Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 32
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Als das obskure Licht über ihn hereinbrach, schloss Rodriguez reflexartig die Augen. Doch es war so intensiv, dass es die dünnen Häute der Lider problemlos überwand und den Halbwüchsigen auf eine nie zuvor erlebte Weise sehen ließ.
Dabei wusste er gar nicht, wie ihm geschah. Instinktiv hatte er das grelle Licht als Begleiterscheinung einer Explosion eingestuft; einer Explosion, die irgendwo an Bord dieses ebenso gigantischen wie absurden Gebildes, von seinen Schöpfern „Perle“ genannt (als gäbe es Schmuckstücke von so absurder Größe), stattgefunden hatte und sie alle ins Verderben reißen würde.
Aber wenn dem Licht eine solche Explosion vorausgegangen war, dann vollkommen lautlos ... Falsch, korrigierte Rodriguez sich im selben Atemzug, wie er den Gedanken formte. Gerade du solltest wissen, dass die Abwesenheit von Geräuschen nicht gleichbedeutend mit wahrhaftiger Stille ist. O ja, gerade du solltest das!
Er musste seiner inneren Stimme zugestehen, dass sie Recht hatte. Die Möglichkeit, dass er selbst den ohrenbetäubenden Lärm einer Detonation ausgeblendet hatte, war nicht von der Hand zu weisen.
Aber es gab noch eine einfachere Erklärung: Er hatte einmal gelesen, dass ein Mensch, der von einem Blaster erschossen wurde, das Fauchen, mit dem die tödliche Energiebahn aus der Mündung der Waffe brach, selbst gar nicht mehr zu hören vermochte. Der Tod, der alle Sinne auslöschte, kam schneller als das Gehirn die empfangenen Signale zu der Wahrnehmung formen konnte, die beispielsweise der Schütze hörte.
Aber ich bin nicht tot, dachte er. Es ist nur ... hell. Da ist keine verbrennende Hitze, keine Taubheit in meinen Gliedern, kein ...
Nein, er war nicht tot. Ganz bestimmt nicht.
Eine Stimme aus dem Licht heraus sagte: „Transfer!“
Er begriff nicht, was damit gemeint war. Er erinnerte sich, mit den anderen zusammen in einem Raum dieser ... Perle von einhundert Kilometer Durchmesser gestanden zu haben. Diesem hohlen, mondgroßen Ding, das einmal hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes verankert gewesen war, dann aber von einem Unbekannten namens Kargor auf „große Fahrt“ gebracht wurde.
Kargor war ein Dämon.
Rodriguez fand kein besseres Wort dafür, nachdem ihm Prosper vor langer Zeit an einem schwülheißen Abend im Getto der Erde einmal aus einem seiner vielen Bücher vorgelesen hatte und in der Geschichte ein Ungetüm vorgekommen war, das sich einen Jux daraus machte, mit Menschen wie mit Marionetten zu spielen und sie ins Verderben zu schicken.
Diese Beschreibung passte auf Kargor wie die Faust aufs Auge. Und das monströse Aussehen des Perlen-Herrschers zerstreute auch noch die letzten Zweifel an seinem Wesen. Nein, er war dämonisch, daran gab es für Rodriguez nichts zu deuteln.
Der zeitlose Moment, in dem das grelle Licht dem Halbwüchsigen eine ganz neue Seherfahrung bescherte – um ihn her waren lauter Schemen, in denen er mühelos die Freunde und Gefährten erkannte, die mit ihm nach einer unglaublichen Odyssee auf der RUBIKON gelandet waren ... bevor Kargor sie von dort entführte – dauerte an. „Zeitlos“ mochte der falsche Begriff für das Phänomen sein, das nach Rodriguez gegriffen hatte. Aber irgendwie hatte er tatsächlich das Gefühl, aus den normalen Abläufen herausgetrennt und davon isoliert worden zu sein. Er bewegte sich (genau wie die umgebenden Schemen), aber er tat dies nicht aus eigener Kraft, sondern weil etwas an ihm zog oder ihn schob.
Das gleißende Licht wandelte sich zu einem Tunnel, der die Trennwände innerhalb der Perle durchbohrte, als würden sie unter seinem Schein vorübergehend immateriell. Dahinter gähnte die Schwärze des Weltraum, die aber nicht mehr schwarz war, sondern auf eine Weise verändert und verfremdet, dass sich Rodriguez fragte, ob er bislang nur völlig blind für die wahre Schönheit des Alls gewesen war. Er sah die Farben des Kosmos, all seine Pracht ...
Und dann wurde ihm bang ums Herz, denn – er merkte, wie die Drift, die ihn erfasst hatte, genau dort hinaus führte: in die unendliche Kälte, ins Vakuum des Weltraums, in dem nichts, was organisch war, ohne entsprechenden Schutz überleben konnte!
Und einen solchen Schutz gab es nicht. Er trug nur, was sie alle in ähnlicher Weise von Kargor erhalten hatten, nachdem er sie fort von der RUBIKON und hinein in die Perle gebracht hatte, mit der sie nach Nar’gog gereist waren, um Scobee an Bord zu nehmen, aus der Gewalt der Jay’nac zu befreien.
Befreien.
Die Ironie, der Hohn dieses Begriffs, angewandt auf Scobees Schicksal, wurde ihm bewusst. Selbst in dieser Situation stieß ihm noch übel auf, wie Kargor mit ihnen allen verfuhr.
Die sogenannte Befreiung Scobees war nichts anderes gewesen als der Tausch einer Gefangenschaft mit der anderen.
Seither war sie in der Gewalt des ERBAUERs.
So wie sie alle.
Der Lichtdruck beschleunigte Rodriguez jetzt zunehmend. Die Umgebung verzerrte. Es war, als würde er mit aberwitzigem Tempo in der gläsernen Kabine eines Expresslifts durch die Perle geschossen ...
... und im nächsten Moment schon aus ihr herauskatapultiert werden in die tödliche Umarmung des Weltraums.
Nur dass die nicht tödlich war. Weil das Licht Rodriguez (und die anderen, die Schemen) immer noch einhüllte, immer noch mit seinen gleißenden, fürsorglichen Fingern umspielte und auf ein anderes Licht zuschob. Ein Strang. Eine Bahn, die das All spaltete wie eine Ader aus purer Energie.
Eine ... Straße.
Rodriguez erinnerte sich plötzlich wieder an die Gespräche, die all dem hier vorausgegangen waren. An Scobees und Prospers Worte, an die von Sarah und Paula und Sahbu und –
Ihn schauderte.
Kargor hatte sie in ein unmögliches Sonnensystem gebracht. Ein System mit sieben identisch anmutenden Planeten, die sich überdies auch noch dieselbe Umlaufbahn teilten ...
Ein astrophysikalisches Unding.
Selbst Rodriguez war nach Erhalt der ersten Daten klar geworden, dass diese Konstellation nicht natürlich entstanden sein konnte. Kargor hatte sie DAS ERSTE REICH genannt – und damit unmissverständlich zu verstehen gegeben, wer hinter der Erschaffung dieser Absurdität stand: seinesgleichen. Jene rätselhafte, hypermächtige Spezies, die auch das schier unendliche Netz der CHARDHIN-Perlen installiert hatte, das den Kosmos durchwob.
Das Erste Reich, dachte Rodriguez, während die rasende Fahrt in dem immer noch zeitlosen Moment, in dem er sich trotz aller rasanter Bewegung eingeschlossen fühlte wie ein Insekt in Bernstein, weiter fortgesetzt wurde. Was mag es damit auf sich haben? Wer hat hier gelebt, geherrscht? Waren es wirklich solche ... gottesanbeterartigen Geschöpfe wie Kargor, riesige „Kristallinsekten“? Oder Wesen aus Fleisch und Blut, den Menschen ähnlich?
Lebten sie immer noch hier? Und zwang Kargor seine Gefangenen jetzt, in diesem Moment, mit den Bewohnern der Welten in Kontakt zu treten?
Aber implizierte der Begriff „Erstes Reich“ nicht auch, dass dem andere Reiche gefolgt waren?
Tausend Gedanken trieben wie Schneegestöber durch Rodriguez’ Hirn, während er durch das Geflecht trieb, das jemand „Straßen“ genannt hatte, „Energiestraßen“. Er erinnerte sich nicht mehr, wer. Vielleicht Scobee. Vielleicht Kargor selbst, der ihnen fast beiläufig eröffnet hatte, dass dieses System die Endstation ihrer Reise darstellte. Hier wollte er sie aussetzen. Ihrem ungewissen Schicksal überlassen!
Die Worte der Entität hallten noch in Rodriguez’ Ohren.
„Kargor wünscht euch ein gutes Gedeihen! Dieser Ort ist eure zukünftige Heimat. Lebt bis zu eurem Tod in Frieden und ... aber das wird sich ergeben.“
Er hatte sie noch nicht einmal halbwegs verdaut, als das Licht über ihn gekommen war. Und auch jetzt verstand er sie nicht in ihrer absoluten Bedeutung.
Zukünftige Heimat ... bis zu eurem Tod ...
Kargor war ein Ungeheuer. Denkbar, dass er sich ihrer einfach nur entledigen wollte.
Quatsch!, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Dafür hätte er uns nicht kreuz und quer durch die Galaxis fahren müssen. Er hätte uns mit einem Gedanken zerquetschen können. Er ist mächtig wie ein ...
Das Wort „Gott“ unterdrückte Rodriguez. Es schien ihm trotz allem unangemessen, auch wenn er in keiner Weise religiös war. Unter den Mastern der Erde war keine Religion geduldet worden. Alles, was er über Gott oder Götter wusste, wusste er von Prosper, der stets mehr für sie gewesen war als nur der Mann, der ihnen half, im Getto zu überleben.
Anhand der Schemen, die ihn begleiteten, vermochte Rodriguez nicht genau zu sagen, ob auch Prosper dabei war. Er hoffte es jedoch, denn die bloße Gegenwart des väterlichen Freundes hätte ihm geholfen, jedes Schicksal zu ertragen.
Er war schon einmal ausgesetzt worden – von seiner eigenen Mutter, die ihn im Getto zur Welt gebracht, aber nicht hatte großziehen können oder wollen. Sie hatte ihn einfach vor Prosper Mérimées Tür gelegt. Ein Findelkind, das seine Wurzeln nicht kannte. Vielleicht war seine Mutter eine Ausgestoßene gewesen, die frisch ins Getto deportiert worden war. Weil sie nicht die Anforderungen erfüllte, die die Master an einen Menschen stellten. Nur genetisch einwandfreies „Material“ wurde in den Metrops der Erde geduldet. Der durchschnittliche Intelligenzquotient eines Menschen mit allen Privilegien lag bei 150. Ein Mann namens Einstein, zu seiner Zeit der bedeutendste Wissenschaftler, hatte, zumindest hatte Prosper das Rodriguez einmal aus einem seiner Bücherschätze vorgelesen, einen IQ, der irgendwo zwischen 160 und 180 gelegen haben sollte. Rodriguez hatte von Gleichaltrigen gehört, die damit bereits mithalten konnten. Ältere übertrafen die Einstein-Werte oftmals sogar deutlich. Ja, die Menschen jenseits des Gettos waren allesamt Genies. Im Getto selbst, wo Rodriguez geboren und aufgewachsen war, lebte, nein vegetierte hingegen der Abschaum. Die Loser. Der ganze verdammte „Zivilisationsmüll“, der durch das Raster der Master fiel ...
Aber das liegt alles hinter uns!, machte sich Rodriguez auf seiner gespenstischen Reise durch das All klar. Das Getto existiert nicht mehr. Wir hier sind die letzten Überlebenden. Die Master haben die Geduld verloren mit denen, die ihn zu nichts nütze waren. Sie haben die Stadt, die einstmals Peking hieß, platt gemacht. Dem Erdboden gleich. Bestimmt wuchert dort, wo man uns vertrieb, längst Wald, Dschungel, voller außerirdischer, tückischer Bäume, mit denen man uns früher daran hindern wollte, das Getto zu verlassen ...
Er hatte all das auf der Erde zurückgelassen, wie die anderen auch.
In einem würfelartigen Container waren sie im All ausgesetzt und von der RUBIKON gerettet worden. Von John Cloud, der jetzt irgendwo war, Rodriguez wusste nicht, wo.
Er wünschte, er hätte bei dem Commander sein können. Aber vielleicht war er ja schon unterwegs zu ihnen, hatte ihre Fährte aufgenommen und würde sie von egal wo retten ...
Träumer!, schalt er sich selbst. Hoffnungsloser Träumer! Das hier ist die Endstation, kapier’s endlich. Hier holt uns keiner mehr ab. Hier werden wir verrotten.
„Lebt bis zu eurem Tod in Frieden ...“
Jedem anderen als Kargor hätte Rodriguez das vielleicht abgenommen. Aber der ERBAUER war kein Menschenfreund. Das hatte er mehr als eindringlich und mehr als einmal demonstriert.
Er war überhaupt kein mitfühlendes Wesen.
Nur egoistischer Herrscher.
Teufel in Teufelsgestalt.
Vor Rodriguez tauchte eine der Welten des Angk-Systems auf.
Nummer wie viel? Eins, drei, sieben?
Es blieb sich gleich. Eine fremde Welt. Friede. Fremde. Beides ließ sich kaum miteinander vereinbaren.
Gab es dort überhaupt Sauerstoff? Ess- und Trinkbares? Wie war die Temperatur? Tobten Stürme, jagten unbezwingbare Raubtiere? An mögliche Artgenossen Kargors oder andere intelligente Bewohner wollte Rodriguez so nah vorm Ziel schon nicht mehr denken.
Der Planet wurde immer größer, füllte das gesamte Blickfeld aus. Die Lichtstraße führte darauf zu, hinab zur Oberfläche, von wo ihnen etwas kobaltblau entgegenstach. Ein ... Turm?
Der zeitlose Moment löste sich auf wie eine Seifenblase.
Rodriguez spürte, wie er, von seinem eigenen Schwung getragen, durch weiches Gras purzelte. Bevor er irgendetwas sehen konnte, bevor sich seine Sinne an die neuen Verhältnisse gewöhnen und darauf einstellen konnten, wurde ihm schwarz vor Augen.
Schwarz. Echtes und absolut lichtloses Schwarz ...
Welch eine Wohltat!
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„ RODDY!“
Er kam zu sich, weil eine Stimme ihn rief. Oder kam er zu sich, während eine Stimme ihn rief, möglicherweise ganz von selbst, ganz aus eigenem Antrieb? Er wusste es nicht. Er hörte nur nach einer kurzen Pause noch einmal den Ruf: „Roddy!“ Und einen Seufzer später die Frage: „Hörst du mich? Bist du wach?“
Etwas Warmes fuhr über sein Gesicht. Eine Hand. Er blinzelte.
Über ihm schwebte ein Gesicht. Ein Mann in den ... Rodriguez grinste bei dem Gedanken, wie Prosper sich ihm am ersten Tag ihrer Begegnung im Getto vorgestellt hatte ... ein Mann in den besten Jahren: schlank, das braune, kurze Haar etwas schütter, eisgraue Augen, markantes Kinn mit Grübchen und eine scharfkantige, zur Spitze hin leicht gebogene Nase.
Indianische Vorfahren, hatte Prosper erklärt.
Und auf Rodriguez’ Frage, was Indianer seien, hatte er ihm einfach eine dicke alte Schwarte von Buch in die Hand gedrückt und gemeint: „Lies! Steht alles da drin! Und noch verdammt viel mehr ...“
Ja, Prosper und seine Bücher. Prosper und sein Zirkus ... dem Rodriguez kurz darauf selbst angehört hatte.
Kuriositätenkabinett hätte es wohl besser getroffen. Denn sie alle, die den Zirkus bildeten – dereinst auf der Erde; verflucht, wie lange war das eigentlich her? –, wiesen irgendein Gebrechen, irgendeine Abnormität auf, sei es nun körperlich oder geistig ... oder beides zusammen. Und damit unterhielten sie seinerzeit die anderen Bewohner des Gettos. Die „Normalen“ – die Rodriguez in vielerlei Hinsicht sehr viel abnormer und hässlicher fand als jedes beliebige Mitglied ihres Zirkus. Nicht alle natürlich. Aber das leben im Getto war hart und formte die, die darin lebten. Fast jeder war in Banden organisiert. Und wäre Prosper nicht gewesen, Prosper und sein treues Faktotum Sahbu, wäre aus Rodriguez sicherlich auch ein Mörder geworden. Zumindest ein Gewalttäter oder Dieb, denn ganz legal, ganz friedlich vermochte eigentlich niemand im Kerker der Master zu überleben.
Nur Prosper und diejenigen, über die er seine schützende Hand legte, bildeten eine Ausnahme. Wie genau der Mann mit der größten (weil einzigen) Bibliothek auf der ganzen Erde – eine mit echten Büchern, die man angreifen, an denen man schnuppern und deren Gewicht man spüren konnte – dies bewerkstelligte, hatte Rodriguez nie herausgefunden. Aber irgendwie arrangierte er sich mit den herrschenden Kräften. Vielleicht war es auch nur ein Abkommen, das funktionierte, solange sich die Bosse der Gangs unterhalten fühlten. Solange sie fasziniert oder belustigt von den menschlichen Mutationen waren, die Prosper ihnen für die Dauer einer Vorstellung zum Fraße vorwarf ... bildlich gesprochen.
Rodriguez verscheuchte die unnützen Gedanken an eine Zeit, die nie mehr wiederkommen würde. Publikum, ganz gleich, wie verbrecherisch, gehörte sicherlich nicht zu dem, was Kargor ihnen bieten konnte. Oder besser gesagt: wollte.
Kargor, der Dämon.
Das Böse an sich.
Der Teufel hatte viele Namen. Und er versuchte seine Opfer auf vielfältige Weise.
Niemand musste seine Beweggründe verstehen. Denn sie verstehen, hieße, überlegte Rodriguez, bereits ähnlich verdorben und durchtrieben zu sein wie er.
Die Schleier vor seinem Blick verschwanden jetzt völlig.
Prosper lächelte ihn an. „Endlich, Junge, wir dachten schon, du hättest es nicht geschafft.“
Rodriguez spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Hinterkopf bildete. Er hob den Oberkörper und stützte sich auf seine Ellenbogen.
Er lag tatsächlich im Gras.
Am Himmel stand eine Sonne, die ... seltsam aussah. Ihr Licht war furchterregend. Rot. Feindlich. Eine einzige Bedrohung.
Warum war das draußen im All niemandem aufgefallen? Als Kargor ihnen das System zeigte. Das Zentralgestirn mitsamt seinen sieben Welten, die durch ein Gewirr von leuchtenden Energiebahnen miteinander verknüpft waren.
Wind zerrte an Rodriguez’ Haar und Kleidung. Aber er rührte sich nicht, konnte nur weiter zum Himmel starren, wo dunkle Wolken aufzogen. Endlich trieb eine davon vor die schreckliche Sonne ... und verhüllte ihr Antlitz.
Erst da schaffte Rodriguez es, den Blick zu lösen, ihn zu Prosper und den anderen schweifen zu lassen.
„Werden wir ...“, hauchte er wie im Fieber, „... sterben?“
„Klar!“, kicherte eine Stimme, die er traumwandlerisch sicher Pancake zuordnete, dem Mann, der eigenem Bekunden nach „für einen guten Pfannkuchen starb“.
Rodriguez drehte sich nicht um in die Richtung, aus der die heisere Stimme gekommen war. Pancakes wahren Namen kannte niemand, vielleicht noch nicht einmal Direktor Mérimée. (Direktor Mérimée ... Himmel, durchfuhr Rodriguez, so geschwollen denk ich doch sonst nie! – Ein sicheres Zeichen dafür, wie verunsichert er war, und daran war nicht nur die Sonne schuld.)
„Unsinn!“, schnaubte Prosper. „Hör nicht auf ihn. Du kennst ihn doch. Er ist ’ne alte Unke.“
„Die alte Unke lässt’s hier gleich schneien!“, maulte Pancake in seinem beleidigtsten Tonfall. Nur um einen halben Atemzug später hinzuzufügen: „Und ich hab doch Recht: Sterben müssen wir schließlich alle mal. Irgendwann ...“
„Irgendwann. Aber nicht heute“, wies in Prosper zurecht. „Und nicht hier. Kargor mag vieles sein, aber kein Verschwender.“
„Verschwender?“, echoten Rodriguez und Pancake wie aus einem Mund. Jetzt wandte ihm Rodriguez doch das Gesicht zu. Der alte Mann, der seine Atemtemperatur so steuern konnte, dass selbst bei hohen Plusgraden Nebelfahnen oder gar Schneeflocken aus seinem Mund entwichen, nahm es zum Anlass, um hinzuzufügen: „Wie meinst du das, Rex?“
Niemand sonst nannte Prosper Mérimée jemals „Rex“ – in Anlehnung an eine längst ausgestorbene irdische Sprache, in der dieses Wort König bedeutete.
„Er verschwendet keine Ressourcen“, sagte Mérimée ruhig, obwohl auch sein Blick mit deutlichem Unbehagen über den Himmel strich.
„Du denkst also, wir sind für ihn Ressourcen“, sagte der klapperdürre Pancake, der wenig Chancen hatte, so alt zu werden wie er jetzt schon aussah.
„Ich halte es nicht für ausgeschlossen, eher für wahrscheinlich“, bejahte Mérimée auf etwas umständliche Weise.
„“Wie kommst du darauf?“, wandte sich Rodriguez an den Direktor, nachdem er dem Disput eine Weile stumm gefolgt war.
„Kargor hat uns hierher verschleppt – richtig?“
„Richtig.“
„Und will uns eigenen Worten zufolge hier ... zurücklassen – richtig?“
„Ja, auch richtig. Jedenfalls, wenn ich’s richtig mitgekriegt hab. Ging ja alles ein bisschen schnell, oder? Dieser ... Transfer, so nannte er es glaub ich.“
„Ob er noch irgendwo in der Nähe ist und uns beobachtet?“
Eine neue Stimme brachte sich in das Gespräch ein.
Rodriguez sah nach links und erkannte Sarah Cuthbert, die von sich behauptete, einmal die mächtigste Frau der Erde gewesen zu sein. Die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika – was auch immer das sein sollte. In Rodriguez’ Geschichtsdateien hatte davon nichts gestanden. Wobei ... sehr, sehr wenig über die Zeit vor dem Master-Erscheinen auf der Erde im Unterricht und Alltag behandelt wurde. Die Epochen davor wurden allgemein nur die Dunklen genannt. Ins Detail ging niemand, Wissen aus der „Vorzeit“ galt sogar als gefährlich, ja geächtet. Das Getto wäre deutlich bevölkerungsärmer gewesen, hätte nicht mancher Unverbesserliche seine Nase in Dinge gesteckt, die verpönt waren. Aber für viele war die Prä-Master-Ära gerade deshalb so verlockend, weil die Beschäftigung mit ihr verboten war.
Für sie musste das Getto, speziell Prosper Mérimées einstige Bibliothek, ein intellektuelles Schlaraffenland gewesen sein.
Jedenfalls solange es existierte.
Aber die Master hatten reinen Tisch gemacht. Das Regime hatte aufgehört, Aufwiegler, Außenseiter oder einfach nur Fragesteller zu tolerieren.
Falls es überhaupt noch ein Regime gab.
Immerhin hatte zwischenzeitlich Darnoks Entartungsfeld in der Milchstraße gewütet und innerhalb ihrer Grenzen Jahrtausende verstreichen lassen, während „draußen“, im restlichen Universum, nur das ein oder andere Jahrhundert vergangen waren. Niemand wusste, wie es heute, jetzt gerade, auf der Erde aussah. Ob sie überhaupt ihre Bahn um Sol zog. Ob es, abgesehen von der RUBIKON-Crew oder ihnen, den „Zirkusleuten“, überhaupt noch Menschen gab.
Aber die Folgen der Zeitentartung betrafen nicht nur das Solare System und seine Bewohner, sie hatten die Karten aller bekannten Spezies in dieser Galaxie neu gemischt. Nie war das Bild der Milchstraße unschärfer gewesen als in diesen Tagen, da es noch nicht gelungen war, Kontakt zu irgendeinem der einstmals bekannten außerirdischen Völker aufzunehmen.
Die Jay’nac zählte Rodriguez in diese Beziehung bewusst nicht. Sie waren ein Sonderfall, da sie sich samt ihrer Heimat Nar’gog hinter einen Schutzschild zurückgezogen und so nicht „schneller“ gelebt hatten als irgendeine Spezies jenseits der Milchstraße.
„Wer weiß“, sagte Prosper Mérimée. „Vielleicht ist er da, vielleicht auch nicht. Wir sollten unser weiteres Tun nicht davon abhängig machen – meine bescheidene Meinung dazu.“ Er machte eine Geste zu den anderen hin, die unweit von ihnen am Fuße eines gewaltigen, kobaltblauen Turms (den er schon vom Weltraum aus gesehen hatte) standen oder saßen.
Rodriguez musterte sie der Reihe nach – jede der Gestalten, die mit ihm auf diese Welt herabgestiegen war, ein, zwei Sekunden lang.
Für eine Weile verlor der blutrote Himmel, in dem es brodelte und der ständig neue Wolkenmuster entwarf, seinen Schrecken.
„Es war verrückt, oder?“, wandte er sich schließlich wieder an Prosper. „Als würde man auf dem Licht surfen, dahingleiten ...“
Fast schwärmerisch kamen die Worte über seine Lippen.
Plötzlich merkte er, dass nicht nur der Direktor ihn sonderbar musterte.
„Was ist?“, fragte er. „habe ich etwas Falsches gesagt?“
„Das kommt darauf an“, erwiderte Mérimée zurückhaltend.
„Worauf?“
„Was du gerade gemeint hast.“
„Die Reise hier herunter. Durch das System. Von Kargors Perle aus. Es war ... fantastisch – war es das nicht?“
Sarah fuhr sich über ihr streng mittig gescheiteltes Haar, das eng wie eine Kappe an ihre Kopfhaut anlag. Sie trat einen Schritt auf Rodriguez zu. „Du machst Spaß, oder?“
Er blinzelte verwirrt. Fragend schaute er zu Mérimée auf. „Ich hätte wohl besser den Mund gehalten?“
Der Direktor schüttelte den Kopf. Er streckte den Arm aus. Rodriguez ergriff die dargebotene Hand und ließ sich aufhelfen. Als er stand legte ihm Mérimée eine Hand auf die Schulter. „Junge“, sagte er und stockte, als müsste er sich jedes Wort, das er sagte, genau überlegen. „Roddy. Du willst nicht wirklich behaupten, dass du vom Transfer – etwas mitbekommen hast?“ Es verging nur ein Sekundenbruchteil, wenn überhaupt, zwischen dem Verlassen der Perle und unserem Wiederfinden hier auf der Angk-Welt ...“ Er zögerte erneut, rieb sich über den Nacken. Dann murmelte er fast zu sch selbst. „Du warst der Einzige, der hier besinnungslos ankam. Seltsam. Wirklich seltsam, dass gerade du meinst, den Transfer in all seinen Nuancen erlebt zu haben ... Falls dem wirklich so wäre – könntest du uns beschreiben, wie es war? Deine Eindrücke währenddessen. Alles, was du gefühlt oder gesehen zu haben glaubst ...“
In diesem Moment dämmerte es Rodriguez endgültig, dass er offenbar tatsächlich der Einzige war, der die Fahrt über die Energiestraßen bei Bewusstsein mitgemacht hatte. Für alle anderen, das kristallisierte sich immer stärker heraus, war subjektiv nur ein Lidschlag zwischen den Ortswechseln Perle und Angk-Welt vergangen. Sie hatten die eigentliche Passage nicht wahrgenommen.
Aber – warum nicht?
Oder besser gefragt: Warum ausgerechnet er?
„Es könnte mit deinem Talent zusammenhängen, Rod“, meinte der Direktor schließlich. „Aber frag mich nicht, wie. Ich bin ratlos. Wie geht es dir jetzt? Fühlst du dich mitgenommen, krank?“
Rodriguez schüttelte entschieden den Kopf. Über ihnen starrte die rote Sonne wie ein blutunterlaufenes Auge zu ihnen herab. Der Wind zerzauste die Haare und zerrte am Stoff ihrer Kleidung.
„Wie lange ... war ich ohnmächtig?“, fragte Rodriguez schließlich.
„Ein paar Minuten.“
Das erleichterte ihn. Er hatte schon befürchtet, einen sehr viel längeren Aussetzer gehabt zu haben.
Sein Blick ging in die Ferne, weg von dem kobaltblauen Turm, an dessen Fuß sie standen.
„Was ist das für eine Stadt?“
Von den schildkrötenpanzerförmigen Gebäuden in der Ferne ging eine seltsame Lockung aus, die aber vielleicht auch nur er spüren konnte.
„Wir wissen es nicht.“
Rodriguez nickte. Er hatte nichts anderes als Antwort erwartet.
Prosper Mérimée nahm die Hand von seiner Schulter und trat ein paar Schritte zurück, um zu allen zu sprechen. Allen, die mit ihm auf dieser Welt unter blutroter Sonne gestrandet waren.
„Falls Kargor uns wirklich hier ausgesetzt hat – und zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir davon ausgehen“, wandte er sich an die Gruppe, „haben wir ein Problem.“ Er zeigte hinauf zum Himmel. „Ich bin kein Experte, und vielleicht wissen es andere unter uns besser, aber für mich bietet sich der Anschein, als sei das da ...“ Er meinte zweifelsfrei die Sonne. „... unser Problem. Für mich sieht es aus, als läge sie in ihren letzten Zügen ...“ Sein Gesicht wurde verbittert, als er die Hand zur Faust ballte und nach oben wie zu einem finsteren Gott reckte. „Das zum Thema ‚künftige Heimat’ und ‚in Frieden leben’. Die Entität treibt ein ganz falsches Spiel mit uns – wieder einmal. Ich fürchte, wir sind nicht zum Leben hierher geschickt worden, sondern um elend zu verrecken.“
––––––––
D IE ANGST GING UM, auch bei Rodriguez. Mérimées drastische Worte hatten bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie waren beileibe nicht aus der Luft gegriffen, völlig haltlos also. Man brauchte sich nur offenen Auges umzusehen und eins und eins zusammenzuzählen, um zu einer ähnlich dramatischen Einschätzung der Lage zu kommen.
Es war nicht die erste Situation, in der Rodriguez steckte, in der er sich fragen musste, ob er Angst hatte vor dem Tod – und die Antwort lautete hier wie zu jeder anderen Zeit, als es soweit war: ja! Eine Scheißangst hatte er!
Alles Leben ist zum Tode verurteilt, hatte Pancake einmal eine Binsenweisheit vom Stapel gelassen, die sich tief in Rodriguez’ Bewusstsein geprägt hatte. Aber erst heute wurde ihm bewusst, dass gerade Pancake ihm einiges voraus hatte – vor allem an Alter. Er hatte bereits gelebt, wie gut oder schlecht auch immer. Er, Rodriguez, hingegen war jung und hätte – normalerweise – sein ganzes Leben noch vor sich. Wäre da nicht das Pech gewesen, einer außerirdischen Supermacht in die Quere zu kommen. Eine, mit der nicht gut Kirschen essen war.
Nein, Rodriguez hing am Leben.
Und es gab auch schönere Tode als den auf einer fremden Welt in Kälte und Sturm umzukommen!
Nachdem er Prosper und den anderen nach bestem Wissen geschildert hatte, wie für ihn der Übergang von der Perle nach Angk I verlaufen war, sonderte er sich ein wenig von den anderen ab und nahm den Turm in Augenschein, der in einer noch nicht näher ermittelten Verbindung zum Netz der Energie- oder Lichtstraßen (die einen nannten sie so, die anderen so) zu stehen schien.
Rodriguez selbst vermutete, dass der Turm eine Art Projektor enthielt, mit dem die Ankömmlinge auf den Boden davor materialisiert wurden. Aber das war eine ebenso gute oder schlechte Hypothese wie jede andere.
Im Grunde kümmerte es momentan auch niemand sonderlich. Ihre aller Gedanken kreisten um das Vorrangige: das nackte Überleben.
Dazu gehörten neben atembarer Luft (die es glücklicherweise gab) auch all die anderen „profanen“ Dinge wie Nahrung, Trinkwasser oder Verteidigungsmittel. Falls es zu einer Situation kam, in der effektive Gegenwehr gefragt war.
Noch immer war kein Tier in der Weite der Landschaft oder am Himmel aufgetaucht. Auch Insekten suchten die Ankömmlinge vergeben. Es gab nur das Gras und die gleichfarbenen Sträucher, die hier und da aus der Ebene stachen.
Und den Turm, der riesig war und Rodriguez fast magnetisch anzog.
Langsam umschritt er ihn. Auch andere aus der Gruppe taten das. Er grüßte sie, wenn er ihnen begegnete, aber zu einem Gespräch kam es nie. Es schien ihm auf die Stirn geschrieben zu stehen, dass er keinerlei Ambition zu einer Unterhaltung hatte.
Bis in eine Höhe von etwa zwei Metern war das Kobaltblau des Turms völlig makellos. Darüber aber verlief ein etwa ein Meter breites Band, in dessen Grenzen zahllose Hieroglyphen eingraviert waren. Symbole, die eine suggestive Kraft ausströmten, ohne dass Rodriguez ihre Bedeutung auch nur hätte erahnen können.
Immer wieder blieb er stehen, streckte die Arme aus und fuhr vorsichtig die Kontur einer Glyphe nach, die ihm besonders ins Auge stach. Es gab jedoch in all dem Gewimmel keine, deren Form sich von einem Wesen oder Gegenstand ableiten ließ, das Rodriguez kannte. Das allein war schon faszinierend. Er war sich jederzeit der absoluten Fremdheit dessen bewusst, was seine Sinne einfingen. Auch das Tasten vermittelte dies. Selbst Berührungen hatten etwas ganz Eigenes, das nicht vergleichbar mit anderen Oberflächen war, über die er jemals die Finger hatte gleiten lassen.
Aber letztlich hinterließ auch dieser Exkurs bei aller Faszination nur ein Gefühl der Angst.
Und so kehrte er irgendwann zu den anderen zurück. Nicht klüger als zuvor. Aber dennoch, irgendwo, um eine Erfahrung reicher.