Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 43
7.
ОглавлениеTote träumen nicht – aber sie träumte.
Es war der alte Traum, den sie wie ihre Westentasche kannte, weil er sich schon so oft wiederholt hatte, so oft ...
Jemand sagte: „Wenn wir wiedererwachen, ist alles gut. Man wird diesen verdammten Aliens in den Arsch getreten und sie bis Beteigeuze gekickt haben – mindestens! Machen Sie sich keine Sorgen, Madam President, machen Sie sich keine Sorgen. Dies ist eine Krise, an der wir alle wachsen werden. Ich freue mich auf ein Wiedersehen. Leben Sie wohl!“
Der Deckel glitt über sie. Reuben Cronenbergs Gesicht verschwand. Sie hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib begraben worden zu sein.
(Bei lebendigem Leib von den Schwärmen begraben zu werden.)
„Sie sind ein Heuchler, Reuben“, sagte sie durch die Schläuche hindurch, die in ihre Lungen und in die Magensonde liefen. Niemand außer ihr selbst hätte die Worte verstanden, so genuschelt waren sie.
Aber niemand hörte ihr auch länger zu.
Der Deckel war geschlossen, und von irgendwoher drang das leise Zischen des Gases, das die Narkose und kurz darauf die Kryophase einläutete.
Sarahs Lider wurden schwer wie ihre Glieder. Im Traum schlief sie ein.
Und dadurch wurde sie wach.
Etwas lag über ihr. Sie fühlte sich wie darunter begraben. (Lebendig begraben.) Und plötzlich war die Erinnerung wieder da. An ihr Sterben auf der fremden Welt im Schatten des Turmes. Des Turmes, der plötzlich begonnen hatte ... irgendetwas anzuziehen. Pollen, hatte Prosper gemutmaßt. Erntezeit ...
Sie war sicher, immer noch da draußen zu liegen, unter Zentnern von –
Die Decke wurde weggezogen.
„Dem Himmel sei Dank, du bist es!“, sagte der Mann, an den sie gerade noch gedacht hatte. Und von dem sie unbestimmte Zeit zuvor bedauert hatte, ihn nun doch nicht mehr näher – richtig und ausgiebig! – kennen zu lernen.
„Prosper?“
„Leibhaftig – und bei bester Gesundheit. Wie steht’s mit dir? Hat es dich auch von deinen Schrammen geheilt?“
Es?
Sie blinzelte gegen das Licht. Wo war sie.
„Wo bin ich?“
„Genau weiß ich es auch nicht. Aber die Vermutung liegt nahe.“
Sie richtete sich vorsichtig von der Liege auf. „Ja?“
„Der Turm. Sie müssen uns hineingebracht haben, als es schon den Anschein hatte, als würden die Teilchen uns bis auf die Knochen abnagen, während sie über uns hinwegrauschten.“
„Sie? Es? Von wem oder was, zur Hölle, redest du?“
„Keine Ahnung. ERBAUER? Hab noch keinen zu Gesicht bekommen, wurde nur vor dir wach, auch unter so einer Decke.“ Er schnitt eine Grimasse. „Und als ich aufstand, stellte ich fest, dass meine Blutungen gestillt, meine Haut wieder narbenfrei verheilt war – überall. Oder siehst du noch irgendetwas, das darauf hindeuten würde, dass –“
„Deine Kleidung!“
Er nickte. „Genau wie deine. Wir tragen die Fetzen immer noch am Leib. Trotzdem hat man uns verarztet. Da ist nicht mal mehr der Hauch von Schmerz. Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen ...“
Sie sah sich um, schwang die Füße auf den Boden. Ein glatter, metallischer Boden.
„Wo ist die Decke, unter der ich gerade noch lag?“
Er lachte heiser. „So spurlos verschwunden wie das, was mich beim Erwachen umgab. Hat sich zurückgezogen wie eine amorphe Masse – und hat mich seit langem mal wieder an den guten Jarvis erinnert. Wenn er mal seine Tage hatte, du weißt schon. Er konnte eine richtig diese Pfütze sein, so als wäre er zu Quecksilber zerlaufen und füge sich irgendwann wieder nach Lust und Laune zusammen. Oder er –“
„Schon gut. Danke für die bildhafte Erläuterung. Ich mag Jarvis übrigens sehr gern. Er hat ein schlimmes Schicksal, und wie er damit umgeht ...“
„Das hast du missverstanden. Ich mag ihn auch. Fiese Pfütze war kein Schimpfwort. Er selbst hat sich schon so bezeichnet. Ich ...“
„Aber du weißt schon, dass es einen Unterschied macht, wie man selbst über sich spricht und wie es andere über einen tun?“
Er winkte ab und machte ein paar Schritte von der Liege weg. „Du schaffst es. Streng dich noch ein klein wenig an, dann hast du es geschafft.“
„Was?“
„Mir meine gute Laune zu verderben.“
„Nur weil ich dich zu Recht kritisiert ... oder sagen wir, dich auf etwas hingewiesen habe?“ Sie sah ihn ungläubig an. „Überhaupt: Wie kann man in unserer Situation gut gelaunt sein?“
„Vergiss es.“
Sie nickte. „Dürfte das Beste sein. Das mit der Decke wäre also geklärt. Dass wir beide irgendwie gerettet und von unseren Blessuren geheilt wurden, ist auch klar, auch wenn wir nicht wissen, wie genau das geschah und durch wen es veranlasst wurde. – Aber wie geht es jetzt weiter? Wenn wir wirklich irgendwo in dem riesigen Turm sind, sollten die Bewohner doch allmählich an uns herantreten, oder? Die haben uns doch nicht gerettet, nur weil du so ein sympathisches Kerlchen bist?“
„Vielleicht wollten sie ein gehässiges und ein gutmütiges Exemplar unserer Spezies einkassieren, um beide unter den gleichen Bedingungen zu studieren ...“
Sie überbrückte die Distanz zu ihm und zeigte ihm, dass sie vor langer Zeit einmal gar nicht so schlecht im Kickboxen gewesen war – natürlich traf sie ihn nicht wirklich, sondern deutete den Kontakt nur an, zeigte ihm, was sie mit ihm hätte machen können.
Er zuckte nicht einmal zusammen.
Was ihr wiederum imponierte.
„Netter Versuch“, sagte er.
Sie nickte, demonstrierte nun selbst gehobene Laune – auch wenn sie nicht zu sagen vermocht hätte, warum. Einen wirklichen Grund dafür gab es definitiv nicht. „Wollen wir die Friedenspfeife rauchen?“
Er schien sich zu erinnern, was sie damit anbot. Immerhin war er belesen, und so war ihm bestimmt auch irgendwann ein Schmöker über den amerikanischen Wilden Westen unter die Augen gekommen.
„Okay, begraben wir das ... Kriegsbeil.“ Er grinste.
Sie konnte dem Impuls, ihn mit einer Umarmung zu überraschen, gerade noch unterdrücken. „Fein. Dann wollen wir uns unseren Rekonvaleszenz-Raum hier doch mal näher ansehen. Vielleicht finden wir einen Weg heraus. Vielleicht will unser unbekannter Retter ja, dass wir Initiative zeigen.“
Prosper nickte. „Jedenfalls ist kaum anzunehmen, dass er uns nachträglich wieder in den ramponierten Zustand zurückversetzt, in dem er uns eingesammelt hat. Das wäre wenig logisch. Wir sollten es also probieren.“
Im Hintergrund zeichnete sich eine kreisrunde Fuge in der sonst leeren und glatten Wand ab.
Schon drei Schritte davor öffnete sie sich wie die Irisblende einer Kamera. Dahinter lag ein ebenfalls runder, hell erleuchteter Gang im selben Durchmesser wie die „Tür“, etwa zweieinhalb Meter.
Sarah und Prosper nickten sich nur zu. Dann traten sie auf den Korridor, der sich sofort mit ihnen in Bewegung setzte.
––––––––
D ER AUFBAU DER ETAGE (Sahbu bewegte sich immer noch durch das Erdgeschoss) war erstaunlich. Nirgends waren Stützpfeiler zu erkennen. Es gab nur einen einzigen riesigen, trägerlosen Raum, der den gesamten Durchmesser des Turms – geschätzte fünfzig Meter – vereinnahmte ... und dennoch in Sektionen abgetrennt war. Allerdings eher nach Manier von Großbüros, die mit halb hohen Stellwänden, Pflanzen oder dergleichen mehr rein optisch unterteilt wurden.
Hier übernahmen die völlig bizarr geformten Maschinen die Funktion solcher Trennelemente. Pflanzen gab es weit und breit nicht, zumindest nicht auf dieser Ebene des Kolossalbauwerks.
„Halt! Nicht so schnell!“, rief Sahbu zum wiederholten Mal, weil Varx ein Tempo vorlegte, dem er nur im Laufschritt folgen konnte. Was er aber ablehnte, da er sich viel, viel mehr zur Besichtigung seiner Umgebung nehmen wollte.
„Wie alt ist dieser Turm?“, fragte er keuchend, als der Sternling tatsächlich verlangsamte und abwartete, bis er zu ihm aufgeschlossen hatte.
„Turm?“, kam arglos die Gegenfrage.
Sahbu zeigte über sich. „Das hier – ein Turm. Wir befinden uns beide in seinem Innern. Er ist unfassbar hoch. Es wird eine Weile dauern, alle Stockwerke zu erkunden ...“
Varx schüttelte vehement den Kopf. „Es geben nur wenige Stockwerke für Hohen Schlüssel wie du. Erhabener Meister nicht befugt, alle Bereiche zu betreten.“
Sahbu schaute ihn verdutzt an. „Ich dachte, ich sei der Herr und Meister?“, gab er schließlich trocken zu bedenken.
Noch trockener erwiderte der Sternling: „Für mich du das bist. Solange du bist. Aber es höhere Herren gibt, Schöpfer sie sind ... Ich ihnen noch mehr gehorchen ich muss. Solange sie stumm aber sein, sich nicht melden, solange ich deine Wünsche erfüllen darf und kann. Und will!“
„Und wenn sie sich melden, bin ich abgemeldet, oder wie?“ Die neu entflammte Zuversicht drohte sich auch schon wieder aus Sahbu zu verabschieden. Er sah sich um, schlug mit den Händen gegen die Außenseiten seiner Oberschenkel und seufzte: „Was ist nun mit dem versprochenen Essen?“
„Gleich da sein. Maschine dort. Speisen Sie dich wird.“
Sahbu folgte dem ausgestreckten Arm des Sternlings. „Na hoffentlich verschluckst du nicht rein höflichkeitshalber ständig doch die Silbe ’ver’ ...“
„Ich verstehe.“
„Nicht“, sagte Sahbu.
„Ich verstehe nicht“, erklärte Varx im Tonfall eines gelehrigen Schülers.
„Du musst auch nicht alles verstehen. Komm, zeig ... nein, besser: Gib mir jetzt das Essen. Ich bin soweit, dass ich fast alles essen würde. Selbst deinen komischen Watuti!“
„Watuti nicht komisch isst. Er fressen ganz normal. Hat Zähne scharf im Maul. Aber darf nicht beißen, niemals, sonst Sinn von Nahrung verfehlt!“
„Ich dachte, du hättest ihn platt gemacht?“
„Ist so. Platt! Gibt platte Watuti und sehr, sehr dicke, die für viiieeeele Esser reichen. Für dich ich dachte, platter Watuti genügt ...“
Sahbu stampfte einmal ungeduldig mit dem Fuß auf und knurrte: „Das will ich jetzt sehen! Du weißt, wie man jemanden neugierig macht ... und besoffen quasselt. Her mit dem Watuti. Ab zu diesem Ding da. Und wenn du außerdem was zu trinken hättest, wäre das genial.“
„Prickelwasser“, sagte Varx, sich wieder in Gang setzend.
„Was?“
„Du Prickelwasser kriegen. Bereits plätschert. Wo Watuti gemacht.“
„Platt“, sagte Sahbu.
„Was?“, fragte Varx irritiert.
„Ach, vergiss es. Geh weiter. Ich verbrauche hier mehr Kalorien mit labern als dein Watuti mir jemals liefern wird. Ich ahne Übles. Vielleicht zeigst du mir doch besser den Ausgang. Meine Freunde machen sich bestimmt schon Sorgen ...“
„Kein Ausgang es geben“, erwiderte Varx gleichmütig und ohne innezuhalten. „Nicht für diesen Hohen Schlüssel. Hoher Schlüssel jetzt mein. Varx lange genug hungrig. Varx sich jetzt machen ein Festmahl mit dir.“ Er keckerte, irrer noch als jemals zuvor. „Verzeihung: von dir es natürlichen heißen müssen. Von dir ...“
Und mit diesen Worten wandte er sich um, Sahbu zu. Er feixte ein letztes Mal, bevor sich seine Form noch dramatischer veränderte als beim letzten Mal – und sprang.
––––––––
P ROSPER MÉRIMÉE KAM sich vor wie auf einem Laufband. Nein, korrigierte er sich, wie in einer Kapsel, die durch einen Schacht geschossen wurde. Mit dem Unterschied jedoch, dass keine Andruckkräfte spürbar wurden.
Die Fahrt war rasant. Aber sie wäre nicht einmal feststellbar gewesen, wenn die Wände und Decke, ja selbst der Boden nicht plötzlich transparent geworden wären. So aber konnten er und Sarah genau verfolgen, wie sie durch den Turm gejagt wurden – senkrecht nach oben, obwohl ihre Füße jetzt in die Horizontale zeigten, weil der vormalige Boden plötzlich zur Seitenwandung des Zylinders geworden war, der in die Höhe fuhr. Er hatte sich mit ihnen „aufgestellt“, aber die Schwerkraft darin war weiterhin so ausgerichtet, als gleite er parallel zur Oberfläche des Planeten dahin.
Verrückt.
Dass der Korridor keiner war, hatten sie just in dem Moment begriffen, als sich hinter ihnen die Türrundung schloss. Seine Länge war eine optische Täuschung, die verschwand, kaum dass die Wände durchsichtig wurden und er sich in Bewegung setzte. Die Transparenz schloss auch den Turm selbst mit ein – er wurde schlichtweg unsichtbar, sodass es aussah, als bewege sich der Zylinder durch unverbaute Luft.
„Ich will das nicht“, sagte Sarah gepresst. Sie stand unmittelbar neben Prosper und hatte eine Hand in seinen Oberarm gekrallt. Die Kraft, die sie dabei aufbot, überraschte den ehemaligen Zirkusdirektor. „Verdammt, wohin katapultiert uns dieses Scheißding?“
Ob ihrer Wortwahl schlich sich fast wieder ein Schmunzeln um seine Mundwinkel. „Hoffentlich nicht aus der Atmosphäre hinaus“, erwiderte er augenzwinkernd. „Vielleicht haben wir die Türme bislang völlig falsch eingeschätzt. Möglicherweise sind sie ‚die andere Art’ der ERBAUER, um zwischen den einzelnen Planeten oder zwischen der Oberfläche und einer Orbitalstation zu verkehren. Über solche Stationen wissen wir nichts, weil Kargor sich darüber in Schweigen hüllte – was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass es keine gibt.“
Sie legte den Kopf schief. „Du machst Spaß, oder?“
Er zuckte mit den Achseln.
In diesem Moment stoppte der Zylinder abrupt. Prosper konnte gerade noch in die Tiefe schauen und meinte zu erkennen, dass sie in zwei bis drei Kilometern Höhe angelangt waren, bevor die Transparenz endete. Für Sekunden hörte er das eigene Blut in den Ohren Rauschen. Dann öffnete sich mit einem leisen Klicken eine Tür. Dort, wo sie auch schon eingetreten waren. Nur musste sie jetzt ganz woanders hin führen.
„Wollen wir?“, wandte er sich an die Ex-Präsidentin.
Sie löste ihre Hand von seinem Arm und nickte. „Klar. Man soll sich seinen Feinden stellen. Alles andere zögert die Sache nur unnötig raus.“
„Vielleicht sind sie gar nicht unsere Feinde.“ Prosper setzte sich in Bewegung, ging voraus.
„Dass gerade du das sagst, überrascht mich jetzt schon.“ Sie folgte ihm dichtauf.
Gemeinsam traten sie in einen neuen Raum.
Raum?
Prosper hatte eher das Gefühl, wieder auf den Planeten hinauszutreten – allerdings einen mit völlig veränderten Horizonten. In weiter Ferne erhoben sich goldene Wände, die irgendwo endeten, während der „Himmel“ über ihnen einfach wie diesige Luft aussah. Zu ihren Füßen war Erdreich, zumindest wirkte es täuschend echt. Der metallische Untergrund, den sie aus dem Raum kannten, in dem sie nach der Pollenattacke zu sich gekommen waren, war verschwunden. Wie von kurzgeschnittenem Rasen wurde jeder ihrer Schritte gedämpft.
„Das ist eine Illusion, oder?“, fragte Sarah, die sich hinter ihm bückte und den Untergrund einer Prüfung unterzog. Nach einer Weile erhob sie sich wieder und zerrieb Erde und Gras zwischen ihren Fingern. „Aber eine verdammt gute.“
Vor ihnen lag eine Stadt. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Schildkrötenstadt, sondern setzte sich aus schlanken, minarettartigen Türmchen zusammen.
Türmen im Turm?
„Was meinst du, sind wir überhaupt noch in dem Ding?“, fragte Sarah leise.
„Waren wir es überhaupt?“, konterte er mit einer Gegenfrage. „Wir haben angenommen, es müsste so sein, weil wir ganz in seiner Nähe waren, als die Schwärme über uns kamen. Aber einen Beweis erhielten wir nie. Auch nicht, als wir wie in einer absonderlichen Liftkabine nach oben geschossen wurden. Alles an möglichen Bauten um die Kabine herum wurde unsichtbar. Vielleicht wurden wir sonst wohin gebracht, als wir ohne Bewusstsein waren. Es könnte – wie schon mal kurz angedacht – ein völlig anderer Planet sein. Ein völlig anderes System.“
„Das ergäbe nach Kargors Rede keinen Sinn.“ Sie schüttelte den Kopf.
Als er genau hinsah, fiel ihm auf, dass sich der erhaltene Schlüssel schwach golden auf ihrer Stirn abzeichnete.
„Siehst du das bei mir auch?“, fragte er und tippte sich gegen die Stelle, wo Kargors Geschenk absorbiert worden war.
Sie nickte, tastete gleichzeitig über die eigene Stirn. „Ich auch?“
„Sonst hätte ich nicht gefragt.“
Dabei beließen sie es, denn weiter brachte es sie nicht.
„Alles ist verlassen“, sagte Sarah und machte eine umfassende Geste, drehte sich dabei leicht ... und zuckte zusammen. „Das Ding ist weg.“
Es überraschte ihn, dass er es nicht früher bemerkt hatte. Aber auch ihm fiel erst jetzt auf, dass das Vehikel, mit dem sie hierher gelangt waren, spurlos verschwunden war. Da war nichts, was noch an einen Zylinder, nicht einmal an eine Tür erinnert hätte.
Sie standen einfach in einer unbekannten Landschaft vor einer unbekannten Stadt, und die Horizonte wurden durch etwas Goldenes begrenzt.
Weit, weit entfernt.
„Wenn das, was wir hier sehen, keine Illusion, keine gezielte Manipulation unserer Wahrnehmung ist“, seufzte Prosper, „können wir uns nicht mehr im Turm aufhalten.“
Sie wusste sofort, worauf er hinaus wollte. Und widersprach erneut: „Denk an die RUBIKON. Wenn schon die ollen Foronen scheinbar beliebig mit Dimensionen verfahren konnten, ist Kargors Spezies wohl noch sehr viel mehr diesbezügliches Vermögen zuzusprechen. Er repräsentiert das technologisch am weitest entwickelte Volk, dem wir bislang begegneten. Denk nur an die Perlen, die jetzt auch noch mobil sind. Verrückt, oder? Ein Raumschiff von einhundert Kilometern im Durchmesser. Darin ließen sich ganze Großstädte unterbringen! Und wir wissen immer noch nichts über den Sinn und Zweck dieser Gebilde. Permanenz allein als Schlagwort genügt wohl kaum. Die ERBAUER müssen sich doch etwas dabei gedacht haben, ein so gigantisches Netzwerk zu erreichten, das zahllose Galaxien umspannt, vielleicht wirklich das ganze Universum ... He, wie abgehoben ist das denn?“
„Du hast Recht, gegen die Perlen ist das Angk-System ein vergleichsweise banales Konstrukt. Okay, sieben Planeten auf derselben Kreisbahn um ihr Muttergestirn, das hat schon was. Aber frag mich bitte nicht, was. Ich bin kein Freund von solchen Dingen. Ich hab’s lieber ... bodenständig. Wenn wir schon dazu verurteilt sind, den Rest unseres Lebens auf einem fremden Planeten zu verbringen, dann würde ich die ‚Kanada-Idylle vorziehen, du weißt schon ...“
„Blockhütte am fischreichen See. Ringsum endlose Wälder, in der Ferne schneegekrönte Berge?“
„Exakt.“
„Könnte mir auch gefallen. Aber woher weißt du von so was? Ich kann immerhin von mir behaupten, dort gewesen zu sein – bevor uns die Master-Schiffe auf den Kopf fielen.“
Er ertappte sich dabei, dass er genau das immer wieder vergaß. Längst war Sarah zu einem normalen Mitglied ihrer Gemeinschaft geworden. Sie bemühte sich auch darum, unter all den durchaus auch eigenwillig aussehenden Menschen nicht weiter aufzufallen. Und das gelang ihr mit Bravour. Sie hatte keine Attitüden, die es ihren Mitmenschen erschwerten, mit ihr warm zu werden. Sie war mal fröhlich, mal ernst, aber immer sehr herzlich und hilfsbereit.
Dabei hatte sie vielleicht mehr mitgemacht als wir alle zusammen, überlegte er.
Er war froh, dass Kargors Wahl auf sie als seine Begleiterin gefallen war – auch wenn er jeden Einzelnen der anderen vermisste.
„Bücher“, sagte er mit wegwerfender Geste, um das Thema abzuschließen. „Weißt doch, dass ich ein alter Bücherwurm bin.“
Sie schüttelte lachend den Kopf. „Bücherwurm, okay. Aber einer in den besten Jahren, wie ich doch hoffe. Wer soll mich sonst vor all den Gefahren beschützen, denen wir noch begegnen werden?“
„Ich dachte, du beherrschst Kickboxen?“
„Das reicht höchstens für ’ne Showeinlage.“
„Wie beruhigend.“
„Tja, du darfst dich schon als Retter-Ritter betrachten, sobald ’s brenzlig wird.“
„Ritter Prosper ...“ Er schmunzelte. „Das hat was, durchaus.“
Mit diesen Worten wandte er sich den Minaretten zu. „Ist das nicht irre, dass wir schon wieder unterwegs sind, um uns eine Stadt anzusehen? Wie steht’s eigentlich mit Essen und Trinken? Wäre es nicht langsam an der Zeit ...?“
Er verstummte, weil ihm auffiel, dass er nicht die Spur hungrig oder durstig war.
Sarah bestätigte, dass es ihr genauso ging.
„Vielleicht bekamen wir was, während unserer Ohnmacht ...“ Sie zuckte die Achseln.
„Wenn, dann wohl intravenös“, erwiderte er und suchte seine Arme nach Einstichen ab. „Ich pflege in der Ohnmacht nicht zu kauen und auch nichts zu schlucken.“
Die Stadt rückte mit jedem Schritt sprunghaft näher. Als hätten sie Siebenmeilenstiefel an den Füßen.
„Zauberei“, kommentierte Sarah das Phänomen, das sich unablässig wiederholte. „Ist das hier Ihr Königreich, verehrter Ritter?“
Mit wenigen „Schritten“ erreichten sie den Rand der filigranen Stadt, die den Toten gehörte ...
––––––––
S AHBU REAGIERTE MIT bereits vergessen geglaubten Reflexen. Der Aufenthalt im Erdgetto war eine Schule fürs Leben gewesen – fürs Überleben.
Vielleicht brauchte er deshalb keine Schrecksekunde, keinen Moment, um geistig umzuschalten.
Als Varx auf ihn zusprang, warf sich Sahbu nach links.
Links war eines dieser undurchschaubaren Geräte. Es sah aus wie ein mit der offenen Seite nach oben stehendes Hufeisen, war doppelt so groß wie Sahbu und die Lücke hätte mühelos drei von seiner Statur nebeneinander hindurchspringen lassen können.
Aber in dem Moment, als er sprang, ahnte er bereits, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Lieber hätte er neben die Konstruktion hechten sollen. Sie passieren zu wollen, erwies sich als die unglücklichste Wahl.
Mitten im Sprung endete dieser. Etwas baute sich knisternd wie Elektrizität auf ...
... und dann hing Sahbu auch schon wie an unsichtbaren Nadeln aufgespießt in der Luft, unfähig sich zu bewegen, auch nur den Finger krumm zu machen!
Das Einzige, was noch funktionierte, war das Heben und Senken der Brust, während er atmete – wenn er flach atmete, so als hätte er sich Rippen angeknackst oder gebrochen – und das Bewegen der Kiefermuskulatur.
Er konnte sprechen.
Und fluchen.
Varx lachte keckernd, während er gemessenen Schrittes, ohne jede Hast, auf Sahbu zukam.
„Lecker du schmecken wirst. Danke, dass du selbst in Ofen gesprungen. Erspart mir Arbeit. Gute Speise du bist. Gute Speise ...“
Seine Stimme wurde mit jedem Wort dunkler, als käme sie aus einem tiefen Brunnenschacht.
„Verdammtes Biest“, keuchte Sahbu. „Wie konnte ich dir auch nur eine Sekunde trauen? Was ist jetzt mit Erhabener Schlüssel und dem ganzen sonstigen Scheiß, den du noch abgelassen hast, hä? Und wozu willst du mich verspeisen? Erstens bin ich zäher als jede Schuhsohle, und zweitens bezweifle ich stark, dass einer wie du überhaupt die Art von Nahrung verdauen kann, die ein Brocken wie ich liefert! Los, pack aus: Wozu das alles? Ich bin doch nicht von deinem Ersten hierher geschickt worden, nur um dann von einem seiner Schoßtierchen gefressen zu werden! Ruf deinen Herrn – ruf verdammt noch mal irgendjemanden, der hier das Sagen hat! Das ist ein gottverdammter Irrtum! Ich bin nicht gekommen, um verdrückt zu werden, sondern um mit den anderen zusammen eine tolle neue Menschheit zu gründen. Wir werden die Urväter eines stolzen Volkes auf dieser Welt sein – ich meine die Welt draußen, wo du kleiner Bastard noch nie im Leben warst!“
Varx fletschte die Zähne. Aber er trat nur an einen der Schenkel des Hufeisens und tippte irgendwelche Sensoren an, die sich darauf befanden. Sahbus Wortschwall ließ er gänzlich unkommentiert.
Und Sahbu ... begriff, dass es sinnlos war. Jeden Moment konnten tödliche Wellen durch seinen Körper jagen, um ihn zu garen. Ofen ... Varx hatte ja feixend und unmissverständlich erklärt, worum es sich bei diesem Gerät hier handelte!
Und dann begann es auch schon. Prickelnd lief ein unsichtbarer Strom durch Sahbus Fleisch und Knochen.
Mikrowellen?
Würde sein Blut gleich zu kochen beginnen, seine Augen und Lippen zerplatzen, seine ...?
Schmerz brachte ihn zur Besinnung. Er fand sich am Boden des Hufeisens wieder, wo er sich bei seinem Fall aus geringer Höhe die Knie aufgeschlagen hatte. Mehr war nicht passiert. Varx stand immer noch neben der Konstruktion und betätigte Sensoren, die für Sahbu nicht einmal erkennbar waren.
„Guten Appetit“, sagte der Sternling.
Und während sich Sahbu noch sammelte, um zum Gegenangriff überzugehen, die Ablenkung des Wesens zu nutzen und ihm den mit Weltraumkälte gefüllten Hals umzudrehen, flackerte es einmal kurz dort auf, wo Sahbu Sekunden zuvor noch festgehalten worden war.
Als er das nächste Mal hinsah, entdeckte er ein Schlaraffenland im Miniaturformat: eine Schwebeplatte, voll beladen mit den unterschiedlichsten Nahrungsmitteln. Sogar ein Krug mit einer wasserklaren Flüssigkeit war darunter.
„Metabolismus dein wurde erkannt. Du unbesorgt speisen können. Ich sehen zu, da nicht kann verdauen solchen Unsinn ...“ Varx keckerte wild auf und klatschte in die Hände, so heftig, dass die darin befindlichen Galaxienhaufen durcheinander gewirbelt wurden. „Du kluger Schlüssel. Du Recht hast mit Verdauungsproblem. Ich essen Licht. Und Dunkel. Mehr dein treuer Skla- ... Diener niemals brauchen wird!“
„Du bist wahnsinnig, oder?“, fuhr Sahbu den Sternling an, und es fiel ihm schwer, sich auf das Angebot an Nahrung zu konzentrieren, dessen Düfte ihm verführerisch in die Nase stiegen. „Gib zu, dass du wahnsinnig bist!“
„Varx sehr humorvoller Sternling sein! Wissen, Hoher Schlüssel versteht Spaß. Wissen das! Schlüssel senden Daten unmissverständlich!“
„Was würde Sternling sagen, wenn Erhabener Schlüssel ihn nach dem Essen mal kurz als Rohstoff in das Ofensystem hier einspeisen würde?“
„Varx sehr traurig wäre. Aber Varx dann vielleicht in nächstem Essen von Hohem Schlüssel. Er ihm raten, sich gut zu überlegen, ob er das wollen. Sternlinge schwer verdaulich.“
„Das glaub ich dir zum ersten Mal. Jemand wie du schlägt einem bestimmt auf den Magen!“ Mit diesen Worten wandte er sich dem Essen zu.
Und bereute es nicht. Es schmeckte unerwartet gut. Und nuancenreich.
Gesättigt und schon wesentlich besserer Laune widmete er sich danach wieder Varx. „So, jetzt kann ich wieder besser denken. Und ich denke, du bist einfach zu schlau, als dass du mir nicht den Weg hier heraus zeigen könntest. Richtig?“
Varx schnitt eine Grimasse, die kaum zu erahnen war, weil sich tiefe, sternenlose Dunkelheit über seine Züge legte.
„Traurig sein, wenn du gehst. Aufhören zu sein, wenn du fort.“
„Wer bestimmt das?“
Ratlosigkeit schlug ihm entgegen. Der Zorn in Sahbu war endgültig verraucht. Varx’ Humor mochte gewöhnungsbedürftig sein, aber er war ihm etwas schuldig dafür, dass er fürs Erste weder unter Durst noch unter Hunger leiden würde.
„Wer würde dich ... abstellen, wenn ich gehe?“
Wieder schien der Sternling keine Antwort zu wissen.
„Okay“, schlug Sahbu vor, „dann machen wir es anders: Du führst mich jetzt zum Ausgang und ...“
„Und?“ Er fühlte erwartungsvolle, aber auch sehr skeptische Blicke auf sich ruhen.
„... und dann bleibst du, wenn ich geh, nicht hier drin und wartest drauf, dass jemand oder etwas den Schalter umlegt, sondern ...“
„Sondern?“
„... kommst mit mir!“
Für einige Atemzüge, die das einzige Geräusch in der ganzen Umgebung waren, das Sahbu auffing, verschwanden sämtliche Lichter aus Varx – als seien alle Sterne in seinem Kosmos verloschen.
Als sie zurückkehrten, hauchte das seltsame Wesen: „Wahnsinnig du sein musst! Ich nicht kann sei ... draußen! Bin Sternling, treuer Sklave! Sklave!“, bekräftigte er noch einmal. „Niemals Erste würden zulassen, dass –“
„Was hast du zu verlieren, verdammt?“, fuhr Sahbu ihn an, trat vor, packte ihn an den Armen und schüttelte ihn, wie er es bei einem Menschen getan hätte. „Was? Hier wirst du sicher abgeschaltet, ins Nichtsein zurückversetzt – jedenfalls behauptest du das die ganze Zeit! Was also kannst du verlieren? Du kannst nur gewinnen! Ein ... nimm’s mir nicht krumm, ist nicht persönlich gemeint ... Leben – mehr nicht! Du würdest schnell Gefallen daran finden, das schwör ich dir. Da draußen ist eine andere, sehr viel vielschichtigere Welt als hier drin! Wer nicht wagt, nicht gewinnt. Also?“
Varx stand noch eine ganze Weile wie erstarrt da. Doch schließlich gab er sich einen erkennbaren Ruck.
„Leben er möchte, der treue Diener und Freund des Erhabenen Schlüssels! Leben er will!“
„Worauf warten wir dann noch?“, drängte Sahbu, um dem Sternling gar nicht erst wieder Zeit zu einem Meinungsumschwung zu geben. „Führ uns zum Ausgang. Eine ganze Welt wartet auf dich – und mich! –, um entdeckt zu werden!“
Varx keckerte.
Nach wenigen Minuten erreichten sie die Turmwand. Dem Sternling fiel es nicht schwer, einen Mechanismus zu finden und zu betätigen, der eine kreisrunde Öffnung schuf, hinter der nichts erkennbar war – wie Sahbu umgekehrt nicht ins Turminnere hatte schauen können, als er noch draußen stand.
Er bemerkte das Zittern des Sternlings und sagte: „Gib mir deine Hand.“
„Hand ich nicht können losmachen, ohne dass –“
„Strecke einfach deinen Arm aus, damit ich deine Hand ergreifen kann. Dann gehen wir gemeinsam und gleichzeitig durch das Tor.“
Das schien Varx in seinen Vorzügen begreiflich zu werden. Er reichte Sahbu die Hand. Ihn fröstelte kurz, als er das Stück in Form gepressten Weltraum umfasste. Dann zögerte er nicht lange, sondern zog Varx mit sich über die Schwelle.
Was er dem Sternling nicht gesagt hatte, war, dass die Möglichkeit bestand, dass sie zwar beide aus dem Turm heraustraten ...
... aber nur einer draußen ankam.
Er.
Falls Varx mit seinen bisherigen Behauptungen Recht hatte, war kaum anzunehmen, dass die Instanz, die ihn erschaffen hatte, ihn nun so einfach ziehen ließ.
Innerlich nahm Sahbu deshalb bereits Abschied von seinem kauderwelschenden Begleiter.