx hier? Kann er uns ein bisschen was zu Essen besorgen? Wir –“
Sie verstummte, fasste Sahbu scharf ins Auge. Dann platzte es aus ihr heraus: „Du hast bereits gegessen! Du bist satt! Ich seh’s dir an ... Heilige Scheiße, was für ein egoistisches Rübenschwein bist du denn?“
Das Schimpfwort hatte sie von Prosper, jede Wette. Kein Mensch des 23. Jahrhunderts wusste normalerweise damit etwas anzufangen. Auch Sahbu nicht. Aber es klang fies, und das reichte. Damit erfüllte es seinen Zweck.
„Krieg dich wieder ein, Paula. Varx war so nett – oben im Turm ...“
„Dann müssen wir auch da rauf!“, unterbrach sie ihn. „Du hast es also geschafft, reinzukommen! Wie sieht’s da drin aus? Gibt’s da viel Essen? Na, wenigstens was. Vielleicht können wir gleich unser Quartier drin aufschlagen. Warum sollten wir uns unbekannten Gefahren in der Weite dieses Planeten aussetzen, wenn –“
Jetzt fuhr er ihr in die Rede. „Vergiss es! Zu gefährlich!“
„Zu gefährlich?“ Sie beäugte ihn misstrauisch. „Oder willst du nur nicht teilen?“ Sie machte eine aufwieglerische Geste hin zu den anderen. „Ich meine, wenn du die angebliche Gefahr gemeistert hast, werden wir alle zusammen es wohl auch schaffen!“
„Du verkennst die Lage. Da drinnen in den Türmen ist es gefährlich. Und extrem unübersichtlich. Ich hatte Varx an der Seite. Ohne ihn ... wäre ich vielleicht nicht mal mehr lebend herausgekommen.“
Als er zu dem Sternling blickte, reckte dieser sich mit stolzgeschwellter Brust.
„Was ist das für einer? Gehört der zu Kargor und dessen Verein?“, knurrte eine dicke Frau, die Sahbu am wenigsten von allen kannte, weil sie fast nie den Mund aufmachte, nie über sich sprach, einfach nur bei ihnen war ... und Kunststückchen beherrschte, die ihr einen Stammplatz in der ersten Riege der Zirkusattraktionen gesichert hatten. Sie konnte –
Varx schrie plötzlich ohne erkennbaren Anlass auf.
Schrill.
So schrill, dass Sahbu unwillkürlich erwartete, irgendetwas in der Umgebung müsste unter dem Missklang zerspringen.
Dass es sich um einen verzweifelten Warnruf handelte, erkannte er erst, als Varx die Arme ausstreckte und hinter Sahbu den Berg hinauf zeigte. Von wo sie kamen. Schattengleiche wie der Sternling – ein ganzes Heer von ihnen, das nur kurz dabei zu beobachten war, wie es sich im Herabklettern orientierte, dann offenbar die Gruppe im Tal entdeckte ... und dann sprang, wie schon Varx es getan hatte.
Nur einen Moment später materialisierten sie um die Menschen und den Artgenossen, der sich verängstigt duckte.
Ohne einen Laut – kein Wort, kein Geräusch – stürzten sie sich auf Varx, nur auf ihn, und zerrten ihn von Sahbu und den anderen weg.
Sahbu ärgerte sich über die eigene Schrecksekunde, die er erst überwinden musste, bevor er den Häschern aus dem Turm nachjagte. Er wusste, es ging um Sekunden, und wahrscheinlich würde er so oder so zu spät kommen, aber er wollte – nein, musste! – es wenigstens probieren.
„Halt!“, schrie er, als er die dunklen Humanoiden, die genauso wie Varx aus stofflich gewordenem Weltall zu bestehen schienen, durch eine seltsame Haut in Form gebracht, wider erwarten einholte, bevor sie wieder entmaterialisierten.
Er warf sich ohne nachzudenken, und auch die Gefahr ignorierend, zwischen sie und hielt sich mit aller Kraft an Varx Schultern fest.
Der Sternling zitterte wie Espenlaub, und Wimmern drang aus den Tiefen seines Körpers.
„Lasst ihn in Ruhe! Wer hat euch geschickt? Warum legt ihr euch mit einem Einzelnen an? Lasst ihn sofort in Frieden, oder ich zeige euch, wozu ein Erhabener Schlüssel fähig ist!“
Auch wenn seine Worte für einen Außenstehenden eher wirr klingen mussten, war es Sahbu in diesem Moment so ernst wie selten zuvor in seinem Leben. Er fühlte sich mitverantwortlich für Varx’ Schicksal. Immerhin hatte er ihn mehr oder weniger zum Verlassen seiner bisherigen Welt, des Turms, überredet. Und möglicherweise drohte ihm nun weit mehr als das bloße „Abschalten“ – was schon schlimm genug wäre.
Die Schattenhaften gaben Varx zwar frei, umschwärmten das ungewöhnliche Paar aber wie zähnefletschende, nach einer Schwäche suchende Wölfe.
„Ihr versteht mich gar nicht, oder?“
„Wir verstehen jedes Wort“, schlug es ihm wider Erwarten aus mehr als einem Dutzend Kehlen (oder wie auch immer sie die Laute artikulierten) entgegen. Wie ein gespenstischer Chor klangen sie – oder wie viele Körper, die von ein und demselben Gehirn gesteuert wurden. „Varx muss zurück. Er wird wieder Teil dessen, was er kurz verlassen hat. Das Gebietende Element duldet keine Abweichler.“
Worte, ohne jede spürbare Aggression hervorgebracht – und doch haftete ihnen etwas Endgültiges an, etwas, das ausdrückte, dass jede Diskussion zu diesem Thema sinnlos und reine Zeitverschwendung war.
„Das Gebietende Element ... Wieso hat es sich mir nicht gezeigt, als ich im Turm war?“
Die Frage schien die Schatten zu irritieren. Mehr als das.
Sahbu wiederholte seine Worte, weil er es für möglich hielt, dass sie ihn einfach nicht verstanden hatten. Dabei blickte er dorthin, wo in einiger Entfernung Paula und die anderen gespannt verfolgten, was passierte. Sie machten keinerlei Anstalten, einzugreifen, und vielleicht war das sogar das Vernünftigste.
„Wie sollte es sich dir zeigen?“, kam endlich die Gegenfrage des Chors. Und einen Moment später die Erklärung, die Sahbu fassungslos machte: „ Du bist das Gebietende Element. Wir handeln nach deinen Wünschen! Deine Gedanken sind uns Befehl. Du bist der Träger des Glanzes.“
Sahbu ließ Varx los, der sich weiter ängstlich an ihn schmiegte. Verärgert wandte sich der Mann aus dem Getto den Häschern des Turms zu. „Ihr wollt mich für dumm verkaufen, was? Aber da beißt ihr bei mir auf Granit! Ich habe niemals befohlen, dass ...“
Plötzlich verstummte er. Weil sein Grübeln die Worte unterdrückte, die er noch hatte folgen lassen wollen. Und ins Grübeln war er gekommen. Sollte es etwa tatsächlich möglich sein, dass er ...? Unsinn! Oder vielleicht doch? Mehr ... unterbewusst?
Er disponierte um, kanalisierte seinen Zorn zu Konstruktiverem.
„Ich bin also euer Gebieter?“
Der Chor bestätigte es.
„Nun, dann beweist es, dass ich und kein anderer hier bestimme, was mit Varx geschieht! Mag ja sein, dass er mir anfänglich wirklich ein bisschen auf die Nerven ging und ich insgeheim gar nicht soo unglücklich darüber gewesen wäre, wenn sich unsere Wege wieder getrennt hätten – aber inzwischen ... inzwischen schätze ich ihn sehr. Lest das in meinen Gedanken – und lest verdammt noch mal richtig! Ich will, dass ihr ihn in Ruhe lasst. Er soll selbst entscheiden, ob er mit zurück will, also mit euch kommt, oder sich mir und meinen Gefährten anschließt. – Habt ihr das verstanden?“
Er erwartete nicht wirklich, dass seine Ansprache fruchtete. Irgendwie vermutete er noch immer eine Hinterlist des Schattenheers.
Doch er wurde positiv überrascht.
„Gedanken decken sich mit Befehl – Varx dein.“
Mit diesem vielstimmigen Bekenntnis verschwanden die Häscher des Turms, als hätte es sie nie gegeben. Von einem Atemzug zum anderen war Sahbu wieder mit Varx allein. Und dieser fasste sich erstaunlich rasch wieder, wie seinen markigen Worten zu entnehmen war. „Nicht soo unglücklich du mit Trennung gewesen wärst? Nicht soo unglücklich? Böser, undankbarer Schlüssel du bist!“
„Klappe, sonst schick ich dich doch noch zurück, du Nervtöter! Das nächste Mal höre ich vielleicht besser auf mein Unterbewusstsein, statt aus purem Mitleid –“
Varx knirschte mit den Zähnen – zumindest klang es so. Dann lenkte er ein: „Verzeihung, Gebieter. Ich werde weiter dein treuer Sklave sein. Ich schätze mich glücklich, so viele Schlüssel ...“ Er zeigte zu Paula und den anderen. „... auf einmal kennen lernen zu dürfen. Wohin darf ich euch bringen?“